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FLUGHÄFEN Drastisch runter

Die umstrittene Startbahn West in Frankfurt hält nicht, was die Planer versprochen haben. Um recht zu behalten, manipuliert die Flughafenverwaltung internationale Sicherheitsstandards. *
aus DER SPIEGEL 28/1984

Die Boeing 737 der Lufthansa hebt auf Runway 07 R des Frankfurter Flughafens gegen den Ostwind ab - Flugziel Westen. Zwei Minuten später rollt ein weiterer Lufthansa-Jet über die neue Startbahn 18 West nach Süden.

Abermals zwei Minuten darauf unterbricht hektischer Funkverkehr die Flugroutine im Luftraum Frankfurt: »Level off at 2000 feet« - Steigflug bei 2000 Fuß sofort abbrechen. Die Lotsen-Anweisung an den zuletzt Gestarteten kommt gerade noch rechtzeitig, um eine Kollision der vollbesetzten, vorschriftsmäßig fliegenden Maschinen zu verhindern.

Der Beinahe-Zusammenstoß geschah Anfang Juni. Und schon wenige Tage später waren Passagiere und Besatzung eines Düsenclippers, der Rhein-Main über die neue Startbahn West verlassen wollte, erneut in Gefahr.

Der Pilot hatte Startfreigabe, die Maschine rollte bereits an, aber auf einer anderen Funkfrequenz war einem Meßflugzeug der Bundesanstalt für Flugsicherung gleichzeitig die Freigabe zum Durchstarten auf der alten Querbahn erteilt worden. Kollision und Katastrophe blieben aus, weil der Jet-Kapitän den Start gerade noch mit einer Vollbremsung abbrechen konnte.

Die »konfliktträchtigen Situationen«, wie Fluglotsen-Sprecher Wolfgang Heim solche Beinahe-Katastrophen nennt, haben seit Eröffnung der neuen Startbahn im April zugenommen. Zwar erschweren Reparaturarbeiten an einer der alten Pisten den Betrieb auf Rhein-Main, aber unabhängig davon zweifelt »Der Flugleiter«, Verbandszeitschrift der Lotsen, am Nutzen des »umstrittenen Monuments staatlichen Durchsetzungswillens«.

Vom Bau der Startbahn 18 West, der im Rhein-Main-Raum einen »ökologischen Bürgerkrieg« (Startbahn-Gegner Alexander Schubart) auslöste, hatten sich Flughafen AG und Luftverkehrsgesellschaften eine reibungslose und schnelle Abwicklung des Flugverkehrs erhofft. Bis zu zwölf An- und Abflüge mehr sollten, bei günstiger Wetterlage, fortan pro Stunde möglich sein. Ohne eine neue Startbahn, prophezeite Flughafendirektor Erich Becker, werde »Frankfurt zum Provinzflughafen«.

Doch so günstig, wie die Planer dachten, ist die Wetterlage über Frankfurt oftmals nicht. »Wenn der falsche Wind weht«, etwa aus dem Osten, erweist sich die neue Startbahn, so Flugleiter Dietrich Engelmann, als »ein Flop«, liegt der

Zugewinn an Starts und Landungen bei »annähernd Null«.

Bei Ostwindlage, in Hessen meistens Nordostwind, kreuzen die gegen den Wind, aus Westen, anfliegenden Maschinen die neue Piste »in Bierflaschenhöhe« (ein Lotse). Und wenn trotz des gefährlichen Rückenwinds ein Pilot auf Runway 18 West starten will, müssen die anfliegenden Jets wegen Luftwirbelbildung mit acht statt mit vier Meilen Abstand gestaffelt werden.

Der deutsche Flugplan-Koordinator, dem Experten einen Kapazitätszuwachs von 23 Prozent vorgerechnet hatten, sieht denn auch »keinen Grund zur Euphorie«. An zehn, »höchstens 15 Prozent« aller Tage im Jahr hatten Meteorologen in der Planungsphase mit dem ungünstigen Wind gerechnet - eine zu optimistische Prognose, wie sich jetzt herausstellt.

In den beiden ersten Betriebsmonaten lag die Startbahn statistisch jeden dritten Tag still. Wegen »Ostwetterlage« (Heim) mußte Rhein-Main fast eine Woche lang gar betrieben werden, als gäbe es den umstrittenen Millionenbau nicht - ohne Starts auf 18 West. »Wir hatten«, räumt Hannsrainer Otto von der Flughafendirektion ein, »ein paar Probleme mit ungünstigem Wetter.«

Zusätzlich erschwert die von Piloten schon früher als »besonders risikoreich« beschriebene Drängelei im hessischen Luftraum die Arbeit der Lotsen. Alle Abflugwege der drei Frankfurter Pisten kreuzen sich bei Ostwind im Luftraum südlich des Flughafens, und zwar in exakt 4000 Fuß Höhe (siehe Schaubild).

»Niedriger geht nicht«, erläutert ein Lärmbeauftragter des Flughafens, weil sonst bei Starts »am Boden die Wände wackeln«. Steiler aufsteigen können die Piloten auch nicht, denn fast der gesamte Anflugverkehr für Frankfurt wird bei Ostwetterlage im gleichen Luftraum abgewickelt - auf 5000 Fuß, gut 300 Meter über den Startenden.

So hat, wie die Zeitschrift »Der Flugleiter« anmerkt, eine startende Maschine von der »18 West« eine »gute Chance«, sich südlich des Platzes mit einer Maschine von der alten Piste »zu treffen« - wie im Juni, als ein startender Jet beinahe mit einer anfliegenden Maschine zusammenkrachte, die ihre Flughöhe von 5000 Fuß schon weisungsgemäß verlassen hatte. »Bei Ostwind«, erklärt ein Schweizer Pilot die Lage, würde er seine Familie »besser mit dem Zug« nach Frankfurt schicken.

Die gefährlichen Begegnungen hatten Folgen. Mit »wasserdichten Absprachen« haben Tower und Radarlotsen in Frankfurt erreicht, daß die neue Piste nun bei Ostwind praktisch nicht mehr benutzt wird.

Das macht es dem Flugplan-Koordinator Hein K. schwer, die Kapazität des Flughafens vorauszuberechnen. Bei häufigem Ostwind, gesteht Claus Ulrich, einer seiner Mitarbeiter, »wird die Kapazität drastisch runtergehen« - genauer: auf den Stand vor dem Bau der Startbahn.

Von der »idealen Situation« (Ulrich), ausschließlich Westwind, kann er aber auch nicht ausgehen - dreht der Wind nach Osten, sind »massive Verspätungen« die Folge. Die aber würden wegen der vielen Interkontinentalflüge, die Frankfurt passieren, »den gesamten internationalen Flugplan durcheinanderwirbeln« (Gering).

Um trotz allem die Startbahn West so häufig wie möglich benutzen zu können, sind auf dem Frankfurter Flughafen auch internationale Sicherheitsstandards nicht mehr tabu. Während nach weltweit gültigen Maßstäben die Rückenwind-Obergrenze für Starts bei fünf Knoten (9,3 Stundenkilometer) liegt, soll in Frankfurt künftig auf der Startbahn West auch noch bei zehn Knoten Schiebewind gestartet werden können. Lufthansa-Pilot Uwe Holzwig findet die Pläne »nicht akzeptabel": Die Abhebegeschwindigkeit der Maschinen würde steigen, ein Startabbruch zu riskant werden.

Ebenso fragwürdig mutet eine Startbahn-Verkürzung an, die von der Flughafengesellschaft stillschweigend vorgenommen worden ist. Um dem anfliegenden Querverkehr auszuweichen, wurde bei Ostwind der Anrollpunkt für startende Jets auf der Startbahn West nach Süden verlegt, die Betonpiste von 4000 Meter Länge auf 3200 Meter verkürzt. 800 Meter des 60 Meter breiten Betonbandes sind damit überflüssig geworden.

Vor vier Jahren, auf dem Höhepunkt der Startbahn-Auseinandersetzungen, hatte Flughafenchef Becker eine verkürzte Startbahn für undenkbar gehalten. Die Verwirklichung der Vorstellungen der Kritiker, so Becker damals, »würden den Betriebswert der West-Bahn erheblich einschränken« und bei der »Nutzen- und Kostenrechnung« zu »sehr schlechten Ergebnissen« führen.

[Grafiktext]

Abflugrouten vom Flughafen Frankfurt bei Ostwind RHEIN KIRN Bingen Bad Kreuznach RUDESHEIM Ingelheim Wiesbaden RHEIN Parallelbahnen 07R und 07L Startbahn 18 West Mainz MAIN Rüsselsheim Frankfurt Flughafen Frankfurt Hanau MAIN Darmstadt RIED KONIG Funkfeuer An diesen Kreuzungspunkten kam es zu Beinahe-Zusammenstößen Worms NAHE 20 Kilometer

[GrafiktextEnde]

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