Zur Ausgabe
Artikel 4 / 92

Titel »Draußen ist's heller«

Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier mag dröge und langweilig wirken. Sein wahres Problem aber ist seine Partei, und die fehlende Machtperspektive. Dabei wäre er vermutlich kein schlechter Kanzler für schwierige Zeiten. Von Markus Feldenkirchen
aus DER SPIEGEL 39/2009

Spinnen die Mannheimer? Oder wollen sie ihn, den Kandidaten, auf den Arm nehmen?

Er ist seiner Limousine entstiegen, ein feuchter Sommerabend, er steht auf dem Bürgersteig, ruckelt sein Jackett zurecht, da fangen ein paar Leute hinter ihm an zu brüllen.

»Yes we Frääänk!«

Der Kandidat zuckt zusammen.

»Yes we Fräääänk!« Auf Mannheimerisch klingt der bescheuerte Satz noch ein bisschen bescheuerter. Der Kandidat dreht sich um, er sieht sechs Jugendliche, die selbstgemalte Schilder in den Himmel recken, auf denen, in schwankenden Buchstaben, der gleiche Satz steht, nur auf Hochdeutsch: »Yes we Frank«. Frank-Walter Steinmeier schüttelt den Kopf.

Er steuert auf den Eingang des Gewerkschaftshauses zu, die Mannheimer SPD hat zum Wahlkampf in den Otto-Brenner-Saal geladen. Die sechs folgen ihm wie Entenkinder ihrer Mutter.

»We want change! We want change!«, hallt es nun über die Straße. Steinmeier dreht sich wieder um, ihm ist das sichtlich unangenehm, sein Blick sagt: Jetzt is' aber mal gut! Oder: Wenn das die Leute hören! Für einen Moment verstummt der Chor, dann, auf der Treppe in den ersten Stock, ertönt er erneut:

»Deutsch-land-Plan. Deutsch-land-Plan«, schallt es durch das Treppenhaus, gemeint ist das 67 Seiten dicke, schwer zu lesende Papier zur Zukunft der Arbeit, das der Kandidat vorgelegt hat. Wieder dreht er sich um, für einen Moment muss er schmunzeln, so skurril kommt ihm das alles vor.

Auf dem Weg vom Treppenabsatz zum Eingang des Saals versucht Steinmeier, seine Verfolger abzuschütteln, er beschleunigt, aber auch das misslingt. Schließlich fügt er sich in sein Schicksal, er taucht ein in die schwitzende Menge, lässt sich betatschen, bejubeln, lässt all das über sich ergehen, was man mit sich geschehen lassen muss, wenn man Deutschland regieren möchte.

»Begrüßen Sie den künftigen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland«, ruft der Moderator. »Yes we Frääänk«, brüllen die sechs in seinem Rücken, Jusos mit der Sehnsucht nach Begeisterung.

Aber es wirkt, als wollten sie Steinmeier auf den Arm nehmen. Ist es nicht albern, so zu tun, als marschierte der künftige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland in den Saal ein, wo seine Partei über Umfragewerte von 22 oder 23 Prozent verfügt? Wie kann man einen Menschen mit Barack Obama vergleichen, dessen Ausstrahlung den eigenen Körper nicht verlässt? Und sollte man ernsthaft auf »Change« hoffen bei einem Kandidaten, der seit elf Jahren mitregiert und der seine Resthoffnung, Kanzler zu werden, auf ein wackliges Ampelbündnis mit Grünen und Liberalen stützt? Es steckt eine tragische Komik in diesem Einzug des SPD-Kanzlerkandidaten.

Selten zuvor litt eine Kanzlerkandidatur so sehr unter dem Makel der Aussichtslosigkeit. Statt »Wer wird Kanzler?« schwebte als eigentliche Frage über diesem Wahlkampf, in welcher Konstellation Angela Merkel Kanzlerin bleiben darf.

Steinmeier hat sich von all dem nicht den Mut rauben lassen. Er hat das tapfer hinter sich gebracht, mit stoischer Ruhe, gelassen fast, auf manchen Marktplätzen und im TV-Duell hat er sogar verblüffen können. Als Kandidat war er am Ende besser, als Freunde befürchtet und Gegner gehofft hatten.

Trotzdem ist er vielen Deutschen ziemlich egal geblieben. Die meisten Bürger wissen noch immer nicht, wer dieser Steinmeier ist, der unverdrossen vorgibt, der nächste Kanzler werden zu wollen. Er hat es ihnen verdammt schwer gemacht, ihn kennenzulernen. Dabei ist eine Kandidatur nichts anderes als ein wochenlanges Bewerbungsgespräch.

Seit dem »Experiment Merkel« wissen die Bürger, dass auch scheue, unbeholfene Menschen Kanzler werden können. Das »Experiment Steinmeier« aber geht sogar noch weiter, es ist die erste Kandidatur eines Verwaltungsmenschen. Fast über Nacht sollte er vom trockenen Spitzenbeamten zum feurigen Spitzenkandidaten reifen, ausgerechnet er, der sich außer dem Heiratsantrag an seine Frau noch nie einer wichtigen Wahl gestellt hat.

Vielleicht kann ein solches Experiment nicht auf Anhieb gelingen, nicht in diesem Betrieb, dessen wichtigstes Merkmal seine Schnelllebigkeit ist.

Eines der Lieblingsbücher von Frank-Walter Steinmeier heißt »Die Entdeckung der Langsamkeit«. Geschrieben hat es der Schriftsteller Sten Nadolny. Einmal hat er ihn und andere Künstler auf eine Reise nach Riga mitgenommen, es gab einen Kulturabend, und Nadolny las auf Steinmeiers Wunsch aus seinem Roman. Die beiden sind über die Jahre Freunde geworden.

Der Roman ist der Versuch, die Langsamkeit von ihrem schlechten Ruf zu befreien. Er erzählt die Geschichte von John Franklin, dessen Eigenschaften seinen Wünschen im Wege stehen, vor allem seinem Traum, Kapitän auf einem großen Schiff zu werden. John Franklin hat seine eigene Geschwindigkeit, er ist unfassbar langsam, wirkt unscheinbar, hat keinerlei Charisma, alle halten ihn für dröge, er kann sein Umfeld nicht unterhalten, er redet, als ob er Nägel in die Wand klopfe.

Er wisse nicht, ob er das sagen solle, sagt Nadolny, er beugt sich weit über den Tisch und schaut sich um, als prüfe er, ob jemand mithört. Aber der Steinmeier, der erinnere ihn an seinen John Franklin.

Er meint das durchaus positiv, er mag seine Romanfiguren. Franklin scheint ebenso wenig in die Kapitänsrolle zu passen wie Steinmeier in die Rolle des Wahlkämpfers, aber als er es viele Jahre später doch auf ein Schiff schafft mit etwas Glück und ganz viel Beharrlichkeit, da erweist sich seine Benachteiligung plötzlich als Stärke.

Franklin hat das, was ihm die Natur verwehrt hat, das Flinke, Spielerische, in der Politik würde man sagen: das Schröderische, mit Fleiß kompensiert. Er hat versucht, seine Langsamkeit durch Genauigkeit auszugleichen, er war gründlicher, gewissenhafter und tüchtiger als andere. Am Ende segelt er mit seiner Mannschaft bis ans Ende der Welt.

Ob Steinmeier das auch könnte?

Bei einer Podiumsdiskussion in Berlin will der Moderator einen Themenwechsel einleiten, er lächelt den Kandidaten freundlich an und sagt: »Es gibt Typen in der Politik, die sehr egozentriert an die Macht drängen. Dieser Typus sind Sie eher nicht.«

»Sie meinen wahrscheinlich: Sie sind nicht wie Gerhard Schröder«, sagt Steinmeier, seine Stirn zerknittert. »Ich kann darauf nur sagen: Ich bin gar nicht Gerhard Schröder. Insofern ist das eine blöde Frage, mit der ich leider umgehen muss.« Es ist ein seltener Moment der Erregung in diesem unerregten Menschen.

»Aber ich hab doch gar nicht nach Gerhard Schröder gefragt«, entschuldigt sich der Moderator, er wirkt pikiert.

»Jaja, aber das wäre gleich gekommen«, schimpft Steinmeier. »Ich weiß doch, wie das läuft. Ich kenn das doch.«

Der Altkanzler liegt wie ein großer dunkler Schatten über seinem Wahlkampf. Parteifreunde, Bürger, Journalisten, sie alle messen ihn an Schröder, und in den seltensten Fällen heißt der Sieger am Ende Steinmeier. Manchmal wirkt es, als kämpfe der Kandidat gar nicht gegen Angela Merkel, sondern gegen seinen alten Chef.

Es gehört zu den vielen Kuriositäten dieser Kandidatur, dass ausgerechnet sein großer Förderer jene Erwartungen an Wahlkämpfer in Deutschland geweckt hat, die Steinmeier nicht erfüllen kann. Schröder hat ein Tempo vorgegeben, das seinen Zögling überfordert, er war zackig, spontan, impulsiv, seine Auftritte wirkten manchmal prollig, aber fast immer dynamisch. Schröder, der Medienlöwe, war nicht nur Kandidat, er war auch Entertainer, er konnte zuspitzen, pöbeln, prahlen, sich öffnen, kurz: unterhalten.

Steinmeier kann das weniger, und er leidet unter dieser Erwartungshaltung. Mit Merkels Unterhaltungslosigkeit hat sich das Volk inzwischen arrangiert, mit Steinmeiers noch nicht so ganz. Wann immer er in diesem Sommer an die große Aufholjagd der SPD im Wahlkampf 2005 erinnert, um seiner Partei Mut zu machen, erhält er die bittere Antwort: Aber damals gab's ja noch den Gerd!

Als Steinmeier Ende April nach Afghanistan reist, besucht er einen Park am Stadtrand von Kabul. Beim Spaziergang wollen zwei Fotografen ein paar Ministerbilder vor den bebauten Kabuler Bergen machen. Schröder hätte gleich posiert, aber Steinmeier steht steif in der Landschaft rum. »Machen Sie mal 'ne einladende Handbewegung«, rufen sie, sie wollen ihn zu ihrem Tanzbären machen.

Steinmeier weiß nicht, wie er das jetzt genau machen soll, er überlegt lange, die Fotografen glauben schon nicht mehr an ihr Bild, da fährt er doch noch seinen rechten Arm aus, als wolle er sagen: Seht her, mein Kabul.

»Stooopp!«, brüllt sein Sprecher, er springt wie ein Derwisch herbei. »Stopp, stopp, stopp.« Er blickt die Fotografen ernst an. »Die Bilder mit der Handbewegung sind gesperrt.«

Steinmeier blickt ihn verdattert an. »Echt jetzt? Wieso?«

»Ist besser so«, sagt der Sprecher.

Die Aufnahmen kommen ihm zu verkrampft vor, ihnen fehlt das Spielerische. Der Wahlkampf befand sich erst in der Vorwärmphase, aber das Experiment, einen Beamten in einen Spitzenkandidaten zu verwandeln, drohte bereits jetzt zu scheitern. Steinmeier wirkte in diesem Moment wie ein verschüchterter Junge, verunsichert von jenem Teil des Politikgeschäfts, der ihm nicht geheuer ist. Der Macht der Kameras. Dem Zwang zur Inszenierung. Dem Tanzbärenanteil.

Ein paar Wochen später hat sein Sprecher den Regierungs-Airbus mit vielen Journalisten und Fotografen beladen, es handelt sich um eine Rekordbesetzung. Der Besuch in Israel ist die letzte Auslandsreise vor der heißen Wahlkampfphase, es soll noch mal schöne Bilder vom Außenminister geben, einem Mann von Welt.

Am ersten Morgen wird die Delegation für einen Fototermin extra auf den Berg Scopus gefahren. Oben steht Steinmeier an einer Balustrade, unter ihm die Altstadt von Jerusalem, das goldene Haupt des Felsendoms, der Himmel klar und blau, ein Motiv wie geschnitzt. Die Fotografen streicheln schon lustvoll ihre Auslöser. Das Dumme ist nur, dass Steinmeier sich nicht umdreht. Er steht da, seelenruhig, als gäbe es die Fotografenfront hinter ihm nicht. Lange Minuten.

»Na toll«, ruft irgendwann ein Fotograf, dann bricht großes Gemoser aus: »Da fliegt man extra nach Israel, und was bekommt man? Einen Rücken!« Die Ersten wenden sich ab.

Steinmeiers Sprecher stand etwas abseits, nun hurtet er durch die Mittagshitze herbei. »Stopp, stooohopp«, ruft er schon von fern. »Herr Steinmeier, Herr Steinmeier, umdrehen bitte!«

Langsam dreht der Kandidat sich um, die Apparate rattern, ein paar Sekunden, dann haut er mit der Hand auf die Balustrade und verkriecht sich wieder in seiner Limousine.

Steinmeier stammt aus dem Schattenreich der Politik. Sieben Jahre diente er Schröder in Niedersachsen, sieben weitere im Kanzleramt. Er hat Politik stets managen, aber nie verkaufen müssen.

Als Schröder 1998 ins Kanzleramt zog, machte er zunächst nicht ihn zur Nummer eins des Hauses, sondern Bodo Hombach, der sich gern üppige Gedanken machte. Auf einem Flug von Bonn nach Hannover erklärte Schröder den Mitreisenden, wie er sich die Aufgabenteilung vorstelle: »Von den zehn Ideen, die der Bodo am Tag hat, soll der Frank drei umsetzen.«

»Ich fand das scheiße, dass der Gerd das gesagt hat«, erzählt Hombach heute. »Ich wollte damals mit Frank darüber reden, ich dachte, er sei beleidigt, aber das war er gar nicht. Sein Selbstverständnis war, dass er mit dem Ruf des Organisators sehr gut leben konnte.«

Steinmeier hatte sich eigentlich damit abgefunden, zu den Lautlosen der Politik zu gehören, er war ein glücklicher Beamter, das hatte er sich ja selbst so ausgesucht. Sein Selbstwertgefühl schöpfte er aus seinem Einfluss, nicht aus seiner Prominenz. Das Wort »Apparat« hatte für ihn einen lustvollen Beigeschmack.

In der Früh ließ er sich ins Kanzleramt fahren, wo ihn ein frischer Berg Akten willkommen hieß. Es war die Zeit, da man sich im Amt die Geschichte erzählte, dass Steinmeier sogar seine Blumensträuße abhefte. Das stimmte natürlich nicht.

Bis er vor vier Jahren Außenminister wurde, hat Steinmeier keine Wortlaut-Interviews gegeben. Für eine Zeit, in der die Darstellung von Politik größeren Erfolg verspricht als der Inhalt, ist Steinmeier ein schwieriger Kandidat, man könnte auch sagen: eine Zumutung.

Am schlimmsten sind die Momente, in denen er sich trotzdem als Entertainer versucht. In einem Saal, dessen Fenster wegen der grellen Sonne abgedunkelt sind, beginnt er seine Rede so: »Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen versichern ...« Kurze Pause. »... Draußen ist's heller!« Es soll ein Witz sein, er schaut erwartungsfroh ins Publikum.

Ratlosigkeit. Keiner lacht. Nicht mal ein Schmunzeln. Also lacht Steinmeier selbst, ein viel zu lautes Verlegenheitslachen, das die Situation noch beklemmender macht.

Ihn als Spitzenmann in einen Bundestagswahlkampf zu schicken ist so, als besetzte man die Hauptrolle am Burgtheater mit einem, der nicht mal die Theater-AG besuchen mochte. Die Frage ist, ob ihm die Zeit gewährt wird, die er, der Spätstarter, brauchte, um aufzuschließen. Um das zu lernen, was er bislang nicht können musste.

Geduld ist ein seltenes Gut in der kurzatmigen Welt der Politik, einer Welt, deren Tempo sich in den vergangenen Jahren extrem beschleunigt hat, in der Politiker mit immer neuen Statements den Statements der Kollegen hinterherhecheln oder sich kirre twittern, einer Welt, der die Zeit zum Innehalten und zum Nachdenken abhandengekommen ist, weil sie nie ruhen darf. Wer sich wie Steinmeier bisweilen ihrem Tempo entzieht, wird schnell zum Sonderling.

Er sitzt im kleinen Flugzeug der »Windrose Air«, mit dem er durch den Wahlkampf düst, und reißt eine Tüte »Katjes-Kinder« auf. Dabei erzählt er fast feierlich, dass er Lakritz am leckersten findet, »wenn die Packung schon drei Monate offen ist und die Dinger so richtig schön trocken sind«.

Etwas später, als die Maschine gerade über dem Ruhrgebiet schwebt, stellt er seinem Medienberater Thomas Steg eine Frage: »Was hat der liebe Gott gesagt, als er das Ruhrgebiet baute?« Steg zuckt die Schultern. »Na, Essen ist fertig«, sagt Steinmeier.

Es müssen solche Momente sein, derentwegen seine Freunde und Kollegen beharrlich über den humorvollen Menschen Steinmeier reden, einen Mann, den der normale Deutsche nicht kennen kann. Der lockere Steinmeier bleibt auch in diesem Wahlkampf meist Verschlusssache, ihn gibt es nur »Unter drei«. So heißen in der Hauptstadt jene Runden, aus denen nicht berichtet werden darf. Wahrscheinlich darf man nicht mal den Essen-Witz zitieren.

Es gibt etliche Unter-drei-Menschen im Hauptstadtbetrieb, die sich Gefühle und Emotionen nur im geschützten Raum leisten, aber Steinmeier ist ihr Prototyp. Diese Panzerung ist eine seiner vielen Sicherheitsmaßnahmen, sie schützt vor Verletzungen, aber sie schafft auch ein öffentliches Bild, das nicht mit seiner Selbstwahrnehmung übereinstimmt. »Ich empfinde mich gar nicht als dröge«, sagt Steinmeier.

Die Frage ist, ob es so schlimm für ihn wäre, dröge zu sein? Ob er dann ein schlechterer Bundeskanzler wäre als Gemütspolitiker wie Helmut Kohl, Willy Brandt und Gerhard Schröder? Und hat nicht gerade Angela Merkel bewiesen, dass man auch emotionsfrei regieren kann?

Wenn Steinmeier bislang zum Volk gesprochen hatte, dann brauchte das Volk hinterher erst mal einen doppelten Espresso. Oder es war besoffen vor Sachlichkeit. Das ist die Kehrseite des Beamtischen, die Kehrseite der Nüchternheit. Ohne Leidenschaft und Pathos hätte Willy Brandt seiner Ostpolitik nie zu einer Mehrheit verholfen. Und die Wiedervereinigung wäre ohne den geschichtlichen Überschwang Helmut Kohls wohl anders verlaufen. Große Politik gelingt selten ohne Emotion.

Nüchterne Fachleute gibt es in jeder Regierung zur Genüge, sie sitzen in den Unter-, Zwischen- und Oberabteilungen, man nennt sie Beamte. Ein Regierungschef aber muss mehr leisten als seine Beamten, er muss das Volk begeistern können, nicht, um es zu unterhalten, sondern um zu überzeugen. Überzeugen aber ist nicht nur eine Frage der Argumente, sondern auch der Art und Weise.

Die Demokratie kann auch verdorren.

Deutschland hat unter Angela Merkel bereits vier Jahre in der Ausnüchterungszelle verbracht. Man kann nicht davon ausgehen, dass sich daran unter Steinmeier etwas ändern würde, auch wenn er sich in letzter Zeit bemüht, seinen Panzer für Augenblicke abzunehmen.

Nach einer Veranstaltung steht plötzlich eine Frau mit einem Blindenstock vor ihm, sie sagt, sie würde ihn gern kennenlernen. »Können Sie sich mal beschreiben«, fragt sie.

»Ja, also, ich komme aus dem Westfälischen, deshalb bin ich etwas stämmig«, sagt Steinmeier. »Etwas untersetzt. Nicht ganz dünn.« Die Blinde schmunzelt. »Meine Haare sind weiß, und ich hoffe, ich habe ein freundliches Gesicht. Ich bin jedenfalls trotz aller Probleme ein fröhlicher Mensch.«

»Ich würde Sie gern schärfer sehen«, sagt die Frau jetzt. »Darf ich Sie mal anfassen?« Steinmeier überlegt, er zögert. Er, der gern auf Distanz geht, soll sich vom Wähler ins Gesicht fassen lassen? Er, der immer die Kontrolle behalten will? Als er genug gezögert hat, stimmt er zu.

Die Frau tastet nun in seinem Gesicht herum, sie streichelt ihm über die Wangen, sie fährt mit ihren Fingern durch sein Haar, befühlt seine Ohren, streift die Augenbrauen entlang, entdeckt überrascht seine Brille, befingert die Nase.

»Sie haben aber 'ne kleine Nase.«

»Finden Sie?«

»Ja, is' wirklich so.«

»Nun gut.«

Am Ende bedankt sich die Frau, und Steinmeier fragt, ob ihr das etwas geholfen habe. »Oh ja, sehr«, sagt sie. Jetzt kenne sie ihn besser. Immerhin eine.

Um sich von Merkel, der Wesensverwandten, abzugrenzen, hat Steinmeier früh die Frage der Führungsstärke zum Wahlkampfthema erhoben. Dabei wirkt er selbst nicht unbedingt so, als treffe er gern Entscheidungen.

Wenn Journalisten ihm Fragen stellen, dann kann man zusehen, wie die Zeit verstreicht, dann wartet er oft so lange mit der Antwort, bis sie die Frage ein zweites Mal stellen, weil sie glauben, Steinmeier habe sie vergessen oder nicht gehört.

Es ist der Wille, nichts falsch zu machen, der hinter dieser Langsamkeit steckt, eine penible Form der Gewissenhaftigkeit, wie sie vielen Beamten eigen ist. Steinmeier flankiert sein Handeln gern durch möglichst viele Sicherheitsmaßnahmen. Vorsicht und Kontrolle können vor Schäden schützen, aber sie können auch Schaden anrichten.

Die Vorsicht sitzt mit am Tisch, als im Herbst 2002 die sogenannte Präsidentenrunde im Bundeskanzleramt über das Schicksal von Murat Kurnaz entscheiden soll. Zu ihr gehören die Leiter der Nachrichtendienste und des Bundeskriminalamts, es ist die geheimste Runde der Republik, und Steinmeier ist ihr Chef.

Die Amerikaner haben zwar kein offizielles Angebot zur Freilassung unterbreitet, aber es gibt deutliche Signale, dass Kurnaz bald freikommen könnte. Die Runde muss entscheiden, ob Deutschland bereit wäre, den Guantanamo-Häftling in diesem Falle aufzunehmen.

Sie verhängen eine Einreisesperre, auch Steinmeier ist dafür. Es ist eine bewusste Entscheidung, Kurnaz nicht nach Deutschland zu holen. Seine Chancen, entlassen zu werden, hat das nicht gerade erhöht. Kurnaz blieb fast vier weitere Jahre im Lager.

Steinmeier ist ein mitfühlender Mensch, kein Zyniker, er möchte niemandem weh tun, er bringt es nicht mal übers Herz, Ulla Schmidt rauszuschmeißen. Aber im Zweifel entscheidet er sich meist für die sichere, die risikoarme Variante.

So wurde Kurnaz zum dunklen Fleck in seinem Lebenslauf. Der Mann aus dem Käfig auf Kuba verfolgt ihn noch immer, wie ein bärtiges Gespenst aus seinem Vorleben.

Steinmeier hat einen Untersuchungsausschuss und viele Reporterfragen über sich ergehen lassen müssen. Sein Büroleiter glaubt, dass der Umgang mit dem Fall Kurnaz die Feuertaufe seines Chefs gewesen sei, der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Politiker. Steinmeier habe gesehen, dass es nicht schade, wenn man in so einer Situation stehe. »Als er da durch war, war er ein anderer Typ. Er ist durchs Stahlbad gegangen.«

Zum ganzen Bild gehört noch eine zweite Entscheidung aus dem Jahr 2002. Es ist der 19. Dezember, ein Donnerstagabend, als in einem Reihenendhaus im Zooviertel von Hannover das Telefon klingelt. Gerhard Schröder und seine Doris haben Freunde eingeladen, es soll ein Weihnachtsessen geben.

»Gerd, es ist riesiger Mist passiert«, sagt Steinmeier, der aus Berlin anruft. Schröder zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück, dort kann er rauchen. »Frag mich nicht, warum, aber mein Papier ist durchgesickert. Es steht morgen in der Zeitung.« Steinmeier klingt zerknirscht.

»Kanzleramt plant radikale Reformen« lautet die Schlagzeile des »Tagesspiegel« am folgenden Morgen. Verwiesen wird auf ein Strategiepapier, das von einer kleinen Gruppe entworfen wurde, ihr Chef ist Steinmeier. Das Papier kündigt Maßnahmen an, die »vor wenigen Monaten noch als Tabu galten«. Es enthält alles, was später die Agenda 2010 ausmachen wird.

Was Steinmeier an diesem Abend vor Weihnachten seinem Chef erzählt, ist nicht die ganze Wahrheit. Das Papier sei nicht zufällig in die Zeitung gefallen, man habe es selbst dort abgegeben, erzählen Steinmeiers engste Mitarbeiter. Steinmeier habe Fakten schaffen, eine öffentliche Erwartungshaltung erzeugen wollen, hinter die sich schwer zurückgehen ließe. Er habe seinen Kanzler festlegen, ihn unter Zugzwang setzen wollen. Schröder wusste von der Arbeit der Gruppe, aber er kannte das Papier noch nicht.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Schröder am Ende des Telefonats. Er sichert Unterstützung zu. 85 Tage später verkündet er vor dem Bundestag die Agenda 2010.

Es war ein mutiges Programm, die größte Reformanstrengung der letzten Jahrzehnte. Aber in gewisser Weise ist die mutigste Aktion des Frank-Walter Steinmeier auch der Grund für sein Leid in der Gegenwart.

Auf dem Marktplatz von Jena will er gerade die Folgen aus der Finanzkrise erläutern, »Kein Weiter-so!« ruft Steinmeier über den Platz, da erhebt sich ein Mann in Reihe vier von seiner Bierbank.

»Ihr seid schuld!«, brüllt der Mann, er ist so laut wie Steinmeier, auch ohne Mikrofon. Er schleppt einen sehr dicken Bauch mit sich herum, trägt kurze Hose, dünne graue Socken in braunen Sandalen und bezeichnet sich als enttäuschten Sozialdemokraten. Sein Kopf leuchtet vor Zorn.

»Gut, dass es einer hier weiß«, raunzt Steinmeier zurück. Er ist im Laufe des Wahlkampfs schlagfertiger geworden.

»Ihr habt doch die ganze Zeit regiert!«, brüllt der Mann und setzt sich wieder.

Kurz darauf greift Steinmeier den Wirtschaftsminister Guttenberg an, der wolle nämlich die Leiharbeit ausweiten.

»Ich fass es nicht«, brüllt der Mann. »So was Verlogenes! Wer hat die Leiharbeit denn eingeführt? Ihr wart das doch! Ihr Arbeiterverräter!« Es gibt Millionen Deutsche, die so denken wie der Mann mit dem dicken Bauch. Aber die meisten von ihnen schimpfen längst nicht mehr öffentlich, sie sind bei der Linken untergekrochen oder bleiben zu Hause. Auch am Wahltag.

Seitdem Steinmeier vor elf Jahren mit Schröder ins Kanzleramt eingezogen ist, hat die SPD schwer gelitten. Die Partei verlor das Vertrauen ihrer Kernklientel, sie verlor ein Drittel ihrer Mitglieder, sie verlor unzählige Posten in den Landtagen, Stadträten und Kreistagen. Selten hat sich eine Volkspartei in so kurzer Zeit selbst so heruntergewirtschaftet wie die deutsche Sozialdemokratie.

Frank-Walter Steinmeier ist Profiteur dieser Entwicklung, und er ist ihr Opfer - beides zugleich. Ohne die Krise der Sozialdemokratie, die auch das Spitzenpersonal ausdünnte, wäre er niemals Spitzenkandidat geworden. Er war eben der Beste, der übrig geblieben war.

Als Kandidat aber ist sein größtes Problem die eigene Vergangenheit. Sie verfolgt ihn in alle Winkel dieses Wahlkampfes. Hartz IV, die Rente mit 67, die Schere zwischen Arm und Reich, die Flexibilisierung der Finanzmärkte, all das haben Steinmeier und die SPD entweder angeregt oder zugelassen.

Sollte ausgerechnet er, der Erfinder der Agenda, seine erschöpfte und mitunter neurotische Partei in die Opposition geleiten, würde sich immerhin ein Kreis schließen.

Steinmeier ist inzwischen selbst ein wenig von seinen Reformen abgerückt, das macht die Sache mit der Glaubwürdigkeit nicht leichter. Er hat geschwiegen, als Kurt Beck das Arbeitslosengeld I für Ältere wieder verlängerte. Und er schweigt in gewisser Weise auch heute.

Der Kandidat war bemüht, im gesamten Wahlkampf das Wort »Agenda« zu vermeiden. Er redet lieber über »das, was wir damals in diesen Jahren gemacht haben«. Er weist darauf hin, dass die Ergebnisse »dieser vieldiskutierten Politik« sich sehen lassen können. Das schon. Den Rückgang um zwei Millionen Arbeitslose will er nicht Angela Merkel überlassen. Und doch hat Steinmeiers Umgang mit seiner Agenda etwas Verschämtes, Verdruckstes.

Sie dürften »ein Stück weit stolz« oder »auch ein bisschen stolz« sein auf diese Reformpolitik, ruft er den Genossen zu, aber sie dürfen nie richtig stolz sein. In seiner Sprache ist das schlechte Gewissen fest verankert.

Vielleicht müsste die SPD die Agenda-Jahre mal in Ruhe mit einem Therapeuten aufarbeiten. Sie müsste mit sich ins Reine kommen. Programmatisch. Personell. Rhetorisch. Erst wenn sie sich selbst wieder liebt, kann sie auch von anderen geliebt werden.

Das größte Problem seiner Kandidatur ist daher nicht Steinmeier selbst. Es ist der Zustand seiner Partei und die merkwürdige Koalition, auf die er setzt. Eine Ampelregierung, die die Liberalen ausschließen, ist seine einzige Kanzleroption, eine Machtperspektive im Irrealis.

Steinmeiers Ampel wäre zudem ein abenteuerliches Bündnis. Er müsste mit Liberalen und Grünen zwei Parteien bändigen, die sich als Hauptkonkurrenten verstehen. Er müsste eine FDP befriedigen, der in seinem Wahlkampf die Rolle des Bösen zukommt und deren Chef Guido Westerwelle bei Sozialdemokraten in etwa so beliebt ist wie Iwan der Schreckliche.

Dabei wäre Steinmeier vermutlich kein schlechter Kanzler. Wohl noch nie hat sich ein Mann um dieses Amt beworben, der schon vorher so viel vom Kanzlersein verstand wie er. Man müsste ihn nicht einarbeiten. Es gibt Menschen, die sagen, dass er sogar schon Kanzler gewesen sei, nur ohne Außentermine.

»Schröder war damals öfter mal derangiert«, berichtet einer, der das lange aus nächster Nähe beobachtet hat. »Er hatte Phasen großer Unlust und Lethargie. Frank war de facto der Regierungschef.«

Steinmeier hat mit der Agenda und jüngst mit seinem Deutschland-Plan gezeigt, dass er Konzepte für die Zukunft entwickeln kann. Man müsste sich weder vor einer Phase der Ideenlosigkeit noch der Sprunghaftigkeit fürchten.

Seine Arbeit als Außenminister weiß selbst Angela Merkel zu würdigen. Er war solide, ohne zu glänzen. Anders als sein Vorgänger Joschka Fischer hat er gar nicht erst versucht, die großen Krisenherde der Welt zu löschen. Er begnügte sich mit der Rolle des freundlichen Diplomaten, der hilft, wo er kann.

Er setzte ein paar Akzentchen, in der äußeren Energie- und der Kulturpolitik, schon lange ging es den Goethe-Instituten draußen in der Welt nicht mehr so gut wie jetzt. Vor allem aber gab er der größten Behörde der Republik das Gefühl, wieder gebraucht zu werden. Sollte er bald aus dem Amt scheiden, wird vor allem eines von ihm bleiben: die Erinnerung an einen netten Chef.

In Freiburg hat die Sonne bereits gute Nacht gesagt, als Steinmeier auf der Seebühne nicht nur als Außenminister und Kanzlerkandidat, sondern auch als »unser Vizekanzler« angekündigt wird. Es ist die Rolle, in die Steinmeier erst nach langer Anlaufphase gefunden hat. Als er sie im Herbst 2007 von Müntefering übernahm, wusste er nicht viel damit anzufangen. Erst seit Beginn der Finanzkrise erwachte auch der Vizekanzler in ihm.

Er steht im grellen Licht eines Theaterscheinwerfers und will dem Publikum erklären, was er alles gegen die Krise unternommen hat. Er nennt das Investitionsprogramm für die Kommunen, die Abwrackprämie, die Staatshilfen für Opel und für viele mittelständische Unternehmen.

»Wir haben uns da abgerackert, von der Union kam nichts«, ruft er. Die Genossen klatschen, Freiburg ist ein Heimspiel, die Tribüne quillt über an diesem Abend.

»Die Union ist zu einer Ich-auch-Partei geworden, mit einer Ich-auch-Kanzlerin.« Alle Vorschläge, die die SPD zur Abfederung der Krise gemacht habe, habe Merkel ganz einfach übernommen. »Das mag jetzt fast komisch klingen«, sagt Steinmeier, gewohnt vorsichtig, »aber ohne uns, ohne die SPD, sähe das Land jetzt anders aus.«

Die Ich-auch-Passage ist seine Lieblingsstelle im Manuskript. Sie ist ein wenig überzogen, aber es steckt ein wahrer Kern darin. Steinmeier hat in den Monaten der Krise tatsächlich Führungsqualitäten gezeigt, er war umtriebiger als Merkel. Allerdings hat er sich mit den Milliarden auch leichter getan als die Union, weil das Geldausgeben traditionell zu den Stärken der Sozialdemokraten gehört. Sie entwickeln da ungeahnte Kreativität.

Steinmeier würde wohl kein zweiter Agenda-Kanzler. Wollte er damals den Staat schlanker, effizienter, handlungsfähiger machen, setzt er inzwischen auf den kräftigen, leicht pummeligen Staat. Er ist da durchaus anpassungsfähig.

Am liebsten sitzt er im Kreis kluger Leute, stellt Fragen, hört zu und schreibt emsig mit. »Gerhard Schröder hat mir im Laufe der Jahre bestimmt 30 Kulis geklaut«, sagt Franz Müntefering. »Der hatte nie was zum Schreiben dabei.« Schröder habe sich etwas notiert, den Kuli eingesteckt und die Notizen vergessen. »Steinmeier schreibt sich alles auf. Bei dem kann man sich selbst Kulis leihen.«

Steinmeier wäre wohl stärker als seine Vorgänger ein Zuhörkanzler. Oft hat er sich in den vergangenen Jahren Expertenrunden ins Haus geladen, es ist eine wissenschaftliche Annäherung an die Probleme des Landes, wie ein ewiges Graduiertenkolleg.

Für die SPD, die emotionalste Partei Deutschlands, könnte dieser Regierungsstil schwierig werden. Sie begnügt sich ungern mit der Befriedigung des Verstands, sie will auch ihr Gemüt gekitzelt sehen. Auch deshalb war ihr Helmut Schmidt immer fremder als Willy Brandt, auch deshalb tat sie sich so schwer mit Steinmeiers Agenda.

Mit seinem wissenschaftlichen Ansatz hat er auch den Deutschland-Plan erarbeiten lassen, das einzige Konzept in diesem konzeptarmen Wahlkampf. Steinmeier hat sich Experten ins Amt geladen, hat seine Leute zur Recherche hinaus ins Land geschickt. Heraus kam ein 67 Seiten schweres Papier, aus dem der Fleiß triefte, das penibel auflistet, in welchen Branchen künftig wie viele neue Jobs entstehen könnten. Am Ende erinnerte es mehr an eine Abschlussarbeit als an ein Wahlkampfpapier.

Seine Berater mussten lange auf ihn einreden, dass die Ankündigung von vier Millionen neuen Arbeitsplätzen die Aufmerksamkeit für sein Konzept enorm erhöhen würde. Ihm wäre ohne die Zahl wohler gewesen. Auch gegen die griffige Formel »Deutschland-Plan« wehrte er sich bis zum Schluss. Er selbst fand den Namen zu anmaßend, er spricht noch heute von »meinem Papier mit dem Titel ,Die Arbeit von Morgen'«. Warum, fragen sich seine Berater bisweilen, ist der Mann nur so sperrig?

An einem Maiabend sitzt der Kandidat im Berliner Renaissance-Theater hinter einem Tisch und will aus seinem Leben lesen. Das Buch heißt »Mein Deutschland«. Bevor er mit dem Kapitel über seine Jugend beginnt, wendet er sich ans Publikum. »Sie sind alle freiwillig hier, Sie wissen, worauf Sie sich eingelassen haben.«

Ein jeder ist das Produkt seiner Umstände, und die Umstände im Lipperland sind durch und durch karg. Die Bäume und Felder, die Nachbarn, die ökonomischen Verhältnisse, der Humor, alles karg. Die Leute, unter denen Steinmeier aufwächst, behalten ihr Inneres im Inneren. »Ich mag die Menschen dort«, liest Steinmeier, »sie sind schnörkellos und aufrichtig.« Der Name seines Heimatorts wirkt wie ein Kondensat dieser Kargheit: Brakelsiek.

Wie Steinmeier während der Lesung in sein Buch starrt, hat es den Anschein, als langweile ihn das Vorgelesene selbst. Der emotionale Höhepunkt des Abends ist die Passage mit dem Bus, sie geht so: »Zweimal am Tag ging ein Bus. Auch dort, wo er hinfuhr, war nicht viel mehr los.« Niemand kann das lakonischer vortragen als Frank-Walter Steinmeier.

Wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer, deren Regierung er lange zusammenhielt, ist auch Steinmeier ein typisches Produkt der alten Bundesrepublik. Als die Studenten im Sommer 68 in den Städten die Verhältnisse tanzen ließen, stand Steinmeier in Brakelsiek und wartete auf den Bus. 1968 war er zwölf Jahre alt.

Nach dem Abitur im Lipperland flirtete Steinmeier mit einem Studium der Architektur. Er nahm dann aber Jura in Gießen, was in jeder Hinsicht die solidere, die sichere Variante war. Man kann nicht sagen, dass er es fortan eilig hatte.

Er verbrachte 14 Jahre in einer Gießener Wohngemeinschaft und schrieb eine Doktorarbeit mit dem schönen Titel: »Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit«.

Er liebäugelte mit einem Leben als Wissenschaftler, und vielleicht säße er noch heute gemütlich in Gießen, hätte ihn seine Freundin Brigitte Zypries nicht mit 35 Jahren nach Hannover gelotst. Ins Reich von Gerhard Schröder. Steinmeier erzählt heute offen, wie man damals über ihn geredet hat: »Der will nicht richtig raus ins feindliche Leben.«

Es war ein Satz, der lange Gültigkeit behielt. Noch heute stellt sich die Frage, ob die Macht gut aufgehoben ist bei einem, der nie nach ihr gestrebt hat.

Die wichtigste Entscheidung auf dem Weg zur Kanzlerkandidatur hat ein anderer für ihn getroffen. Gerhard Schröder sorgte im Herbst 2005 dafür, dass er Außenminister wurde. Es gab andere, die sich damals Hoffnungen gemacht hatten. Otto Schily etwa war richtig sauer, dass man ihn nicht gefragt hat, obwohl er doch, nach eigener Einschätzung, der ideale Kandidat gewesen wäre. Aber Schröder wollte Steinmeier, auch wenn der mal wieder zögerte und erst überzeugt werden musste. Vermutlich hoffte Schröder, dass seine eigene Kanzlerschaft in Steinmeier am ehesten fortleben würde.

Für Steinmeier war der Umzug ins Außenministerium eine erste Bewegung vom Beamten zum Politiker, ein Halbschritt, noch kein ganzer, denn ein Außenminister kann bis zu einem gewissen Grad Beamter bleiben. Steinmeiers bedächtige, ausgleichende Art war wie gemacht für den diplomatischen Dienst. Er wurde das, was Außenminister immer werden: beliebt. Diese Beliebtheit war das gewichtigste Argument für die Kanzlerkandidatur.

Die zweitwichtigste Entscheidung war die Frage der Kandidatur selbst. Auch das war eine schwere Geburt. Steinmeier hat noch zu einem Zeitpunkt mit sich gerungen, als in den Medien längst außer Frage stand, dass er Kandidat werden würde. Als man ihn schließlich überzeugt hatte, wollte er unbedingt vermeiden, als Kandidat von Kurt Becks Gnaden zu gelten. So nötigte er dem gestressten Beck dessen Erzfeind Müntefering als Wahlkampforganisator auf und ließ verbreiten, er habe beherzt nach der Kanzlerkandidatur gegriffen. Steinmeier hat Becks Sturz nicht fest einplanen können, aber er wurde billigend in Kauf genommen.

In dieser Phase, der Schwielowsee-Zeit, hat Steinmeier zum ersten Mal Härte gezeigt. Es war jener Schuss Unanständigkeit, den bislang noch jeder Politiker brauchte, um ganz nach oben zu gelangen. In dieser Hinsicht ähnelt die Politik dem Jagdsport; wer die meisten Geweihe an der Wand hängen hat, gilt als besonders fähig.

Kurt Beck ist Steinmeiers erstes Geweih.

Nach der offiziellen Nominierung zieht wieder viel Zeit ins Land, bis Steinmeier seine neue Rolle auch faktisch annimmt. Lange sieht es aus, als sei er mehr Außenminister als Kandidat, es dauert lange, bis er sich etwas traut, bis zarte Zeichen von Angriffslust erkennbar werden. Am Ende dieses zähen Prozesses steht Frank-Walter Steinmeier vor 7000 Menschen auf dem Marienplatz und sagt: »Guten Abend, München.« Er lächelt, es sieht fast aus, als freue er sich auf seinen Auftritt.

Es ist der Mittwoch vergangener Woche, nur noch elf Tage bis zur Wahl, seine Stimme klingt geschunden.

Wer seine ersten Redeversuche in diesem Jahr verfolgt hat, erkennt ihn kaum wieder. Er spricht kurze, verständliche Sätze, er ballt die Fäuste, lässt sie gegen das Pult wumsen, es wirkt annähernd kämpferisch. Er macht sich lustig über Merkels Tour in Konrad Adenauers Rheingold-Express, und bei manchen Sprüchen lachen die Leute sogar. Steinmeier ist kein Schröder geworden, aber er versprüht erste Funken von, nun ja, Leidenschaft.

Er ist vorangekommen auf seinem langen Weg vom Beamten zum Spitzenkandidaten, Steinmeier hat viel gelernt in diesem Wahlkampf. Inzwischen posiert er sogar freiwillig für Fotografen. Im TV-Duell war er immerhin etwas weniger schlecht als Merkel. Manchmal wirkt er tatsächlich schon wie ein echter Kanzlerkandidat.

Er benötigt eben Zeit, er hat seine eigene Geschwindigkeit, wie John Franklin, der Kapitän aus seinem Lieblingsbuch. Ein einzelner Wahlkampf ist vermutlich viel zu kurz.

Zur Ausgabe
Artikel 4 / 92
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten