Drahtzieher im Wahnsystem
Der Staat, erklärte Dieter Kaufmann bei seiner Vernehmung noch in der Nacht des Attentats, habe ihn »psychisch und physisch bedrängt«. »Hart und ungerecht« habe man ihn behandelt, er fühle sich »gefoltert und gequält«, in seinem Gerechtigkeitssinn verletzt »und damit auch in meiner Menschenwürde«.
Als ihm schließlich noch die Hoffnung schwand, »daß sich durch einen Regierungswechsel die Verhältnisse ändern könnten«, schlug er zu. Kaufmann zu seinen Vernehmern: »Vielleicht hat meine gestrige Tat dazu beigetragen, politisch etwas auf den Weg zu bringen.«
War der Mann, der die Schüsse auf Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble abfeuerte, ein politisch motivierter Attentäter? Ein Mann, der dem Staat, verkörpert in der Person des Opfers, seinen Willen aufzwingen wollte?
Etliche von Kaufmanns Äußerungen, die nachts zwischen 1.30 Uhr und 4.30 Uhr zu einem ersten Vernehmungsprotokoll gerannen, ließen diesen Schluß noch zu. Auch die Art, wie der 37jährige Vermessungshelfer vor den Beamten des Stuttgarter Landeskriminalamtes über seine Tat sprach, wirkte klar, »erschreckend nüchtern«, wie Vernehmungsleiter Peter Raisch fand.
Doch dann, mit der Dauer des Verhörs zunehmend, schlich sich das Abwegige und Bizarre ein, geisterten Wahnvorstellungen durch Kaufmanns Geständnis. Im Kaffee, der während seiner Haftzeit im Mannheimer Gefängnis ausgeschenkt wurde, »war Speed«, der Tee enthielt »halluzinogene Essenzen«, auch im Tabak wähnte der Häftling »Psychodrogen«.
Und dann der Staatsterror: Das lief über »elektrische Wellen auf den Körper«, über quälende »Lauttechnik«, über »elektrolytisch erhebliche Schmerzen«, die dem ehemals Drogenabhängigen, wie er angab, »im Zwölffingerdarm und im Kopf« zugefügt wurden. »Unter anderem hat der Staat auch versucht, mich sexuell zu erregen.«
Spätestens da war den Beamten klar, mit was für einem Typ von Täter sie es wohl zu tun hatten - mit keinem Mann jedenfalls, der es auf geplanten politischen Terror und auf revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft abgesehen hatte.
Eine Wahnsinnstat - das war auch bei jenem anderen Fall im April sogleich klar gewesen, als die Arzthelferin Adelheid Streidel, 43, den SPD-Politiker Oskar Lafontaine niederstach.
Gelassen und locker, als gehöre sie nicht zu dieser Welt, hatte sich die Attentäterin im Kölner Polizeipräsidium zu ihrer Tat eingelassen: Nein, nicht einen bestimmten, sondern irgendeinen Politiker habe sie töten wollen. Denn alle seien für die geheimnisvollen Machenschaften verantwortlich: »Es gibt in Europa Menschenfabriken und unterirdische Operationssäle, wo Leute aus der Bevölkerung körperlich und geistig umfunktioniert werden.«
Für die Lafontaine-Attentäterin Streidel beantragte der Kölner Staatsanwalt gar nicht erst einen Haftbefehl, sondern gleich die Unterbringung in einer geschlossenen Heilanstalt. Bei Kaufmann (der später beim Haftrichter sein erstes Geständnis widerrief) ist die Sache noch nicht klar; psychiatrische Gutachter sollen sich äußern.
Beide, Adelheid Streidel wie Dieter Kaufmann, sind offenbar froh, daß sie die Tat hinter sich gebracht haben und sich im Gewahrsam wiederfinden. »Wie befreit«, meinten Augenzeugen, wirkte die Messerstecherin Streidel, als sie auf dem Podium der Stadthalle von Köln-Mülheim überwältigt worden war. Auch Schäuble-Attentäter Kaufmann gab zu Protokoll, es habe sich um einen Akt der Selbstbefreiung gehandelt, »weil ich jahrelang Tag für Tag rund um die Uhr Terror hatte. Es war nicht zu ertragen, man ist kein Mensch mehr«.
20 Jahre lang waren Mordanschläge auf Politiker in der Bundesrepublik fast stets auf das Konto hochorganisierter terroristischer Vereinigungen vom Schlage der RAF gegangen. Nun aber haben, gleich zweimal innerhalb von sechs Monaten, verstörte Einzelgänger zugeschlagen - Täter, bei denen der Wahnwitz oder gar eine manifeste seelische Erkrankung Urgrund und Antrieb der Tat war.
Die Folgenschwere der Taten wird dadurch nicht gemindert. Tag um Tag beherrschte letzte Woche die bange Frage die Medien, ob der von zwei Kugeln getroffene Innenminister Schäuble mit dem Leben davonkommen und welche Schäden er davontragen werde (siehe Seite 35). Und auch diesmal wurde - wie schon beim Attentat auf Oskar Lafontaine - das Gefühl der Ohnmacht fast noch schärfer empfunden als bei den Gewalttaten des organisierten Terrors.
Jedesmal wenn die RAF zuschlug, liefen Polizei- und Fahndungsapparat anschließend auf Hochtouren, wurden Autobahnsperren eingerichtet und Computernetze abgefragt. So entstand zumindest der Eindruck, der auf den Tod herausgeforderte Staat verfüge über Mittel, sich des Terrors zu erwehren.
Gegen den wahnsinnigen Einzeltäter aber ist der Apparat machtlos. Der geistig Verwirrte, der den tödlichen Anschlag plant, taucht in den gängigen Fahndungsrastern nirgendwo auf. Wo RAF-Täter eine umfangreiche Logistik aufbauen, konspirative Wohnungen anmieten und sich mit Überfällen Waffen, Geld und falsche Papiere beschaffen, plant der Wahnsinnstäter im stillen. Er wartet auf die günstige Gelegenheit. Sein Aufwand ist minimal.
Der Lafontaine-Attentäterin Streidel genügte es, im Kaufhaus zwei Küchenmesser zu erstehen. Ungehindert gelangte sie mit den in einem Blumenstrauß verborgenen Tatwaffen bis auf die Rednertribüne. Attentäter Kaufmann hatte sich, wie er bei der Vernehmung angab, »vor einem halben Jahr dazu entschlossen, Schäuble umzubringen«. Die Beschaffung der Tatwaffe war kein Problem. Kaufmanns Vater, ehemals Bürgermeister der Winzergemeinde Appenweier, ist Jäger. Sohn Dieter wußte, »daß er in seinem Waffenschrank einen Revolver hat«. Mit dieser Waffe, nahm er sich vor, würde er den Mann erschießen, den er für seine ganze psychische Misere verantwortlich machte: »Ich dachte mir, wenn er einmal in diese Gegend kommt, dann ist er fällig.«
Nicht ein ausgeklügelter Plan, sondern eher der Zufall hat Ort und Zeit der Tat bestimmt. Anfang Oktober fährt der bei seinen Eltern wohnende und im Dorf als Querulant verschriene junge Mann mit dem Fahrrad zu einem Fischgewässer in der Nähe von Oppenau, das sein Vater gepachtet hat. Unterwegs sieht er die Plakattafeln, auf denen der Besuch des Wahlkämpfers Schäuble angekündigt wird. »Mir war klar, daß dies meine Gelegenheit sein würde, Herrn Schäuble umzubringen.«
Am Abend der Tat geht Dieter Kaufmann an den Waffenschrank seines Vaters, den Schlüssel will er Wochen zuvor in der oberen Schreibtischschublade entdeckt haben. Er entnimmt die Waffe, steckt sie in die rechte Außentasche seiner Lederjacke und fährt mit dem Fahrrad zum Bahnhof Appenweier. Er schließt das Fahrrad im Fahrradständer neben dem Bahnhof an, trinkt in der Gaststätte »Le Chapeau« gegenüber vom Bahnhof einen Orangensaft, fährt um 19.20 Uhr mit dem Bus nach Oppenau und setzt sich in den Saal, wo Schäuble seinen Wahlkampfauftritt haben wird, »auf die linke Seite - etwas mehr zur Tür hin«.
In den Wochen zuvor, aber auch noch im Saal, während Schäuble spricht, ist Kaufmann schwankend. Bei der Wahlrede findet er, daß der Mann eigentlich ganz in Ordnung wäre - »wenn er so etwas nicht machen würde«. Gemeint sind die fortwährenden Angriffe »auf mein Innenleben«; sie lassen nicht nach, auch im Saal nicht, bis zum Schluß. Sein vermeintlicher Widersacher am Rednerpult hört nicht auf, »mich psychisch zu beleidigen und mit dem Zehn-Uhr-Bus auf den Heimweg zu schicken. Deshalb, und weil keine Wende eingetreten ist, habe ich auf ihn geschossen«.
Gegen ein so motiviertes, so geplantes und so ausgeführtes Attentat ist kein Politiker - und mögen die Sicherheitsvorkehrungen noch so aufwendig sein - verläßlich zu schützen; jedenfalls nicht in einer offenen, der Demokratie verpflichteten Gesellschaft (siehe Kasten).
Wieviel auch immer der Staat gegen organisierte politische Terrororganisationen auszurichten vermag - gegen den irrlichternden Einzeltäter, der aus der schützenden Anonymität heraus auf sein Opfer losgeht, ist er nahezu machtlos.
Wer in diesem blutigen Geschäft, womöglich vorhersehbar, als Täter, wer als Opfer bestimmt sei, diese Frage hat die Historiker immer wieder beschäftigt - und frustriert. Denn alle Versuche, so etwas wie eine Systematik des politischen Attentats oder auch nur eine Typologie der Täter zusammenzubringen, stießen an Grenzen.
War beispielsweise der türkische Papst-Attentäter Mehmet Ali Agca, der 1981 Johannes Paul II. durch einen Bauchschuß schwer verletzte, ein politischer Verschwörer oder ein muslimischer Katholikenhasser? Die Frage ist bis heute ungeklärt. Der Papst, von Agca als »Anführer der Kreuzfahrer« geschmäht, hat dem später reumütigen Täter verziehen.
Als vor fast 30 Jahren der Historiker und Schriftsteller Harry Wilde in einem Buch über »Hintergründe, Triebkräfte und Folgen« des politischen Mords eine »Liste der bekanntesten Attentate« aufzustellen versuchte, blieb ihm nichts übrig, als die unerhörten Begebenheiten schlicht chronologisch aufzureihen, von der Ermordung des Tyrannen Hipparchos zu Athen im Jahre 514 vor Christus bis zur damals jüngsten Greueltat, dem Mord an John F. Kennedy, auf den der undurchsichtige Einzeltäter Lee Harvey Oswald (aber vielleicht nicht er allein) aus sicherer Entfernung den gezielten Todesschuß abgab.
In Wildes Liste reihen sich so scheinbar unvereinbare Politmorde wie der vom religiösen Fanatismus diktierte Anschlag auf den beim Volke beliebten französischen König Heinrich IV., der in offener Kutsche von dem katholischen Laienbruder Francois Ravaillac erstochen wurde, über den Mord an Wallenstein, der im Auftrag des Kaisers aus machtpolitischen Erwägungen von gedungenen Söldnern erledigt wurde, bis hin zu der Meucheltat an der politisch einflußlosen Kaiserin Elisabeth ("Sissi") von Österreich (1898), die eigentlich gar nicht hatte dran glauben sollen:
Der Mörder, der 25jährige Anarchist, Arbeiter und Ex-Soldat Luigi Luccheni, der ihr auf offener Straße eine spitze Feile ins Herz stieß, hatte ursprünglich den Herzog von Orleans umbringen wollen. Als die Kaiserin, die in Begleitung einer Hofdame vom Hotel Beau Rivage an den Genfer See spazierte, seinen Weg kreuzte, nahm er eben die. »Eine hohe Persönlichkeit« habe er umbringen wollen, erklärte Luccheni später - »um mein Leben zu rächen«.
Die Vielfalt der Täter reicht von den bezahlten Meuchelmördern der Renaissance (und ihren päpstlichen Auftraggebern) über den bloßen Herostraten, der nach wenigstens negativem Welt- und Ewigkeitsruhm giert, bis zum religiös oder politisch motivierten Fanatiker wie dem protestantischen Theologiestudenten und Burschenschafter Carl-Ludwig Sand, der 1819 den Schriftsteller August von Kotzebue erdolchte: »Nur die Tat«, so das letztlich ausschlaggebende Motiv des militanten Burschenschafters, »kann noch einen Brand schleudern in die jetzige Schläfrigkeit.«
Zu dieser Maxime bekannten sich im 19. Jahrhundert auch die anarchistischen Attentäter in Rußland, die insgesamt 20 Anschläge auf den vergleichsweise liberalen Zaren Alexander II. verübten. Mit zwei Handgranaten, die mit Nitroglyzerin gefüllt waren, gelang es schließlich den Verschwörern der Gruppe »Narodnaja Wolja«, Alexander umzubringen; der Täter flog dabei mit in die Luft.
Die Frage, ob der politische Mord, vom Standpunkt des Politikers aus betrachtet, »nichts als ein weiteres Geschäftsrisiko« sei, eine bloße Manifestation von »tödlicher Zufälligkeit«, beschäftigt auch den amerikanischen Historiker und Attentatsforscher Franklin L. Ford, dessen Untersuchung vor fünf Jahren in Amerika erschien und jetzt in deutscher Übersetzung herauskommt*. Zumindest mit statistischen Befunden kann der Autor des 500-Seiten-Werks aufwarten: Einzeltäter waren, übers Ganze gesehen, häufiger als organisierte Verschwörungen - und sie hatten öfter Erfolg.
So ganz stimmt die These auch wieder nicht, wie der Fall des preußischen Attentäters Heinrich Ludwig Tschech beweist, der 1844 vor dem Berliner Schloß aus nächster Nähe auf den beleibten König Friedrich Wilhelm IV. schoß - und ihn verfehlte. Es war, wie der Historiker Wolfgang Plat bemerkte, das einzige _(* Franklin L. Ford: »Der politische ) _(Mord«. Junius Verlag, Hamburg; 512 ) _(Seiten; 58 Mark. ) Attentat, bei dem die Öffentlichkeit in »schallendes Gelächter« ausbrach. Berliner Volksmund dichtete sofort: _____« Ja, er traf die Landesmutter durch den Rock ins » _____« Unterfutter. »
Auch Zeitläufte, in denen sich politische Anschläge häufen, will Historiker Ford ausgemacht haben. Insgesamt konstatiert er eine beträchtliche Zunahme von Attentaten seit Beginn des 20. Jahrhunderts.
Im Jahrhundert zuvor zählte der Forscher in Europa nur rund 100 einschlägige Bluttaten, in den ersten acht Jahrzehnten seit 1900 hingegen waren es annähernd 700 (mit einer Erfolgsquote von 70 Prozent) - mehr als die Hälfte davon in der Zeit nach 1950. Die Gründe für diese jüngste Zunahme liegen auf der Hand: Die terroristische Internationale, in der Rote Brigaden und RAF, IRA und Palästinensische Befreiungsfront Hand in Hand arbeiten, machte den politischen Mord zur alltäglichen Abendnachricht im Fernsehen.
Nach Fords Einschätzung gab es Häufungen von politisch motivierten Bluttaten aber auch schon früher - immer dann zum Beispiel, wenn eine autokratische Herrschaftsform den Gipfel ihrer Macht überschritten hat und den Repressionsdruck mindert, aber auch in nachrevolutionären, nachkolonialen und in Nachkriegszeiten.
Als Beispiel führt der Amerikaner den Beginn der Weimarer Republik an, als die Mordtaten einander in rascher Folge ablösten, von dem tödlichen Anschlag auf Kurt Eisner, den Ministerpräsidenten der Bayerischen Räterepublik, über die drei Attentate auf den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der 1921 in der Nähe seines Urlaubsortes von zwei ehemaligen Offizieren der nationalistischen »Organisation Consul« erschossen wurde, bis hin zu dem Mord an Walther Rathenau, dem Außenminister, den zwei Ex-Marine-Offiziere mit Hilfe einer Maschinenpistole und einer Handgranate aus dem Weg räumten.
Als einen »Grundfehler vieler Darstellungen über das Attentat« bezeichnet es der Historiker Wolfgang Plat, wenn einfach nur »Fall an Fall gereiht«, wenn die Geschichte der Attentate nur als eine Kette sensationeller, blutiger und grausamer Geschichten dargeboten wird, in denen die Attentäter teils als grausam und blutdürstig, teils als tugendhaft abgemalt sind - und ebenso die Opfer: »Mal sind sie edel, mal sind sie Bösewichte.«
Was Plat vorschwebt, ist eine »Sozialgeschichte des politischen Mordes«, in welche die jeweils historischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit eingehen, aus denen die Täter ihr Motiv beziehen: Attentate als Ventil sozialer Konflikte oder wirtschaftlicher Spannungen, als Ausgeburt rassistischer Umtriebe und dann wieder als todbringende Entladung nationalistischer Spannungspotentiale.
Nur selten in der Geschichte der Attentate haben die Zeitgenossen oder die Nachwelt ihr Urteil einmütig gefällt - Gut oder Böse lagen fast stets im Ermessen der Betrachter. Ausgenommen blieb allenfalls der Tyrannenmord, in den Augen der Philosophen seit zweieinhalbtausend Jahren »das einzige achtbare Bindeglied zwischen Ethik und politischer Gewalt« (Historiker Ford).
Den raren Fall einer »ganz eindeutigen und positiven Einschätzung der Motive« sieht Attentatsforscher Plat dementsprechend bei den Verschwörern vom 20. Juli 1944, aber auch in der tragischen Figur des Schreinergesellen Georg Elser, »dieses einfachen Mannes aus dem Volke, der über die Wirklichkeit des Hitlerreiches nicht mehr wußte als Millionen seiner deutschen Zeitgenossen« (Plat). In 35 einsamen Nächten hatte Elser die hochkomplizierte Zeitbombe gebastelt, die am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräu hochging, aber den Diktator nicht erwischte.
Ein erfolgreiches Attentat auf Hitler, zu diesem Zeitpunkt, hätte den Gang der Ereignisse wohl nachhaltig beeinflußt. Doch in der allergrößten Zahl der Fälle führt die auch von Historiker Ford aufgeworfene Frage, »ob das Attentat funktioniert«, ob also politischer Mord die Geschichte im Sinne der Täter umzulenken vermag, zu erheblichen Zweifeln.
Hat der Schauspieler John Wilkes Booth, der am 14. April 1865 in der Loge 7 des Washingtoner Ford-Theaters den US-Präsidenten Abraham Lincoln erschoß (und selber zwölf Tage später unter Polizeikugeln mit dem Seufzer »Nutzlos, nutzlos« starb), sein erklärtes Ziel erreicht? Booth, der mit seiner Tat den Status quo in den amerikanischen Südstaaten hatte erhalten wollen, schoß vergebens. Lincoln starb, die von Washington eingeschlagene Südstaatenpolitik ging weiter.
Als das folgenschwerste Attentat der Weltgeschichte gelten die Schüsse von Sarajewo: Der gerade 19jährige serbische Nationalist Gavrilo Princip, der den Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie niederstreckte, hatte einen heiligen Eid geschworen, mit diesem Gewaltakt die Selbständigkeit von Bosnien zu erreichen.
Was er bewirkte, war gewaltig - das Attentat löste einen Weltkrieg aus und legte damit auch den Grund für den zweiten -, doch seinen Absichten nutzte es nichts. Princip und sein Mitverschwörer Tschabrinowitsch saßen ihre Kerkerstrafe in Theresienstadt in schweren Ketten ab; beide starben im Gefängnis, ohne je zu erfahren, daß sie einen Weltkrieg ausgelöst hatten.
Die aus der Antike überlieferte, im klassischen Drama aufs äußerste zugespitzte Vorstellung, daß es letztlich die Einzelpersönlichkeit sei, die den Gang der Geschichte bestimmt, steht hinter den meisten politischen Attentaten. »Indem der Attentäter auf sein Opfer zielt, hat er es in Gedanken längst aus der Geschichte herausgelöst«, formuliert Plat. Und dann, im Katzenjammer des Fehlschlags, sei immer wieder zu bemerken, welch »fassungsloses Staunen, welche Verzweiflung sich des Attentäters bemächtigt, wenn er begreift, daß die von ihm erhoffte Wirkung keineswegs eintritt«.
Mitunter allerdings traten politische Folgen ein, die gar nicht intendiert waren. So schoß an einem Junitag des Jahres 1878 ein Dr. phil. Carl Nobiling aus seinem möblierten Zimmer »Unter den Linden« in Berlin mit einer Schrotflinte auf Kaiser Wilhelm I., der in seiner Kutsche vorbeifuhr; der Kaiser wurde schwer verwundet. Drei Wochen zuvor hatte ein anderer, der 21jährige Klempnergeselle Max Hödel, auf Wilhelm geschossen, allerdings mit einer untauglichen Waffe.
Beide Täter waren Wirrköpfe, Hödel offenbar auch geistig gestört. Am politischen Impetus der Taten bestehen Zweifel. Doch Bismarck stellte die Täter als Sozialdemokraten hin, was ihm erlaubte, noch im Oktober desselben Jahres mit dem Sozialistengesetz ("Gegen die gemeingefährlichen, auf den Umsturz der Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen der Sozialdemokratie") einen wirksamen Schlag gegen die Sozialisten zu führen.
Ersichtlich waren die Folgen ihrer Tat den beiden Wilhelm-Attentätern schnuppe. Sie gehörten zu dem Tätertyp, der seine Bluttat nur als Akt der Befreiung, mehr oder minder ohne politische Zielsetzung, in Szene setzt; die Handlungsantriebe liegen allein in der gestörten Persönlichkeit des Täters.
Eines der jüngsten Beispiele dafür war der 25jährige Amerikaner John W. Hinckley, der im Frühjahr 1981 den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan mit einem Revolver schwer verwundete. Später stellte sich heraus, daß der Täter, nach einem Stichwort aus dem Film »Taxi Driver« ("Wenn du mich nicht liebst, bringe ich den Präsidenten um!"), seinem Idol, der Schauspielerin Jodie Foster, hatte imponieren wollen. Hinckley, ein Psychopath, wurde wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und in eine psychiatrische Heilanstalt gebracht.
Verrückt oder klar im Kopf, Geistesgestörter oder planvoller Polit-Killer - diese Frage stellt sich jedesmal, wenn Bluttaten auf offener Bühne die Öffentlichkeit erschüttern. Und nicht selten sind die Übergänge zwischen dem einen und dem anderen fließend.
Eindeutig lag der Fall bei der Lafontaine-Attentäterin Adelheid Streidel. Wie sich gleich nach der Tat herausstellte, war es ihr gar nicht darum gegangen, politischen Schaden anzurichten. Bis kurz vor der Tat war es ihr einerlei gewesen, ob sie ihr Küchenmesser gegen Lafontaine oder gegen den gleichfalls in der Köln-Mülheimer Stadthalle anwesenden Johannes Rau richten sollte. Sie mußte nur die enorme seelische Spannung loswerden - schuld an den von ihr halluzinierten Machenschaften waren alle hochrangigen Politiker gleichermaßen.
Bei Adelheid Streidel wurden von den Psychiatern alle klassischen Anzeichen einer paranoiden Schizophrenie diagnostiziert: Störungen der Wahrnehmung, Störungen des Denkens und des Gefühls sowie Verfolgungswahn. Diese in Schüben auftretenden Symptome verbinden sich zu jener Wahnkrankheit, die am Ende zum »gespaltenen Ich« führt.
Die Kranken werden von Stimmen gequält, die Tag und Nacht von schrecklichen Dingen erzählen. Wahn und Wirklichkeit werden ununterscheidbar. Auf der Suche nach Verantwortlichen für ihre Misere kommen sie auf abstruse Ideen, mal sind Familienmitglieder schuld, mal fremde Geheimdienste oder Forscher in Genlabors. Die Gepeinigten fühlen sich, sei es durch Strahlen oder durch Hirnmanipulationen, ihres Willens beraubt und ferngesteuert.
Bei Dieter Kaufmann, dem Schäuble-Attentäter, ist das Krankheitsbild einer paranoiden Schizophrenie bislang nicht ärztlich diagnostiziert. Aber vieles an der Ausführung der Tat und in den Äußerungen Kaufmanns bei seiner ersten Vernehmung deutet darauf hin.
Nicht nur, daß er sich durch »elektrische Wellen« und »elektrolytisch« zugefügte Schmerzen terrorisiert fühlte; daß er sich, lange nach der Haftzeit, auf eine ganz körperliche Weise gefoltert und gequält vorkam. Die Tat diente ihm auch dazu, wie er dem Vernehmungsbeamten offenbarte, seine Qual publik zu machen: »Ich war der Meinung, daß durch die danach erforderlich werdende Gerichtsverhandlung Einzelheiten dieses Psychoterrors einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden.« Kaufmanns Schlußwort in der Vernehmung nach der Tat verdeutlicht den Druck, unter dem er stand: »Wenn ich einen anderen Ausweg gesehen hätte, hätte ich das nicht machen müssen.«
Solange nicht ärztliche Gutachten einen klaren Schizophrenie-Befund liefern, schließen Fachleute auch andere Ursachen für Kaufmanns Geistesstörungen nicht aus. So erläutert der Mannheimer Psychiatrieprofessor Heinz Häfner, daß langjähriger Gebrauch von Rauschmitteln, vor allem von Amphetaminen, zu einer ganz ähnlichen Symptomatik führen könne wie die Wahnkrankheit Schizophrenie (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 40). Ohnehin sind, auf dem Felde der politischen Attentate, die Grenzlinien zwischen Wahn-Taten und Wahnsinns-Taten, zwischen einem noch nicht als krankhaft einzustufenden Realitätsverlust und einer klinisch manifesten Geistesstörung schwer zu ziehen.
Der Irrwitz kommt in mancherlei Gestalt: Da ist die in sich geschlossene, für Außenstehende nicht zugängliche Wahnwelt der Adelheid Streidel. Verglichen damit wirkt die Tat von Dieter Kaufmann schon etwas verstehbarer, jedenfalls gezielter - den Innenminister als Verantwortlichen für Drogenbekämpfung und eingebildete »Haftfolter« anzusehen war nicht so abwegig.
Und liegt nicht ein Stück wahnhafter Weltverkennung, jedenfalls von Realitätsverlust auch bei den Mitgliedern von Terrororganisationen wie RAF und Roten Brigaden vor, die glauben, mit einer Handvoll Attentäter den Staat aus den Angeln heben zu können?
Die Neigung, Probleme mit Gewalt zu lösen und sich mit Mordwaffen den Weg aus persönlicher Frustration in vermeintlich bessere Welten freizuschießen, ist - nicht nur nach den Erhebungen des Historikers Ford - im 20. Jahrhundert deutlich gewachsen.
Daß dabei der Staat und seine Repräsentanten, wie nun zum zweiten Mal in diesem Jahr geschehen, zunehmend ins Schußfeld auch von apolitischen, aus tiefer Geistesverwirrung heraus agierenden Tätern geraten, mag mit der zunehmenden Allgegenwart ebendieses Staates zusammenhängen.
Von der Geburtsurkunde bis zur Fahrerlaubnis, vom Antrag auf Wohngeld bis zu Krankenschein und Meldepflicht, überall drängt sich der Staat in die Lebenssphäre auch der psychisch Labilen und gewinnt damit als Gegenspieler an Boden in ihrer Wahnwelt. Von da ist es nur noch ein Schritt, bis der omnipräsente Staat in einem geschlossenen Wahnsystem als Drahtzieher und Verfolger, bis schließlich ein einzelner Politiker als vermeintlicher Urheber aller eingebildeten Qualen und Foltern figuriert.
Wie relativ leicht es derart programmierten und unter ungeheurem Leidensdruck stehenden Tätern fällt, sich ihren imaginierten Todfeinden zu nähern, haben nicht nur die Anschläge auf Schäuble und Lafontaine bewiesen.
Die in der Berliner Philharmonie versammelten Macht- und Würdenträger staunten nicht schlecht, als beim Staatsakt zur deutschen Vereinigung am 3. Oktober der Mann mit dem Jutesäckchen ungehindert ans Rednerpult trat und über die Vorzüge bestimmter Frankenwein-Jahrgänge zu parlieren begann.
Der Eindringling, dessen erklärtes Ziel es ist, »Kohl zu stürzen«, und der mit einer eingeschmuggelten Bombe leicht alle auf einen Schlag hätte töten können, war, wie sich später herausstellte, ein ehemaliger Amtsgerichtsrat aus Hannover, der wegen klinisch manifester Schizophrenie vorzeitig pensioniert worden war.
* Franklin L. Ford: »Der politische Mord«. Junius Verlag, Hamburg;512 Seiten; 58 Mark.