Zur Ausgabe
Artikel 1 / 86

Disco: Narziß im Laser-Licht

Neue Tanzpalaste mit Multi-Media-Effekten, wie das »Hendersen« in München, hypermoderne Diskotheken-Projekte, wie das »Studio 54« in Hamburg und das »Dorian Gray« in Frankfurt, Discomusik (mit den Bee Gees oder Donne Summer) auf den deutschen Hitlisten und ein Riesenzulauf für die Travolta-Filme »Nur Samstag Nacht« und »Schmiere« -- das alles signalisiert: Ein in den USA grassierender neuer Tanz- und Glitzermode-Kult hat Deutschland erreicht.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Noch vor wenigen Jahren war es fast ausschließlich das -- von kopfschüttelnden Eltern bespöttelte oder eifernd bekriegte -- Feierabendvergnügen der dem Gott Beat verfallenen Jugend.

Zu einem frenetischen Tagesausklang tauchte sie in katakombenartigen Tanzschuppen und Popkellern unter, die für Uneingeweihte den Eindruck elektronischer Folterkammern machten: Aus Lautsprecherbatterien hämmerte entnervender Schallplattensound auf die Tanzenden ein, während grelle Lichtgewitter dazu eine gespenstische Illumination lieferten.

Das Hip-Volk von Anno dazumal war bei seinem von hochdosierten Psychedelic-Reizen stimulierten Nachtleben immer schon reichlich untermischt mit Fremdkörpern aus bürgerlichen Lagern. In den späten siebziger Jahren haben nun -- Tendenzwende auch im Entertainment -- die Amüsier-Zaungäste und -Mitläufer von einst mobil gemacht.

Sie geben jetzt den Ton an: die angepaßten Adretten, die nur mal rasch für ein kurzes Saturday Night Fever ausklicken, um dann wie neu geölt und abgeschmiert wieder in den grauen Trott zurückzukehren, den sie sich Samstag nacht aus den Gliedern schüttelten.

Ihre »Religion überall auf der Welt heißt Disco«, weiß die Sängerin Amanda Lear, auf der neuen Welle jetzt aus dem Underground ins Glamourlicht hochgejettete Disco-»Queen«.

Passé, altmodisch sind die ruchhaften, existentiell ernstgemeinten dann zu ernst gewordenen -Ausflipp-Exerzitien der Sechziger-Jahre-Generation, ebenso wie ihr Zottel- und Lotter-Look und ihre weltanschaulich hämmernde Rockmusik.

Im Kontrast zur wieder neuen Konformismus und neue Langeweile zeugenden Protestkultur drängt jetzt Disco vor als Ausdruck provozierenden Disengagements, totaler Frivolität und verspielter Oberflächlichkeit -- ein Rokoko in Pop-Tönen, Bonbon-Licht und Knall-Farben.

Gehuldigt wird dem neuen Gott Disco in gigantischen Diskotheken-Schöpfungen, wie dem jetzt schon legendären New Yorker »Studio 54«.

Sie sind ins Überdimensionale gesteigerte Kopien des verrufenen Beatlokals von gestern, aber befreit von jeglichem individuellen Stallgeruch: perfektionistisch. clean, hochtechnisiert -- ausgestattet mit Multi-Media-Effekten, als sollte Hollywoods bombastischen Weltraum-Spektakeln »Krieg der Sterne«

und »Unheimliche Begegnung der dritten Art« Konkurrenz gemacht werden.

Der Hauptherd des Discofiebers liegt, versteht sich, in den USA. Die von stereotypen Ta-ta-tum-Rhythmen orchestrierte Tanzwut hat sich dort nicht nur innerhalb eines Jahres zu einem wahren Volkssport gesteigert. Disco ist auch bereits zu einer Milliarden-Dollar-Industrie geworden.

Die neue Mode. vom Filmhit »Nur Samstag Nacht« mit John Travolta und dem millionenfach verkauften Film-Soundtrack der Bee Gees erst richtig populär gemacht, ist der am stärksten durchschlagende Trend in der Freizeitkultur seit der Pop- und Beatles-Begeisterung Anfang der sechziger Jahre.

Wie Supermärkte schießen überall in den USA die neuen Tanz- und Amüsier-Arenen aus dem Boden. Und es ist nicht mehr nur das Privileg der Upper Ten von Manhattan, am Disco-Ritus teilzunehmen -- jenem abstrus anmutenden Vergnügen, sich Alltagsfrust und überschüssige Energien in einem Licht- und Musik-Inferno an der Grenze der Verträglichkeit vom Leib zu tanzen.

Mehrere Diskotheken im neuen amerikanischen Superformat wird es bald auch in der Bundesrepublik geben, wo schon die Disco-Musik die Hitlisten fast so okkupiert hat wie in den USA. Und in München floriert bereits eine hypermoderne Tanzscheune, der Club »Hendersen«, die dem »Studio 54«- mit bescheidenerem Aufwand -- nachzueifern versucht.

Das »Studio 54«, seit eineinhalb Jahren in Betrieb, ist nicht nur die berühmteste der neuen Diskotheken. Die extravagante Nachthöhle -- durch ihre mondäne Klientel aus Show-Business und Jet-set und ein paar Skandale in die Schlagzeilen gekommen -- bietet auch mehr Disco-Spektakel als jede andere Tanzdiele: ein Optimum raffinierter und monströser »Disco-Technologie«.

Soeben wurde die völlige, eine halbe Million Dollar teure Neugestaltung des Etablissements abgeschlossen, dessen

komplizierte Lichtmaschinerie in dei Erstversion allein eine Viertelmillion Dollar verschlungen hatte.

Der Gast des »Studio 54« erlebt iii dem akustischen und optischen Bombardement nun das Disco-Inferno total.

In der Mitte der Tanzfläche beträgt die Schallstärke der Musik 115 bis 120 Decibel -- das entspricht dem Krach, den ein knapp über den Kopf hinweggeflogenes Düsenflugzeug erzeugt. Der Körper fängt allein durch den Lärm der Musik zu vibrieren an.

Den so mit den aktuellsten Disco-Hits von Donna Summer, Sweet Cream und Macho stimulierten Tänzer erwartet noch weitere lustbringende Unbill, eine Serie optischer Sensationen. Unter ihnen 20 rotierende Hohlspiegel, die auf das Publikum den ekstatischen Lichterzauber projizieren, der sich aus dem Zusammenspiel einer Batterie wild pulsender Leuchten und Spots bildet. Erotik und

Räucherstäbchen.

In exquisiten Momenten -- beispielsweise zur Feier hervorragender Tanz. leistungen -- gibt es eine Art Tusch: in Gestalt eines Regens kleiner bunter Schaumgummibälle, die vom Diskjockey mittels acht Luftkanonen herabgefeuert werden.

Besondere Nervkitzel werden produziert, indem das riesige, dichtbevölkerte Tanzareal kurzfristig in weitgehende Dunkelheit getaucht wird und von hoch oben dann gewaltige Lichtkegel in die Menge strahlen und wie Leuchtturmlicht im Kreis wandern -- es ist das Licht von vier unter dem Dach der Diskothek befestigten Spezialscheinwerfern, bei denen es sich um die Landesignallichter der Boeing 747 handelt. Mit ähnlich Spektakulärem versucht jetzt jede neue, im New-York-Stil ausgerüstete Diskothek zu locken. Im »Xenon«, der neben »New York, New York« größten Konkurrenz des »Studio 54« in Manhattan. schwebt über den Tanzenden ein monumentales blinkendes Phantasie-Raumschiff. Gebaut hat es für 90 000 Dollar der Hollywood-Techniker Dauglas Trumbull, Schöpfer der Trickeffekte von »2001« und »Unheimliche Begegnung«.

Seine intensivste Begegnung der dritten Art hat der Discophile aber mit sich selbst.

»Vor jeder Diskothek«, so der Musikkritiker Albert Goldman, »sollte eine Statue für die herrschende Gottheit, Narziß, errichtet werden.« Die Disco-Kultur sei ein genuiner Ausdruck des »kurzgeschlossenen« masturbatorischen Vibrator-Sex« unserer Zeit.

Ob im New Yorker »Studio 54«, im Pariser »Palace«, wo Laser-Strahlen ein ehemaliges Theater in immer neue Tanz-Segmente zerlegen (wozu die Tanzenden den Rauch von Räucher

* Amanda Lear (l. o.). Grace Jones (r. u.).

stäbchen als Wolken beisteuern), im Münchner »Hendersen« oder im »Pacha« auf Ibiza: Die Disco-Szene gibt sich stets heißer und schärfer, als sie tatsächlich ist.

Sie kultiviert eine Pseudo-Erotik, die nur scheinbar entfesselt und orgiastisch ist, sich in Wirklichkeit aber reduziert auf monomanen Selbstgenuß und schiere Selbstgefälligkeit.

Wirkliche Sinnlichkeit und knisternde Intimität sind auf diesen elitären und teuren Tanzböden -- ein Besuch im »Studio 54« kostet 10 Dollar, im Pariser »Palace« 60 Franc -- abwesend, unterschwellige Posen und ein halbherziger Exhibitionismus Trumpf.

Zeigt ein schönes Disco-Weib ihren blanken Busen oder lüftet es gar den Rock über bloßem Hintern -- beides geschieht im »Studio 54« öfters -, dann bedeutet dies keine Aufforderung zu Handgreiflichem, es ist schlicht nur ein kaltes Zeichen dafür, wie gewagt man sich geben kann, ohne Risiko.

Der Lust an tänzerischer Selbstbefriedigung kommt das »Studio 54« in besonderem Maße entgegen: durch sogenannte »Unendlichkeits«-Effekte erzeugende Riesenspiegel, in denen sich der davor Tanzende zahllos oft widergespiegelt sieht. Solchen Service für Narzisse haben in weniger pompöser Ausfertigung viele Diskotheken installiert.

Der wahre Disco-Akt ist nicht die (gern vermutete) Rückkehr zum erotisch gestimmten Paar-Tanz, der vornehmlich beim Walzer und Tango ein verhüllter, symbolisch vorweggenommener Geschlechtsakt war.

Disco entfremdet vielmehr die Tanzpartner noch mehr voneinander. Im Extrem ist der wahre Disco-Akt die affektierte, säuerlich-ernste, unironische Ein-Mann-Show, wie sie John Travolta im Film »Nur Samstag Nacht« ebenso virtuos wie lächerlich abzieht.

»Nur Samstag Nacht« machte Disco volkstümlich und John Travolta zum Idol der Teenager.

John Travolta brilliert in dem Hollywood-Schmachtfetzen mit brillantine-verstärkter Vitalität als unbedarfter Vorstadt-Gigolo, der mit stenzigen, selbstgefälligen Tanzdemonstrationen bei Freund und Weib in der Disco Eindruck schindet.

Der Film wurde einer der größten Kinoerfolge -- er spielte seit seiner Uraufführung Ende 1977 rund 110 Millionen Dollar ein -- und gab der wieder nach konventioneller Sitte und Mode gierenden Konsum-Jugend ein Identifikationswort: Disco.

Aus dem Amüsement privilegierter Bürger und Exzentriker wurde, ge

* Olivia Newton John und John Travolta.

puscht durch den Film, weltweit Teenager-Ernst.

Immer mehr Jugendliche bekehren sich dazu, wieder Bügelfalte und ein geglättetes Hemd zu tragen, Creme ins Haar zu schmieren, ausgefeilte Tanzschritte einzuüben und ein extrovertiertes Gebaren zu versuchen -- à la Travolta.

Wer glaubte, daß nach »Nur Samstag Nacht« Travolta und der Discofilm ebenso rasch, wie sie aufgetaucht waren, wieder in der Versenkung verschwinden würden, sah sich getäuscht.

Ein halbes Jahr später konnte Travolta ein Comeback feiern, das nicht weniger Discofieber schürte und die Kinokassen klingeln ließ: mit dem Film »Grease -- Schmiere«.

Flüchtig bebilderte Hitparaden.

Seit 1972 am Broadway, war das 50er-Jahre-Nostalgie-Musical bereits einer der erfolgreichsten Theater-Hits, als Musik-Mogul Robert Stigwood die Filmrechte kaufte und es vom braven Hollywood-Nachwuchsregisseur Randal Kleiser mit Travolta und der Sängerin Olivia Newton John für die Leinwand adaptieren ließ.

»Schmiere«, eher noch mehr die Teenager animierend als »Nur Samstag Nacht«, markiert die kommerzielle Zwangsehe zwischen Disco- und Rockmusik, wobei letzterer alle aggressiven Töne genommen wurden. Die Rebellen-Generation der James-Dean-Ära ist hier, ganz im Sinne der seichten Disco-Philosophie, zur harmlos-netten Popcorn-Jugend degeneriert, die nur Pennäler-Unsinn im Kopf und das Jucken in den Beinen hat.

Wurden etwa im James-Dean-Film denn sie wissen nicht, was sie tun« die Mannbarkeitsriten der Jungen noch durch gewagte Autorennen ausgetragen, so findet das entscheidende Duell in »Schmiere« natürlich auf dem Tanzboden statt. Und ebenso selbstverständlich gewinnt Sonny-Boy Travolta wieder -- jedoch nicht mit einer wilden Rock'n'Roll-Nummer, sondern mit einem jener narzißtischen Solos, wie sie typisch für den Disco-Kult sind.

Trotz Entenschwanz-Frisur und Petticoat-Mode, trotz all der -- neuerdings bei den Jungen chicen Accessoires aus der verklemmt-beschaulichen Eisenhower-Ära spiegelt »Schmiere« das problemlos-euphorische Lebensgefühl der Disco-Kids der späten 70er Jahre wider.

Der »Nur Samstag Nacht«-Erfolg bewirkte unter Filmproduzenten eine Disco-Hysterie. Billige, einfallsarme Filmchen wie »Gott sei Dank, es ist Freitag« und »EM -- Die Superwelle« reihen wahllos Musiknummer an Musiknummer. Da kann selbst das altdeutsche Schnulzenkartell mit ärmlichen, billig Erotik und Disco mixenden Plotten wie »Summer Night Fever« mithalten.

Womit der Discofilm nicht zuletzt lockt: Bei ihm kann im Kinositz ersatzweise die Multi-Medien-Massage erlebt werden, wie sie sonst nur hochkarätige Super-Diskotheken bieten, und andererseits lockt der Discofilm mit gefälligen Bildern zu Plattenhits, die im Radio und in den Tanzdielen gerade en vogue sind. Die deutsche Produktion »Summer Night Fever« kitzelt so mit aktuellen Erfolgssongs, wie »One For You, One For Mc« von La Bionda und »Follow Me« von der hermaphroditisch schillernden Amanda Lear den düpierten Zuschauer über die filmischen Dürftigkeiten hinweg.

König des neuen Medienverbunds Film/Schallplatte ist der australische Rockmusik-Impresario Robert Stigwood, Produzent der Bee Gees und der Travolta-Filme »Nur Samstag Nacht« und »Grease -- Schmiere«. Sein cleveres Marketing, das er mit »Saturday Night Fever« genau zum richtigen Zeitpunkt aufzog, verhalf dem Doppel-LP-Album mit der Filmmusik von den Bee Gees zu Rekordverkaufszahlen, wie sie die Plattenindustrie bislang nicht kannte.

Die »Saturday Night Fever«-Platten eroberten in fast allen Ländern der Welt, die angelsächsische Popmusik in den Läden führen, Spitzenplätze auf den Hitlisten, ob in Deutschland, Portugal, Brasilien oder Japan.

Über 22 Millionen Exemplare der samtig dröhnenden Disco-Klänge wurden verkauft, und Stigwood erzielte mit dieser Musik, die sich zur Verblüffung aller Medien-Gurus als hundertprozentig den Zeitgeist ins Gemüt treffender Sound erwies, einen Umsatz von annähernd 300 Millionen Dollar.

Mit ihren perfekt-melodischen Fieber-Rhythmen haben die Bee Gees. einst auf Kaugummi-Beat eingeschworene Pop-Idole der späten sechziger Jahre, die Tanzmuffel der Rock- und Drogen-Ära jäh ins Abseits gesäuselt »How deep is your love«.

Nach dem Rock'n'Roll der mittleren fünfziger und dem Twist der frühen sechziger Jahre, nach kurzlebigen Tanztorheiten wie Madison, Slop, Letkiss und Monkiss hatten die drogeneuphorischen späten sechziger und ersten siebziger Jahre als auffällige Tanz-Neuerung lediglich das »idiot dancing« zu bieten: das unkontrollierte Zucken oder Schlingern im Haschisch- oder LSD-Vollrausch.

Vollends abgewürgt wurde wirkliches Tanzen, als sich die Jugendlichen immer mehr in Pop-Arenen und bei Rockfestivals zusammenpferchen ließen. Sie degenerierten zu bloßen Musikkonsumenten, denen Mick J agger, Alice Cooper und David Bowie hoch oben auf der Bühne ein Spektakel der Körperentfesselung vorexerzierten, das staunend wahrgenommen, aber selten selbst nachvollzogen wurde.

»Wird der Rock jemals wieder das Tanzen lernen?« fragte die »New York Times«.

Mitte der siebziger Jahre eine »neue Depression« beherrschte die Schlagzeilen -- war es schließlich soweit: Tanzen schien reif für ein Comeback.

Aus einigen New Yorker Randbezirken sprang ein plötzlich grassierendes Discofieber -- noch undomestiziert, wie im Film »Saturday Night Fever« authentisch festgehalten -- ins Zentrum der Metropole, dem stets nach neuen Moden gierenden Manhattan. über. Erst dann nahmen sich die Medien des Phänomens an, und der mondäne Disco-Kult war geboren.

Zu der Zeit hatte sich die einst blueslastige, häufig sozialkritische Soulmusik der Schwarzen unter dem Einfluß von Isaac Hayes, Curtis Mayfield, Barry White und anderen in einen süffigen Entertainment-Sound verwandelt: in einen motorischen, baß- und schlagzeugbetonten Tanz-Rock, der sich für Disco-Tänze eignete ("Phillysound") und binnen kurzer Zeit einen phänomenalen Boom erlebte.

Die Bee Gees, deren Sensationserfolg sich vor allem ihrer Harmlosigkeit und ihrem geschickten Eklektizismus verdankt, bilden nur die Schaumkrone einer riesigen Welle.

Orthodoxe Rockmusik-Fans wehren den Disco-Beat noch als »Plastik-Soul«, »Fließband-Musik« und »Supermarkt-Pop« ab. »Die Ablehnung von Disco zeigt doch nur«, urteilt dagegen John Rockwell von der »New York Times«, »wie sehr bei den Rock-Leuten schon die Arterien verkalkt sind.« Wie in einem Schaumbad.

Disco prägt jetzt in den USA -- und auch in der Bundesrepublik -- zunehmend den Musikgeschmack.

Sogar Bob Dylan. die Rolling Stones und der ehemalige Starsänger gegen den Vietnamkrieg. Country Joe McDonald, haben sich vom Discofieber anstecken lassen.

Die Interpreten und Bands, die per Platte zum neuen Tanz aufspielen, sind mittlerweile Legion. Sängerinnen wie Donna Summer, Grace Jones und Amanda Lear wurden als Disco-Queens inthronisiert, und beinahe täglich tauchen neue Disco-Kometen auf mit flotten Namen, wie Johnny Guitar Watson, und verglühen ebenso schnell wieder. Sicher ist nur, so prophezeit der deutsche Branchendienst »rundy«, daß die harte Rockmusik vom Disco-Sound verdrängt wird.

Discomusik hat ganz im Gegensatz zur Rockmusik eine besänftigende Wirkung, selbst wenn sie extrem laut ist, sediert sie -- im Gedröhne des »Studio 54«, schreibt der »Esquire«, versinkt man in einem Multi-Media-Schaumbad. Disco massiert die Sinne, schmeichelt ihnen wie Satin, der einer der Lieblingsstoffe der Discophilen ist.

Zu sagen hat die Discomusik wenig, aber man geht auch nicht in die Diskothek, um etwas zu sagen oder sich sagen zu lassen. Und was die Discomusik verkündet -- bevorzugt in Flüster-, Raun-, Stöhn-, Ächz-, Betör- und Girr-Tonlagen -, ist bis zur Primitivität eindeutig. Liebe, Tanz, Sichgutfühlen oder einfach bloß »Boogie Ooogie Ooogie« sind die vorherrschenden Singinhalte.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich bei Machern wie Publikum gerade eine Disco-Mixture aus slogan-artigen ("Follow me") und sado-masochistischen Paarungs-Anklängen, wie bei Amanda Lear. Und wenn es ernst wird, dann kommt nicht der gute alte »Starfucker« der Rolling Stones, Disco schwört auf den »Automatic Lover« und die »Love Machine«.

In Europa ist Amanda Lear schon beinahe ein Superstar. Das ehemalige Photomodell, dessen Geschlecht manchen nicht eindeutig erscheint -- »L'Express": »Diese nette Frau? ... Ein verflixter kleiner Kerl« -, begeisterte mit einer ironisch-perversen Disco-Show soeben die Pariser. In einer Geisterszenerie aus Laserstrahlen, rauchenden Knallkörpern und künstlichem Nebel sang sie, in Tigerfell und Rockerleder gewandet. in diabolischem Bum-bum-bum-Takt »Love me baby, oh love me« und, sollte das nicht klappen, von »Douce Vengeance«, süßer Rache.

Wie die Discomusik huldigt auch die Discomode in New York und Paris Glamour und Glitzer, Sado und Satin.

Halbnackt ins Disco-Paradies.

Wenn sich auch Modeschöpfer in Paris und New York bemühen, mit eigenen Kreationen dem Discofieber Tribut zu zollen, so ist doch die Discomode, wie sie in den großen Diskotheken zu sehen ist, von den Discophilen weitgehend selbst improvisiert. Die Modeindustrie liefert die extravaganten Teile zu, die dann wild arrangiert und kombiniert werden.

Die Frauen -- aber nicht nur sie zeigen möglichst, was sie haben. Sie Zwängen sich in Glitzerhosen, zu denen sie Pailletten-BHs tragen, oder in Vinyljeans und bedecken den Busen mit durchsichtigen Netzpullis.

Wer die Beine dazu hat, begnügt sich mit Lurexshorts oder Boxerhosen und stolziert dabei auf Schuhen mit Stilettoabsätzen. Ausgesprochen beliebt sind »Catsuits« und Bodystockings, ein schlichtes Kleidungsstück, das, von der Schulter bis zur Ferse gehend, den Körper wie eine zweite Haut bedeckt. Dazu werden Schaft- und Satinstiefel getragen, die hoch bis zum Schenkel reichen.

Übliche Accessoires sind Gürtel, Halsketten und Armbänder mit Phosphorstrahlung, die nur eine heiße Disconacht leuchten. Die Nasenflügel werden mit Straß verziert, Betuchte nehmen Brillanten, und wer auf sich hält, verbirgt sich hinter venezianischen Augenmasken, aus Plastik oder in mit Edelsteinen besetzter Luxusausführung.

Die Discomode der Männer, sofern sie sich nicht vom Schmückeifer der Hornosexuellen und Schwarzen anstecken lassen, gibt sich weniger schillernd. Es dominiert die Kombination Blue jeans, abgetragene Tennisschuhe mit Cashmere-Pullover oder simplem weißen T-Shirt.

Gewagtere lassen sich in Stiefeln aus Schlangenleder und mit wagenradgroßen Damenhüten sehen. Als sehr exquisit gilt es, wenn zur vergammelten Jeans teure Glacéhandschuhe getragen werden oder wenn unter einem edlen Smokingjackett die Brust hemdfrei ist.

Aufsehen erregte allerdings ein deutschstämmiger New Yorker Artdirector Mitte Vierzig, der durchs »Studio 54« bloß im Jackett wandelte, das gerade noch sein blankes Gesäß bedeckte, ansonsten hatte er nur eine schwarze Fliege und Lederstiefel, die bis zum Oberschenkel reichten, an.

Die Discomode ist wichtig für den Existenzkampf, den der Discophile jedesmal vor der Tür des Tanzpalastes bestehen muß: Seine Kleidung kann entscheidend dafür sein, ob ihn der Türsteher einläßt oder nicht.

Je aufregender ein Einlaßheischender sich kostümiert hat, um so größer sind die Chancen, ins Disco-Paradies zu kommen.

Die Atmosphäre, das Image und nicht zuletzt auch das Renommee einer modernen Edel-Disco hängen zu einem Gutteil von der Exotik und der exzentrischen Ausdrucks- und Selbstdarstellungslust des Publikums ab. Das besteht, entgegen den Mystifikationen durch die Modejournale und Boulevardblätter, nur in geringem Maß aus Prominenten. Sie kommen eher zum Gaffen und kleiden sich, ob sie Robert De Niro, Liza Minnelli, Andy Warhol oder Jackie Onassis heißen, als hätten sie die Diskothek mit einem Wohltätigkeitsball verwechselt.

Die eigentlich Exotischen in den Discos Manhattans sind gutbürgerliche Durchschnitts-New Yorker, die, ob nun Anfang Zwanzig oder Fünfzig, für eine Samstagnacht aus dem Einerlei des Alltags steigen und sich mit oft unglaublicher Phantasie und Spielfreude neu gewanden, als wäre Karneval in Venedig und Federico Fellini auf einmal ihr Chef.

Ganz anders noch, viel zahmer ist das Bild in Deutschlands erster »Studio 54«-Nachahmung, dem Münchner »Hendersen«, das seit einem halben Jahr in Betrieb ist. Dort löst sich der Disco-Narzißmus nicht lustvoll in faschingsbuntem Exhibitionismus auf, und ein zünftiger New Yorker Discophiler würde sicherlich für nicht unbedingt stimulierende Unruhe sorgen: Er würde fremdem.

Das »Hendersen« hat, um dem New Yorker Vorbild nachzueifern, eine spektakuläre Lichtshow installieren lassen, die fast 400 000 Mark kostete. An der Decke des Lokals. das maximal 600 Leute faßt und mit Hochspannung arbeitet, rotieren Spiegelkugeln und sind 40 Transformatoren à 8000 Volt angebracht.

Die exorbitante Stromspannung nährt Neonschlangen mit Blitzeffekten, bunte Scheinwerfer-Kreisel und Zitter-Spotlights, die eine Art Zeitlupe-Wirkung auf die Tanzszene übertragen und von Spiegelwänden mehrfach reflektiert werden. Auf der Tanzfläche wabern weiße Nebelschwaden. die durch Übergießen von Eis mit heißem Wasser erzeugt werden.

In der Bayern-Disco halten sich die Männer, wie überall in Deutschlands wohlfeilen Tanzscheunen, schamhaft zurück. Das Tanzfeld ist überwiegend Mädchen überlassen. Einzeln und in Gruppen geben sie sich selbstversunken einem Discofieber hin, das bei manchen statt Entkrampfung eher Melancholie hervorzurufen scheint.

Wenn Paare tanzen, herrscht trotzdem zwischen ihnen eine Kommunikation auf Distanz vor, auch innigere Berührungen sind unüblich, da jeder allein vor sich hintanzt, »Anmachen« geht ohne Worte, nur mittels einschlägiger Hüftbewegungen vor sich.

Ins »Hendersen« eingelassen werden Leute, so Besitzer Kirchhof, »die ich privat auf eine Party einladen würde -- nur etwas großzügiger«. »Personality« sollen sie haben und »verrückt angezogen« sein.

Vor der Tür spielen sich häufig Dramen verletzter Eitelkeit ab, wenn einer keine Gnade findet, in den Disco-Gral vordringen zu dürfen. Ein Münchner Verhaltenstherapeut schickt gern Klienten zur Übung ihrer Psyche vors »Hendersen«-Tor.

Neben einer Menge jungem Disco-Volk und Schickeria-Stammgästen -- von Thurn und Taxis, Maximilian ScheU, Ursula Andress und Disco-Queen Amanda Lear -- zieht es auffallend viele Geschäftsleute in die Münchner Tanz-Hochburg.

»Nach dem Essen kommen sie allein ins »Hendersen"«, so Kirchhof, »um sich ihren Berufsstreß abzutanzen.« Und »nach zweieinhalb Stunden sind sie dann so erschöpft, daß sie anschließend prima schlafen«. Die Lärm-, Licht- und Bewegungseuphorie, in die da jeder komme, das »Saturday Night Fever«, sei eine Art »ungefährliche Droge«. Kirchhof: »Manche kommen jede Nacht, und wenn wir mal zuhaben, werden sie krank.«

Durch Disco gesunden sollen bald auch die Hanseaten. Für zwei Millionen Mark entsteht in Hamburg zur Zeit (im Ex-»,Kaisersaal« an der Eimsbütteler Chaussee) eine Groß-Diskothek im Stil des New Yorker »Studio 54«, Die Hamburger Nachthöhle -- Eröffnung voraussichtlich Ende dieses Jahres -, die ein Team führender amerikanischer Disco-Designer im Auftrag eines US-Firmenkonsortiums baut, soll eine Ton- und Licht-Maschinerie erhalten, deren Raffinement dem Manhattaner Vorbild in nichts nachsteht.

Ähnlich Pompöses ist im Frankfurter Rhein-Main-Flughafen im Bau: eine »Action-Diskothek«, die »Dorian Gray« heißt, vom »Studio 54«-Ingenieur Richard Long ausgerüstet wird und mit spektakulären Multi-Media-Einrichtungen aufwartet -- Wasserspiele. Videobeam-Wand, Lichtprojektion- Laserkanone.

Die Deutschen werden wohl nicht mehr lange Disco für ein Kinderfernseh-Späßehen mit Ilja Richter halten,

Bis es soweit ist, wird tüchtig geübt: Die Tanzschulen im Lande haben Hochkonjunktur.

Wo früher meist Foxtrott und Tango eingepaukt wurden, lernt Deutschlands Disco-Generation jetzt Tanzfiguren, deren Namen aus der Turnstunde stammen könnten »John Travoltas »Nacht-Fieber«-Gymnastik ahmen die Schüler unter Bezeichnungen wie »Schere« und »Delphin-Rolle« nach. Wenn die Figur »Gedränge« angesagt ist, kommt auch ein Touch Erotik zur Geltung: Die Partnerin darf ihrem Jüngling kurz mal um den Hals fallen.

Seit fast jeder 18- bis 28jährige, der auf populäre Musik hört, den »Nur Samstag Nacht«-Film gesehen hat, sind die 1100 Tanzschulen der Bundesrepublik auch wieder mit Jugendlichen voll belegt. Über eine Million Tanzwillige trainieren dort für die bevorstehende Disco-Mobilmachung -- Boogie Ooogie Ooogie ...

Zur Ausgabe
Artikel 1 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten