ENGLAND / ELITESCHULEN Doppelt so gut
Englands Proletarierkinder sollen künftig nicht nur das Recht, sondern auch die Möglichkeit haben, Gentlemen zu werden.
Sie sollen auf Staatskosten die exklusiven Privatschulen besuchen können -- jene teuren und traditionsreichen Public Schools wie Eton und Westminster, Rugby und Winchester, Harrow und die rund 300 anderen staatlich anerkannten Anstalten, aus denen England seit Jahrhunderten seine Elite rekrutiert.
Ein 52 Punkte umfassender Reformentwurf sieht vor, die meist als Internat geführten Public Schools zur Hälfte mit Britenboys zu füllen, deren Erziehung durch negative Umwelteinflüsse gefährdet ist -- Waisen und Kinder aus zerrütteten Ehen.
Bereits in den »Wegweisern für die sechziger Jahre« hatte die Labour Party die Public School wegen »ihres Beitrages zur sozialen Ungleichheit« angeprangert und versprochen, mit deren »privilegierter Position« Schluß zu machen.
Jetzt bestätigte eine Kommission unter Vorsitz des Erziehungsexperten Sir John Newsom die Kritik der Linken: Public Schools sind ein »entzweiendes Element« im sozialen Gefüge Großbritanniens. Sie teilen zwar Stipendien aus, aber das Schulgeld für 90 Prozent der Schüler wird immer noch von den Eltern bezahlt. Für durchschnittlich 4800 Mark im Jahr erkaufen sie ihren Sprößlingen nicht nur das an Staatsschulen gepredigte Pensum an Wissen, sondern auch Standesbewußtsein und britischen Benimm.
Der vollgültige Bildungsnachweis eines Briten trägt auch heute noch das Gütezeichen »erzogen auf einer Public School«; äußeres Merkmal ist die Schulkrawatte. Obwohl die Krawattenboys nur 2,8 Prozent der Schul- und 10 Prozent der Universitätsbesucher ausmachen, stellen sie den größten Anteil von Englands Führungsnachwuchs. Public Schools besuchten
* 90 Prozent der Mitglieder des letzten konservativen Kabinetts;
* 40 Prozent der Mitglieder des Labour-Kabinetts von 1967;
* 70 Prozent der Direktoren großer Firmen;
* 80 Prozent der Direktoren der Bank von England;
* 30 Prozent aller Universitätsprofessoren;
* 55 Prozent aller Admiräle, Generäle und Luftmarschälle.
In Public Schools wurden Englands Kriegspremier Churchill und Moskaus Meisterspion Burgess gedrillt. Eton stellte allein 18 Premierminister, darunter Eden und Macmillan, der wiederum einen Etonboy als Nachfolger designierte, Douglas-Home -- nachdem er neun Berater gehört hatte, von denen wiederum acht Etonians waren.
Auf die Frage, warum in seinem Kabinett nicht weniger als sechs ehemalige Etonschüler arbeiteten, während die Regierung des Labour-Premiers Attlee mit der Hälfte ausgekommen sei, antwortete Macmillan: »Meine Regierung ist auch doppelt so gut.«
Die Public Schools sollen vor allem verantwortungsbewußte Staatsdiener heranziehen. Früher waren sie unerbittliche Pauk-Akademien, an denen den Schülern ausschließlich Latein und Griechisch eingebleut wurde. Noch 1832 soll der damalige Eton-Chef Keate an einem Tag 80 Schüler verprügelt haben. Und im alten Schulsaal von Eton ist noch heute der Block zu besichtigen, auf dem manch späterer Minister Rutenschläge einstrich.
Als die große Französische Revolution ausbrach, zeigten sich die Härte gewohnten Zöglinge nicht zimperlich: In Rugby knackten sie das Zimmer ihres Direktors mit Gewehrpulver. An mehreren Schulen kam es zu Aufständen. In Winchester mußten zwei Kompanien Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett gegen die Revoluzzer vorgehen. In Banden organisiert, hielten sich die Schüler ihre eigenen Hunde, wilderten, terrorisierten Einheimische und Erzieher.
Im 19. Jahrhundert fanden die Public Schools ein neues Erziehungsideal -- das des »christlichen Gentleman«. Von den Schülern wurden ritterliche Haltung, Hilfsbereitschaft, Selbstbeherrschung und Geduld verlangt. Die Prügelstrafe wurde weitgehend durch die Zucht des Gewissens ersetzt.
Ständige Kritik und die steigende Konkurrenz der kostenlosen staatlichen Schulen zwangen die konservativen Bildungsbastionen, modern zu werden. Schon jetzt könne ein Hafenarbeiter seinen Sohn nach Eton schicken, schreibt Eton-Lehrer James McConnell in seinem Schul-Führer »Eton: How it Works«, er müßte nur von der Geburt seines Sohnes an dreizehneinhalb Jahre lang täglich auf ein Bier und zehn Zigaretten verzichten.
Die Newsom-Kommission mußte den Public Schools bezeugen, daß sie nicht mehr Faulenzer und Dummköpfe von einflußreichen Eitern durch die Schulzeit mogeln: »Wenige lassen Jungen von unterdurchschnittlicher Begabung zu. Die meisten Schulen bemühen sich um akademischen Erfolg.«
Die Voraussetzungen dafür sind günstiger als an den Staatsschulen: Ein Lehrer an der Public School hat nur zehn bis 20 Schüler zu unterrichten -- an den öffentlichen Gymnasien jedoch 30. Zudem strebt Englands Lehrer-Elite wegen höherer Bezahlung, besserer Lehrmittel und höheren Renommees an die Public Schools.
Die Verstaatlichung der Public Schools lehnte die Kommission ab, obwohl diese Lösung »viel Anziehendes« enthalte: Die Behörden würden nicht bereit sein, jährlich 580 Millionen Mark Unterhaltskosten aufzubringen.
Labour selbst wollte eingedenk einer »Sunday Times«-Umfrage vom März dieses Jahres nichts mehr von derartigen Forderungen hören: Zwei von drei Briten wünschen, daß die Public Schools unverändert bleiben.
Selbst manche Labour-Politiker wünschten es: Sie haben ihre Söhne rechtzeitig für eine Public School gemeldet -- und rechtzeitig bedeutet auf der ständig wachsenden Warteliste von Eton: bei der Geburt.