Polizei Djangos und Kamikazes
Als einziger von allen war letzte Woche der Geiselgangster Bruno Reckert, 37, wirklich locker. Vor dem Gericht, dem er sich durch seine gewalttätige Flucht aus dem Celler Knast eigentlich hatte entziehen wollen, bat der wenige Tage zuvor eingefangene schwere Junge um ein Getränk: »Es darf auch Whisky sein.«
Dann plauderte der Verbrecher, der schon zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war, munter drauflos und gestand drei Raubüberfälle: »Ist doch sowieso alles gelaufen für mich.«
Den Knast jedenfalls dürfte Reckert, der wegen der nun eingestandenen Taten und der spektakulären Flucht mit Geiselnahme aus dem Celler Gefängnis (SPIEGEL 44/1991) mit weiteren Haftstrafen rechnen muß, auf absehbare Zeit nicht mehr verlassen, es sei denn, er bricht wieder aus - ein Alptraum für Polizisten und Justizbeamte.
Die Ordnungshüter grübelten letzte Woche immer noch darüber nach, wie es Reckert und seinen Komplizen Dirk Dettmar, Ivan Jelinic und Samir el-Atrache am 21. Oktober gelingen konnte, im hochgradig gesicherten Celler Knast drei Beamte als Geiseln zu nehmen und damit die eigene Freilassung zu erpressen.
Doch nicht nur Sicherheitsprobleme in ihren Gefängnissen machen der rotgrünen niedersächsischen Landesregierung zu schaffen. Immer noch dauert der heftige Streit über das defensive Einsatzkonzept der Celler Polizeiführer an, die das Gangsterquartett mit den Geiseln entweichen ließen, ohne eine Befreiung versucht zu haben.
Sogar in Leserbriefen an Zeitungen erregen sich niedersächsische Beamte. Als »falsch, ja geradezu skandalös« beschimpfte etwa der Oldenburger Kriminalhauptkommissar Peter Melzner die Taktik der Celler Einsatzleitung. Da seien womöglich nur »Zögerer, Zauderer und staatlich geprüfte Bedenkenträger« am Werk gewesen.
Nie und nimmer hätten seine Kollegen die »hochkarätigen Kriminellen, denen das Leben anderer Menschen keinen Pfifferling wert ist«, mit ihren Geiseln und zwei Millionen Mark unkontrolliert »auf die Menschheit loslassen« dürfen. Im Interesse der »Sicherheit der Bürger«, so der Polizist, hätte die Sache an Ort und Stelle durch Spezialeinheiten beendet werden müssen.
Zu einem ähnlichen Urteil waren risikofreudige Experten des Spezial-Einsatzkommandos (SEK) aus Bielefeld gekommen, die, wie insgesamt 613 Polizeibeamte aus verschiedenen Bundesländern, in Celle zusammengezogen worden waren.
Die Bielefelder SEK-Leute wollten die Geiselnehmer überrumpeln, sobald sie das Fluchtfahrzeug bestiegen hätten - etwa durch Zünden einer Gasladung im Auto, die alle Insassen für einige Sekunden gelähmt hätte. Nach einem anderen Plan, der aus dem Drehbuch eines Action-Films stammen könnte, sollten die Gangster im Gefängnishof über ein Netz fahren, mit dem das Auto samt Inhalt in die Luft geschleudert worden wäre.
Die Schrecksekunden hätten den SEK-Experten zum Entwaffnen der Kriminellen gereicht. Doch die spektakulären Showdowns »von Djangos und Kamikazes« (Justizsprecher Hauke Jagau) kamen bei den Celler Polizisten nicht gut an.
Sie wiesen darauf hin, daß Reckert und Konsorten ihren Geiseln Halskrausen mit explosivem Gemisch angelegt hatten, die mit einer sogenannten Totmannschaltung in der Hand der Gangster verbunden waren. Der Mechanismus hätte wahrscheinlich gezündet, wenn der permanente Druck auf die Feder nachgelassen hätte.
Der Celler Einsatzleiter Erich Philipp, 51, hatte sich davon überzeugen können, daß die Geiselnehmer nicht blufften. Sie hatten ihm ein Muster der Schaltung zukommen lassen. Philipp: »Das Ding funktionierte« - ein gewaltsamer Zugriff hätte »unweigerlich den Tod der Geiseln bedeutet«.
Auch ein SEK-Angriff auf den Gefängnistrakt »I/Ost«, in dem sich die skrupellosen vier mit ihren Geiseln verschanzt hatten, »verbot sich«, so Philipp, »von selbst«. Der Flügel des Gebäudes, das früher als »Tollhaus« der Stadt Celle gedient hatte, ist nicht nur aus-, sondern auch einbruchsicher. Bei einem Überfall hätten drei Gittertüren aufgesprengt werden müssen.
Die Einsatzleitung hatte keinen Zweifel, daß die Schwerkriminellen ihre Geiseln - wie angedroht - mit in den Tod genommen hätten. Viel zu verlieren hatten die Ausbrecher nicht. Ihre Lebensperspektive sei wegen langer Haftstrafen »sowieso gleich Null« gewesen, meint Polizeiführer Philipp.
In der Kritik an seinem defensiven Einsatz sieht Philipp denn auch »nur Eunuchengeheul« von »Leuten, die hinterher immer alles besser wissen«. Er habe sich im übrigen streng an die Polizeidienstvorschrift 132 ("Einsatz bei Geiselnahmen") gehalten.
Das geheime Papier ("VS - Nur für den Dienstgebrauch") setzt in seiner neuesten Fassung vom 27. Februar 1991 tatsächlich klare Prioritäten. Ziffer 1.2 lautet: _____« Bei Geiselnahmen ist die Polizei verpflichtet, » _____« - das Leben der Geiseln zu schützen und sie zu befreien » _____« (Gefahrenabwehr), » _____« - die Täter festzunehmen (Strafverfolgung). » _____« Im Falle eines Konfliktes zwischen diesen beiden Aufgaben » _____« ist die Pflicht vorrangig, das Leben der Geiseln zu » _____« schützen und sie zu befreien. »
Doch auch die Einsatzkritiker wie der Dozent für Einsatztaktik an der Polizeiführungsakademie in Hiltrup, Günter Bahr, der in der Celler Aktion »kein Zukunftsmodell« sieht, berufen sich auf die Vorschrift 132, die in der Tat interpretationsfähig ist. Die Ziffer 1.10 nämlich lautet unmißverständlich: _____« Die Beendigung der Geiselnahme ist grundsätzlich am » _____« ersten Tatort anzustreben. »
Die Begründung: Läßt die Polizei die Geiselnehmer ziehen, wird »die Gefahrensituation nur örtlich verlagert«. Bei Flucht steige das Risiko erfahrungsgemäß durch unkalkulierbare Zwischenfälle und erhöhten Streß bei den Tätern.
Darauf deuten in der Tat die Ereignisse in Karlsruhe und Ettlingen hin, wo die baden-württembergische Polizei, nach einer völlig anderen Taktik als die Kollegen in Niedersachsen, gut 37 Stunden nach der Flucht zugriff. Dabei blieben, so ein beteiligter Beamter, nur »durch großes Glück« die beiden Geiseln unverletzt, die sich das brutale Quartett nach Freilassung der drei Justizbeamten in und bei Karlsruhe geschnappt hatte.
Noch ermittelt die Karlsruher Kripo, ob ein Beamter womöglich vorschnell einen Schuß aus seiner Maschinenpistole abgegeben und dadurch die Befreiungsaktion an einer Tankstelle gefährdet hat. Bei dem riskanten Einsatz wurden Dettmar und Jelinic schwer verletzt.
Die niedersächsische Polizei analysiert derweil einige Pannen, die hausgemacht waren. So mußte das Gerät für den »Lauschangriff«, mit dem die Gespräche der Geiselnehmer im Zellentrakt »I/Ost« abgehört wurden, bei der _(* Am 23. Oktober nach der Festnahme von ) _(Reckert und el-Atrache in einem ) _(Karlsruher Parkhaus. ) Hamburger Polizei ausgeliehen werden, weil die niedersächsische Anlage nichts taugte.
Völlig überrascht waren die Geiselnehmer, als sie statt der geforderten zwei Millionen Mark von der Verhandlungsgruppe der Polizei 2,4 Millionen Mark überreicht bekamen. Der Grund für die Großzügigkeit der Behörden: Die Beschaffung der geforderten 500 000 Mark in bestimmten ausländischen Währungen hatte außerordentliche Probleme aufgeworfen.
Bei den niedersächsischen Banken war eine derart große Summe nicht auf einen Schlag zu bekommen. Weil nicht sicher war, ob die Devisen rechtzeitig per Hubschrauber aus Frankfurt herbeigeschafft werden konnten, hatten die Beamten vorsichtshalber zwei Millionen Deutsche Mark zusammengepackt und in Plastikfolie eingeschweißt.
Als die Fremdwährung schließlich doch noch rechtzeitig kam, mochten die Polizisten das Bündel nicht wieder aufreißen. Denn die zwei Millionen waren mit einem Duftstoff markiert, der sich womöglich schnell verflüchtigt hätte.
Als nutzlos erwies sich schließlich auch eine »stille Verpostung« in ganz Niedersachsen: An den wichtigsten Kreuzungen und Ausfallstraßen waren Hunderte von Beamten postiert, die den Fluchtweg der Geiselnehmer verfolgen sollten. Doch die Maßnahme zog nicht - die Gangster waren zu clever.
Im Celler Gefängnis hatten sie sich nämlich kurzerhand einen ihnen bekannten klapprigen VW Passat der Gefängnisverwaltung, der in der Garage stand, als Fluchtfahrzeug geschnappt. Mit einem davorgestellten anderen Auto leuchteten sie die Garagentore dann permanent an, so daß die Spezialisten keine Chance hatten, das Fahrzeug heimlich mit einem Peilsender zu präparieren.
Die Ausbrecher konnten in der nebligen niedersächsischen Nacht verschwinden und nach kurzer Zeit unbemerkt in ein zweites Fluchtauto umsteigen, das womöglich Reckerts Ehefrau Rita, 39, beschafft hatte. Sie stellte sich vergangenen Freitag der Polizei in Celle.
Während mittlerweile einigermaßen klar ist, welchen Fluchtweg die vier bis Karlsruhe wählten, sind die niedersächsischen Justizbehörden noch immer ahnungslos, wie der Ausbruch gelingen konnte.
Zwar wurde bereits eine Schwachstelle im Knast erkannt: ein viel zu enger Flur, in dem sich Jelinic und el-Atrache auf dem Gang zur Arbeit morgens kurz vor sieben verdrücken konnten, bevor sie einen Beamten als Geisel nahmen. Wie die Täter aber den Coup verabreden konnten, bleibt vorerst rätselhaft.
Dettmar und Reckert saßen im Sicherheitstrakt »I/Ost« in strikter Einzelhaft. Sie hatten höchstens zwei Stunden am Tag Gelegenheit, sich mit einem Mithäftling beim Spaziergang auf einem Hof zu unterhalten, der akustisch kontrolliert werden kann. Knastbesucher und Besuchte wurden »bis zur Schmerzgrenze«, so der Celler Gefängnisleiter Rüdiger Wohlgemuth, 49, gefilzt.
Die Kalfaktoren, bewährte Info-Quellen, hatten keinen Zugang zu den Insassen von Trakt »I/Ost«. Lediglich el-Atrache schnitt, nachdem er im September Gefängnisfriseur geworden war, Reckert einmal 21 Minuten lang die Haare, wie ein Gefängnis-Tagebuch festhielt.
»Mehr Separierung geht kaum«, meint Anstaltschef Wohlgemuth, ein gelernter Psychologe; die Justiz könne »die Leute doch nicht wie Tiere halten«. Bei humanem Strafvollzug müsse eine »gewisse menschliche und psychische Bewegungsmöglichkeit gegeben« sein: Selbst »Erzganoven« hätten schließlich »Anspruch auf Grundrechte«.
Auch die Zellen der vier Geiselnehmer waren häufig gefilzt worden. Ein hannoverscher Anwalt meldete der Staatsanwaltschaft am 28. Juli, daß Reckert in einem Brief an seine Frau, den er in seiner Anwaltspost fand, von einem geplanten Ausbruch berichtet habe. Dabei solle sogar der Tod von Geiseln in Kauf genommen werden. Und ein Mitgefangener meldete der Knastleitung, ebenfalls im Juli, daß Jelinic fliehen wolle. Doch diverse Zellenrevisionen, die letzte wenige Tage vor der Geiselnahme, blieben ohne Ergebnis.
Um so unerklärlicher ist, wie die vier an Sprengstoff und an funktionsfähige »Schießgeräte« kommen konnten, von denen eines, nach dem Stand der Ermittlungen, eine Pistole gewesen ist. Die anderen Schießprügel hatten sich die Knackis offenbar aus hohlen Metalltischbeinen und ähnlichen Hilfsmitteln zusammengebastelt.
Genau wissen die niedersächsischen Beamten allerdings auch das noch nicht. Die Schießgeräte, die das Quartett bei seiner Festnahme hatte, lagen Ende letzter Woche immer noch bei der badenwürttembergischen Polizei.
Bitten um zügige Überstellung nach Hannover hatten nicht gefruchtet. In »strengem Schwäbisch«, so Justizsprecher Jagau, habe ihm eine amtliche »Dame von der Kripo in Stuttgart« beschieden, die Waffen blieben so lange in baden-württembergischem Gewahrsam, bis die Ermittlungen beendet seien.
Vorsichtshalber sollen jetzt schon mal alle hohlen Tischbeine aus dem Celler Knast entfernt werden.
* Am 23. Oktober nach der Festnahme von Reckert und el-Atrache ineinem Karlsruher Parkhaus.