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FRANKREICH Direkt und spontan

Alkohol, Schimpfworte, Ohrfeigen - eine Fernsehsendung machte Skandal.
aus DER SPIEGEL 2/1982

Ob der Sänger einen Luftballon oder ein Präservativ aufblies und sich vor die Hose hielt, war für die TV-Zuschauer nicht eindeutig zu erkennen.

Keinen Zweifel hingegen hatten Reporter der Pariser »Liberation« über das dann hörbare Geräusch entweichender S.117 Luft: Es war der einzige Diskussionsbeitrag des ewig stoppelbärtigen Künstlers Serge Gainsbourg.

Zumindest einfache Wörter konnten andere Diskussionsteilnehmer artikulieren: »Miststück«, »Scheißkerl«, »Nazi-Sau«, »kleine Arschlöcher«, »Scheiße, Scheiße, Scheiße«. Einer brachte es sogar auf einen Halbsatz: »Halt die Schnauze.«

Ein Gainsbourg-Leibwächter mochte böse Worte gegen seinen am Ballon fummelnden Herrn nicht hinnehmen, zückte ein Messer und warnte einen Diskussionspartner: »Halt das Maul, oder ich stech' dich ab.«

Einige in der Runde hoben pornographische Karikaturen vor die TV-Kameras und ließen Whisky-Flaschen kreisen. Zuweilen nur konzentrierten sie sich für Sekunden wieder auf das Thema, über das sie am vorletzten Sonnabend zu einschaltstärkster Abendstunde mit Karikaturisten, Redakteuren und Studiogästen im Fernsehen diskutieren wollten: »Was ist Humor in Frankreich?«

Vor allem die angetrunkenen Journalisten des soeben eingestellten anarchopornographischen Witzblattes »Charlie Hebdo« benahmen sich wie ihr Leitmotiv: »Blöd und böse«. Die arbeitslosen Satiriker gestalteten die Livesendung »Droit de reponse« (Recht auf Antwort) zu einem Happening, bei dem gar Ohrfeigen verabreicht wurden. Objekte waren vor allem die Kollegen von der rechtsradikalen Zeitschrift »Minute«.

In Frankreich brach - trotz Polen - ein Sturm los. Noch nie vor diesem 2. Januar 1982 habe sich eine ähnliche »Müllwagen-Ladung über die Franzosen ergossen«, klagte der rechte »Figaro«. Die kommunistische »Humanite« fühlte sich angewidert von der »Tele-Kloake«. »Ist dies die Kultur des Volkes?« fragte beklommen der »Quotidien de Paris«, der dem Tele-Thema noch drei Tage später sieben ganze Seiten widmete.

Den Konservativen schien einmal mehr der Beweis erbracht: Die Linke ist nicht nur unfähig, Frankreichs Wirtschaft zu sanieren, sie kann nicht einmal ihre Fernsehsender kontrollieren.

Tatsächlich dürften jene Franzosen, die es gewohnt waren, den Samstagabend am Bildschirm bei Zirkusdarbietung oder Operetten-Geträller dösend zu verbringen, angesichts der ungewöhnlich deftigen Vokabeln der Horror-Sendung ihre TV-Welt nicht mehr verstanden haben - denn zunächst war seit Regierungsantritt der Linken vieles beim alten geblieben, etwa die Art, wie die Mächtigen sich ihrem Volk darbieten.

Francois Mitterrand beispielsweise wählte für ein Fernseh-Interview am 9. Dezember als Befrager den Intendanten des 2. Fernsehprogramms »Antenne 2« und die Chefin von »Radio-France«, so als würde Kanzler Schmidt darum ersuchen, von den Anstaltsfürsten Karl-Günther von Hase und Friedrich-Wilhelm von Sell befragt zu werden.

Landwirtschaftsministerin Edith Cresson bestellte den TV-Nachrichtenchef Francois-Henri de Virieu von »Antenne 2« zu sich und rügte: »Ich erscheine nie im Fernsehen.« Im Parlament forderte Außenminister Claude Cheysson nach einer Sendung über Kinderhandel in Kolumbien den verantwortlichen Fernsehsender öffentlich auf, die seiner Ansicht nach falsche Darstellung des Problems müsse richtiggestellt werden, die Autoren dieser Sendung hätten »unverantwortlich« gehandelt.

Als schließlich noch bekannt wurde, daß der zuständige Kommunikationsminister Georges Fillioud den Privatsendern die für ihre Existenz nötige Werbung verbieten will und sogar schriftlich dagegen protestierte, daß das Fernsehen gegen seinen Wunsch eine Dokumentation über Kinder-Prostitution auf den Philippinen brachte, bekundeten viele Franzosen ihre Enttäuschung über die Medienpolitik der Linken.

Zwar wurden unter Mitterrand bisher etwa zehn populäre und Giscard-nahe TV-Journalisten entlassen und rund 30 auf unwichtige Posten versetzt (nach Giscards Amtsübernahme vor sieben Jahren zählte Mitterrand 122 Entlassungen). Nur: Die Sozialisten trauen den TV-Journalisten nicht, denen sie Sympathien für die Bürgerlichen nachsagen. Die Redakteure wiederum wissen nicht, wie weit etwa sie die neuen Machthaber kritisieren können, ohne Versetzung oder Entlassung zu riskieren.

Gegen Ungemach sicherten sie sich, indem sie »die Probleme einfacher Leute in den Vordergrund rückten«, wie einer der TF-1-Chefs bekannte - und insofern hat sich doch ein klein wenig geändert im gallischen Fernsehen.

Fünf Abende hintereinander beispielsweise sendete TF 1 in den Nachrichten »die Geschichte eines Streiks«. Eine andere Nachrichtenstory legte dar, wie schwer für eine einkommensschwache Familie heute der Existenzkampf ist. Die Mittagsnachrichten am vorigen Dienstag wurden aus einem Krankenhaus in Argenteuil übertragen. Am Mikrophon: der kommunistische Gesundheitsminister Ralite.

Auch in »Recht auf Antwort« hatte der Fernsehbürger direkt und spontan auftreten sollen. Um die neue Freiheit nicht zu gefährden, rechtfertigte sich Moderator Michel Polac hinterher, sei er gegen die Exzesse nicht eingeschritten.

Staatschef Mitterrand, der zufällig die letzten 15 Minuten des Spektakels mit ansah, befand: »Das war nicht der feine Geist der französischen Kultur.«

Der verantwortliche Programmdirektor Andre Harris, dessen Dokumentation über französische Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges ("Le Chagrin et la Pitie") unter den Konservativen im Fernsehen nicht gesendet werden durfte, will den Franzosen trotz aller wütender Proteste das »Recht auf Antwort« lassen. Denn: »Wenn wir das Fernsehen wirklich ändern wollen, müssen wir ein paar Übertreibungen einkalkulieren.«

»Recht auf Antwort«-Moderator Polac will aus den Erfahrungen mit den trunkenen Journalisten lernen und Ursachenforschung betreiben. Für die nächsten Monate hat er sich ein brisantes Thema vorgenommen, das eine turbulente Sendung verspricht: »Alkoholismus in Frankreich«.

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