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USA Dilettant gegen Finsterling

Von Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 44/1993

Vielleicht denkt er in diesem Moment, was viele denken: daß dieser schöne, grausame Riesenkrake New York gar nicht regierbar ist und daß es nur darauf ankomme, diesen Wahnsinn aus Glitzerfassaden und Abbruchhäusern, Theaterpalästen und Crack-Galerien, diesen Dschungel aus 178 einander bekriegenden Rassen und Stämmen symbolisch zu repräsentieren.

Bürgermeister Dinkins steht vor einem zusammengestürzten Haus in Harlem und blinzelt in die Sonne. Er steht klein zwischen den Riesenkerlen von Feuerwehr und Ambulanz, und er versucht unter seinem blankgeputzten Helm so entschlossen in die Kameras zu schauen, als habe er persönlich bei der Bergung geholfen. »Sechs Verletzte, Gott sei Dank keine Toten«, sagt er wie einer, der den Krisenmanager wenigstens darstellen will.

»Was für eine Knalltüte«, murmelt einer der Feuerwehrleute. Dinkins trägt Helm und drunter die Krawatte für den nächsten Wahlkampfauftritt, und New York stürzt ein, und Dinkins kommt sowieso immer zu spät. Diesmal, da ist der Feuerwehrmann sicher, wird er für »den anderen« stimmen.

David Dinkins, 66, Ex-Marineinfanterist und Karriere-Politiker, ist ein Demokrat von der alten Sorte, der sich auf die Gewerkschaften und den pazifistischen Teil der Bürgerrechtsbewegung stützen kann. Vor vier Jahren war er zum ersten schwarzen Bürgermeister in der Geschichte New Yorks gewählt worden.

Damals hatte er »den anderen«, den republikanischen Herausforderer Rudolph Giuliani, mit der dünnen Mehrheit von ein paar Zehntausend Stimmen geschlagen. Er war von einer Regenbogenkoalition aus Schwarzen, Latinos, Liberalen und weißem Westside-Establishment an die Macht getragen worden, die sich von ihm Frieden zwischen den Klassen und Rassen versprachen, den Kampf gegen die Korruption und das Elend in den Straßen. Eine Programmwahl auch gegen das kalte, zynische Reagan-Jahrzehnt.

Wie sich die Zeiten geändert haben. Heute gilt Dinkins als enttäuschtes Versprechen, als Aussitzer, entrückt und entscheidungsschwach, umgeben von einer Phalanx schwarzer Bürokraten, die für Newsweek ein »skrofulöser Sumpf aus umgekehrtem Rassismus und Inkompetenz« sind.

Verständigung zwischen den Rassen hatte er versprochen, als er angetreten war. Und dann hatte er tagelang tatenlos zugesehen, wie der schwarze Mob jüdische Viertel in Crown Heights zu Bruchholz verarbeitete. Der Talmud-Schüler Yankel Rosenbaum wurde dabei erstochen. Der Bürgermeister entschuldigte sich lahm dafür, daß er zu wenige Polizisten an den Ort des Aufruhrs geschickt habe: Er sei falsch informiert worden.

Es war nicht die erste Regierungspanne - und nicht die letzte. Er hatte bessere Schulen versprochen. Doch erst jüngst mußten New Yorker Pennäler wochenlang auf den Unterrichtsbeginn warten, weil die von der Stadt mit der Asbestentsorgung beauftragte Firma zu spät und zu schlampig gearbeitet hatte.

Mehr Sicherheit in den Straßen? Statistisch mag die Kriminalität zurückgegangen sein, doch nach einer Serie von bestialischen Morden rief die New York Post, schlagzeilengroß: »David, tu endlich was!«

An diesem Morgen, nur noch ein paar Tage zur Wahl, käme es darauf an, Feuer zu zeigen, Kampfbereitschaft, das »Wir-Gefühl« zu stärken. Kopf an Kopf liegt er mit seinem Gegenkandidaten in den Meinungsumfragen. Vor vier Jahren hatten sie ihn mit 19 Prozentpunkten in Führung gesehen - er gewann mit knappen zwei Punkten Vorsprung.

Doch der Bürgermeister wirkt, als sei er zum Kämpfen zu fein. Spät stößt er zu dem Pulk aus fröstelnden Helfern und prominenten Mitstreitern vor dem Wahlkampfbüro am oberen Broadway. Im Büro hängt ein angestaubtes »Clinton/Gore«-Plakat aus dem Präsidentschaftswahlkampf.

1000 Jahre ist das her - verblaßte Erinnerungen an einen demokratischen Sieg gegen das Establishment. Nun ist er selbst Establishment, einer, der die Probleme nicht wahrhaben will - und der Kampfruf zur Änderung ist der Slogan des republikanischen Gegners.

»Was machen wir jetzt?« Keiner weiß es genau. Zunächst einen Kostümwechsel. Der Helm ist gegen eine Baseballkappe getauscht worden, der Fahrer reicht ihm ein frischgebügeltes Jackett. Er trägt es wie eine Uniform in einem Wahlkampf, der dieses Mal besonders schmutzig ist. Dann setzt sich der Pulk in Bewegung, hinüber zu den »Projects«, einer Ansammlung von Wohnsilos in Harlem. Riesige Lautsprecher werden auf dem kleinen trostlosen Innenhof aufgebaut. Den Bürgermeister erwartet hier keiner. Plakate oder Ankündigungen hängen nicht aus. »Die meisten schlafen wohl noch«, sagt ein Helfer entschuldigend, »es ist Sonntag.« Es ist halb zwölf, mittags.

Dabei kann Dinkins an diesem Vormittag wie schon in den Tagen zuvor Prominenz aufbieten. Letzte Woche waren Hillary Clinton und Al Gore zu Hilfe geeilt. Heute ist es die populäre Carol Moseley-Braun, die als erste Schwarze in Illinois einen Senatssitz erobern konnte und die nun für Dinkins in die Bresche springt. Doch zu wem predigen, wenn die Kirche leer ist?

Wortfetzen wie »Verständigung« und »Brüderlichkeit« bellen durch die Siedlung, hinauf zu Hunderten von geschlossenen Fenstern, hinter denen die schwarze Stammwählerschaft sitzt, die Dinkins zum Urnengang bewegen will. Hinter einigen tauchen nach einer Weile mißmutige Gesichter auf. Was soll der Lärm in dieser Herrgottsfrühe?

Dinkins absolviert diesen Stopp wie eine lästige Pflicht. Wie eingefroren in seiner Bürgermeisterwürde steht er dort. Eher verlieren, als um Stimmen zu betteln - wenn ihr nicht wollt, scheint er zu sagen, ist es eure Sache.

Eine halbe Stunde später zieht der Bürgermeisterpulk weiter, nach Spanish Harlem. Die Latinos, die rund ein Viertel der New Yorker Bevölkerung ausmachen, hatten Dinkins vor vier Jahren die entscheidenden Stimmen zum Sieg verschafft. Doch hier, vor der Marqueta, einem Lebensmittelladen, läuft der Bürgermeister in einen Hinterhalt aus Giuliani-Fans. Eine ältere Frau hält ein Schild in die Höhe. Darauf der hastig gepinselte Spruch: »Dinkins, du aufgeblasene Null.« Es ist ein Desaster.

Die Zeitungen haben an diesem Tag berichtet, daß Dinkins' Wahlkampfkasse leer ist, während die des Herausforderers noch über 1,2 Millionen Dollar enthält. So was bessert die Stimmung nicht. Einer der begleitenden Reporter sagt: »Der führt diesen Wahlkampf genauso chaotisch wie die Stadt.« Er seufzt. »Diesmal haben wir die Wahl zwischen einem Dilettanten und einem skrupellosen Karrieristen.«

Der Wahlkampfstab des Karrieristen, des Gegenkandidaten Rudolph Giuliani, macht immerhin klar, wie gut er die Spendendollar auszugeben versteht. Im Latino-Viertel von Brooklyn-Bushwick spielt eine Samba-Kapelle von einem Lkw herab. Die Straßen sind schon seit Tagen mit Giuliani-Postern geschmückt. Girlanden winden sich an Straßenlaternen. Für Rudolph Giuliani, 49, ist dieser Wahlkampf ein Fest.

Er hat aus der knappen Niederlage vor vier Jahren gelernt. Er lächelt. Er wirft seine attraktive Frau, sein kleines blondes Töchterchen an die Propagandafront. Er wirkt, mit einem Wort, menschlich.

Damals war er als republikanischer Finstermann und kalkulierender Karrierist durch die Presse gespukt. Ein Gallenfaltentyp, bei dem selbst das sporadische Grinsen wirkte wie ein gezücktes Messer. Er war der Staatsanwalt, den Tom Wolfe in seinem Gesellschaftsroman »Fegefeuer der Eitelkeiten« porträtiert hatte - ein Gangsterjäger, für den jede Verurteilung nur ein Schlagzeilen-Auftritt war, ein weiterer Schritt zur politischen Karriere.

Sicher: Als Chefankläger für Manhattan brachte Giuliani sowohl prominente Mafiosi zur Strecke wie auch die »Herrscher des Universums«, die Wall-Street-Betrüger der achtziger Jahre. Allerdings wurde er hier von der eigenen Publicity-Sucht aus der Kurve getragen - er ließ auch solchen Brokern Handschellen anlegen, die später wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurden.

Als Justiz-Staatssekretär arbeitete er drei Jahre lang in Reagans Mannschaft, was in der Demokraten-Bastion New York bei der letzten Bürgermeisterwahl ein unüberwindbares Handikap schien. Doch diesmal scheint alles anders, denn Giuliani zeigt jene Qualität, die das Wahlvolk bei Dinkins so schmerzlich vermißt: »Leadership«, eine starke Hand.

Selbst die linke Wochenzeitung Village Voice quälte sich und die Leserschaft mit der Frage der Fragen: »Sollen wir an das Undenkbare denken?« Nämlich: Soll die Linke diesmal für einen Republikaner stimmen?

In einer Pizzeria, in der der Kandidat entspannt mit seiner vierjährigen Tochter albert, strömt er vor allem eines aus: Siegerlaune. Die knappen Umfragen, sagt er, täuschen. »Viele trauen sich nicht, zu sagen, daß sie für mich stimmen, weil es politisch nicht korrekt ist.« Aber er spüre den Enthusiasmus, wo immer er auftrete.

Kurz darauf steht er oben auf dem Lkw vor dem Mikrofon, und er spricht über die Probleme der Stadt so konzentriert, als habe er tatsächlich Lösungen. Da sind die Straßendealer, die nicht mehr verhaftet werden, weil die Gefängnisse überquellen. »Wenn ich Bürgermeister bin, werde ich dafür sorgen, daß dieses Gelichter verschwindet und eure Kinder sicher zur Schule kommen.« So was kommt an. Die Menge jubelt. Wie er mit den 200 000 New Yorker Junkies fertig werden will, das verschweigt er.

Giuliani, das ist der gute Sheriff, der das Städtchen vom Gangster-Alpdruck befreit. Gleichzeitig versteht er, auf einer anderen, dunkleren Klaviatur zu klimpern. Er verspricht, daß er »alle New Yorker« vertreten wolle und nicht nur »einen einzigen Bezirk«.

Die Latinos wissen genau, daß er damit auf Dinkins anspielt und auf die verbreitete Meinung, der Bürgermeister kümmere sich nur um seine schwarze Klientel in Harlem. Abe Hernandez, der mit Giuliani-Button vor seinem Möbelladen steht, murmelt: »Die Schwarzen sind die Pest, die klauen wie die Raben. Giuliani wird hoffentlich damit aufräumen.« Wer behauptet denn, daß der Schmelztiegel New York nicht auch ein rassistisches Irrenhaus ist?

Neben Giuliani steht Herman Badillo, der populäre puertoricanische Demokrat, der zu dem Republikaner übergelaufen ist. Fast hat es den Anschein, als sei es Giuliani, der nun eine Regenbogenkoalition zustande brächte. Marsha, eine jüdische Stadtangestellte, die den Giuliani-Troß an diesem Tag führt, hat beim letztenmal Dinkins ihre Stimme gegeben. Nun ackert sie 14 Stunden am Tag für den republikanischen Kandidaten, und sie sagt: »Es gibt viele von uns.«

Diesmal heißt das Schlagwort: »Kompetenz«. Was nützt uns ein ehrenwerter Mann an der Spitze, wenn er seine Zeit damit verbringt, in gebügelten Tennishosen bei den US-Open gut auszusehen? Dann schon lieber den Finsterling, der die »Stadt säubert«. Es gibt mehr Kriminalitätsopfer in New York, als der Bundesstaat Wyoming Einwohner hat: allein im letzten Jahr 626 182, eine mächtige Wählergruppe.

New York City ist nicht nur Großstadtmoloch. In Sunset Park, einer Kleine-Leute-Gegend in Brooklyn, scheint Manhattan Lichtjahre entfernt. Hier, wo Marienstatuen in winzigen Vorgärten stehen, kann Giuliani seine Stammwählerschaft adressieren. Hier wohnt der weiße Mittelstand: italienische, polnische, deutsche Handwerker und Arbeiter, deren magere Ersparnisse dahinschmelzen - New York erlebt derzeit die schwerste Rezession seit der Großen Depression.

Und schon zeigen sich in Sunset Park die ersten tristen Vorboten der großen Stadt: Drogen, Autoknackereien, Vandalismus, Armutsverbrechen. Die ersten Familien sind bereits weggezogen. Giulianis Wirtschaftsevangelium, ein aufgepeppter Reaganismus, der Steuersenkungen verspricht, klingt da wie Gold. Auch sein Sozialprogramm kommt an: Nur noch 90 Tage Asyl für Obdachlose - die sollen sich gefälligst um Arbeit und Wohnung kümmern, statt sich auf Staatskosten durchpäppeln zu lassen. Giuliani bleckt sein makelloses Gebiß, und die Leute lieben ihn.

Rockaway Beach in Queens ist von Bürgermeister Dinkins bereits als verloren abgehakt worden - fünf Auftritte hat er in den letzten Wochen hier abgesagt. Für Giuliani haben Helfer im Ort den Parkplatz vor der Texaco-Tankstelle geschmückt. Die Bäumchen an der Allee, die zum Strand führt, stehen Spalier, und eine Dudelsackgruppe von schottischen Einwanderern gibt Giuliani Geleit.

Der Kandidat läßt einen endlosen Ringelreihen von kleinen, ernsten Tanzmäusen mit wippenden Pferdeschwänzen über sich ergehen. Er schüttelt Hände, er küßt Babys, eine Überdosis Babys an diesem Tage - einmal hat er sogar Drillinge im Arm. Dann hält er seine Standardrede. Und das Wichtigste hebt er sich für den Schluß auf.

Er tut, was Dinkins in seinem Wahlkampf bisher nicht über sich brachte und was auch er selbst vor vier Jahren noch peinlich vermied. Er bittet. Giuliani sagt: »Ich brauche euch - auf eure Stimme kommt es an.« Rockaway, soviel ist danach sicher, wird geschlossen hinter ihm stehen.

Abends nimmt der Kandidat die Urkunde für den »Mann des Jahres« entgegen. Sie wird von der obskuren Vereinigung »Italiener für eine bessere Regierung« in Riccardo's Restaurant in Queens vergeben. Dann fährt die Kandidatenkarawane zurück nach Manhattan, gefolgt vom Pressetroß, wo Wetten abgeschlossen werden. Das Ergebnis: unentschieden. Für Dinkins ist keiner. Wohl aber einige gegen Giuliani. »Dieses Mal wird ausschließlich über Giuliani abgestimmt.« Nur aus Angst vor dem unkalkulierbaren »Risiko« Giuliani hat die New York Times sich zu einer halbherzigen Unterstützung Dinkins' durchgerungen.

Hinter der 59th Street Bridge, die von Queens über den East River führt, liegt Manhattan, ein prächtig funkelndes Riesengebirge und gleichzeitig ein Dschungel, durch den zu dieser Stunde mehr Verrückte, Genies und Mörder streifen als irgendwo sonst auf der Welt. Carol, eine Fotografin, schüttelt bewundernd den Kopf: »Wer soll mit dieser Stadt fertig werden?« sagt sie leise. Y

Als Chefankläger von der eigenen Publicity-Sucht aus der Kurve getragen

»Wer soll mit dieser Stadt fertig werden?«

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