NAHER OSTEN / NEUE FRONT Disteln und Trauben
Zwanzig Jahre lang fiel an der israelisch-libanesischen Grenze kaum ein Schuß. Wenn es einmal krachte, dann schossen meist Grenzwächter auf Schmugglerbanden.
»Wir würden das Armee-Orchester einsetzen«, scherzte noch im Krieg von 1967 Israels damaliger Generalstabschef Jizchak Rabin, als er gefragt wurde, wie die Israelis auf einen libanesischen Angriff antworten würden.
Heute aber nisten im Süden des Libanon palästinensische Guerillas. Sie regieren das Gebiet zwischen den Abhängen des Hermon-Berges und den Ufern des Hasbani -- Flusses, einem Quell des Jordan. wie einen eigenen Staat. Die Israelis tauften ihn »Fatahland«, nach der größten palästinensischen Befreiungsorganisation »El-Fatah«.
Am vergangenen Dienstag, einen Tag nach den Feierlichkeiten zum israelischen Unabhängigkeitstag, besetzten die Israelis das etwa 70 Quadratkilometer große Fatahland in der größten militärischen Strafaktion seit dem Ende des Juni-Krieges. Über 1000 Soldaten und 50 Panzer durchkämmten nach dem Vorbild der amerikanischen »Search and destroy«-Operationen in Indochina das Guerilla-Reservat im Libanon.
Von dort aus hatten die Partisanen in den vergangenen Wochen immer häufiger Granaten und Raketen in israelische Siedlungsgebiete gefeuert. Allein zwischen dem 1. April und dem 11. Mai registrierten die Israelis an ihrer zuvor friedlichen Nordgrenze 61 Zwischenfälle. Ende April verkündete die El-Fatah, sie habe an der israelisch -- libanesischen Grenze eine »neue Front« eröffnet.
Seither zählten die Israelis schwere Verluste an ihrer Nordgrenze. Innerhalb von zehn Tagen starben sieben Israelis, 18 wurden bei Überfällen verletzt.
Israel reagierte zunächst mit »pädagogischer Verteidigung« (Mosche Dajan). Am vorletzten Wochenende warnten im exponierten Grenzstädtchen Kiriat Schmona gleich drei israelische Regierungsmitglieder den Libanon:
* Der stellvertretende Ministerpräsident Jigal Allon: »Die Libanesen müssen entweder mit den Guerillas fertig werden, oder sie bekommen es mit der israelischen Armee zu tun.«
* Verteidigungsminister Mosche Dajan: »Wenn die Angriffe nicht aufhören, werden die Gebiete jenseits unserer Nordgrenze genauso zerstört werden wie die Kanalfront und das Ostufer des Jordan-Flusses.«
* Ministerpräsidentin Golda Meir: »Wenn es auf dieser Seite der Grenze keinen Frieden gibt, wird es ihn auch auf der anderen Seite nicht geben.«
Zwei Tage später, um 4.35 Uhr Ortszeit, rollten die ersten israelischen Panzer über die libanesische Grenze.
Wie bei allen bisherigen Strafexpeditionen gegen Jordanien und Ägypten sollten Dajans Truppen auch diesmal noch vor Einbruch der Dunkelheit und Ausbruch der internationalen Entrüstung hinter die eigenen Linien zurückkehren.
Doch die Operation gestaltete sich schwieriger, als die israelischen Militärs vermutet hatten. Das Gelände, eine vertrocknete, von steinigen Wadis zerrissene, von dichten Distelfeldern bedeckte Hügellandschaft' begünstigte die leicht beweglichen Partisanen.
Wie die Amerikaner in Indochina, so kamen auch die Israelis im Süd-Libanon mit ihren gepanzerten Verbänden nur mühsam voran. Zwei Stunden lang pirschten sie sich durch unwegsames Gelände, statt auf den Gegner stießen sie auf Naturhindernisse.
Nur gelegentlich stellten sich kleine Guerilla-Trupps zum Kampf, die meisten Partisanen jedoch hatten sich bereits über den neu angelegten, nach dem El-Fatah-Führer benannten Arafat-Pfad nach Syrien abgesetzt.
Unterstützt wurden sie dabei von regulären Einheiten der libanesischen Armee. Denn seit November 1969 existiert ein Vertrag zwischen dem Libanon und den Guerillas, der den Partisanen volle Bewegungsfreiheit an der Grenze zu Israel garantiert.
Aus Furcht vor innenpolitischer Opposition hielt die schwache Regierung in Beirut den Vertrag streng geheim. Erst vor vier Wochen gelangte die unabhängige libanesische Zeitung »An-Nabar« durch eine Indiskretion in den Besitz des Vertragstextes. Die wichtigsten Punkte:
* Die libanesische Armee erleichtert die Errichtung von Versorgungs-, Ruhe- und Hilfsposten für die Partisanen;
* Angehörige der libanesischen Armee gehen gemeinsam mit Freischärlern auf Patrouille.
Auf ihrem Vormarsch besetzte die israelische Invasions-Streitmacht erst gegen Mittag das erste guerillaverdächtige Dorf. Auf Flugblättern informierten die Israelis die Zivilbevölkerung, die Aktion sei nur gegen Guerillas gerichtet: »Wer Disteln sät, wird keine Trauben ernten.«
Insgesamt durchsuchten die Israelis sechs libanesische Dörfer, töteten 30 Araber und nahmen ein Dutzend gefangen -- die Hauptstreitmacht des Gegners jedoch, 1500 Mann stark, fanden die Israelis nicht, obwohl sie entgegen der ursprünglichen Planung bis zum nächsten Mittag auf libanesischem Gebiet blieben.
Dennoch verkündete ein israelischer Armeesprecher: »Das Ergebnis war absolut positiv.«
Die Erklärung: Die Israelis hatten -- wie die Amerikaner in Kambodscha -- ihr unrealistisches Operationsziel zurückgeschraubt. Das »positive Ergebnis« war nicht die Entdeckung und Vernichtung des Gegners, sondern lediglich die Zerstörung gegnerischer Anlagen und Vorräte.
Die Invasoren stöberten auf: 40 sogenannte Stützpunkte, einige Bunker, ein Dutzend Kraftfahrzeuge sowie mehrere Tonnen Sprengstoffe und Munition. Die Israelis zündeten die Vorräte. In einem der unterirdischen Munitionsdepots dauerten die Explosionen sechs Stunden.
Aber auch der Abschuß von drei syrischen Mig-Jägern, die den israelischen Vormarsch zu stoppen suchten, konnte nicht darüber hinwegtäuschen: Erstmals seit dem Überfall auf das jordanische Dorf Karameh im März 1968 war eine israelische Strafexpedition ohne spektakulären Erfolg geblieben.
Am Mittwochabend bestätigte sogar Israels Generalstabschef Chaim Bar-Lev, daß seine Truppen keinen überzeugenden Sieg errungen hatten. Die Operation im Libanon habe zwei Ziele verfolgt -- die Beiruter Regierung zu warnen und die Stützpunkte der Freischärler zu zerstören. Aber: »Man kann nicht mit einem Schlag dem ganzen Terrorwesen aus dem Libanon ein Ende setzen.«
Wenige Stunden später -- die Israelis hatten kaum wieder ihre Garnisonen erreicht -- signalisierten die Guerillas ihre Rückkehr ins Fatahland: In einem israelischen Grenzkibbuz schlugen mehrere Raketen ein. Am nächsten Tag zogen in den Süd-Libanon Hunderte Partisanen -- und reguläre syrische Truppen.
Vize-Ministerpräsident Allon drohte, wie schon vor der Libanon-Operation, als erster mit weiteren Strafexpeditionen: »Wenn der Libanon sich die Lektion nicht zu Herzen nimmt, so war dies nicht der letzte, sondern der erste Schlag.«