Das Mädchen, das diesmal tot ist, hat ganz gewiß nicht sterben, sondern überleben wollen. So wird denn darum gestritten, ob dieses Mädchen wirklich sterben mußte. »Uns blieb keine andere Wahl«, heißt es: Durch Maßnahmen der Exekutive (in diesem Fall also durch Unterlassung von Schieß-Maßnahmen) dürfe keineswegs der Eindruck entstehen. »daß Gewaltverbrechen unverfolgt bleiben könnten«.
Auch wird vorgebracht, daß jenes Verbrechen, gelegentlich dessen das Mädchen zu Tode kam, immerhin mit einer für die Bundesrepublik beispiellosen Kaltblütigkeit versucht worden sei.
Sind jedoch Verbrecher. deren Tatplan die Geiselnahme als Voraussetzung für den Erfolg enthält, kaltblütig?
Verbrecher, die als Voraussetzung für den Erfolg ihres Tatplans eine Geiselnahme einsetzen, belasten sich, ob sie nun die Entlassung oder Tötung der Geiseln zu gegebener Zeit einplanen, mit einer Hypothek. die sie nicht kaltblütig. sondern wirren Sinns riskieren.
Gewalt bedroht, in der Reihenfolge des Ranges vom geringsten zum höchsten Wert, das Eigentum. die Freiheit und das Leben (- auch darüber kann gestritten werden: ob nicht die Freiheit über das Leben zu stellen sei; doch wir meinen, daß es nur wenigen gegönnt ist, die eigene Person -- bewußt -- der Freiheit zu opfern).
Gewalt bedroht uns, die Mehrheit in ihrer Beschränkung, vor allem dadurch, daß sie uns in die Versuchung zu einer Gegengewalt führt. die weit über die uns angedrohte Gewalt hinausgeht.
Die Androhung von Gewalt führt uns mitten in die Versuchung -- und fast unwiderstehlich -- in die Gefahr hinein, noch gewalttätiger zu reagieren, als wir gewalttätig angegriffen werden.
Genau in diesem Punkt jedoch versagen wir: werden wir mitschuldig an der Gewalt, weil diese uns zu allem zu ermächtigen scheint.
Gewalt, so hätten wir zu bekennen, ist nicht nur im Attentäter, der uns bedroht: Gewalt lauert auch in uns selbst, den vom Attentat Bedrohten. In München drängten sich Tausende um den Tatort drohender und zur Antwort drängend bereiter, überschießender Gewalt.
Nicht allein die Polizeibeamten. wir alle haben geschossen Wir alle, die Mehrheit. meinen, daß die Gegengewalt die Gewalt übertreffen darf. Polizeibeamte haben ein Kraftfahrzeug durchlöchert, in dem ein Toter und eine Todgeweihte saßen. Nicht Kaltblütigkeit, sondern Panik reagierte auf den Angriff der panischen Gewalt.
Der Bundespräsident. er mag unserer sein und nicht ihrer, doch er ist unser Bundespräsident (und wir alle unterwerfen uns doch den demokratischen Regeln), hat 1968, als Dutschke zerschossen und aus dem »langen Marsch« geworfen wurde, davon gesprochen, »daß in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn (den mit dem Zeigefinger Richtenden) selbst zurückweisen« --
Nun richten wir also den Zeigefinger wider die Gewalt, auch auf jene der Banküberfälle vom nächsten Tage, sogar in Ostfriesland. Vor dem Mädchen, das ganz gewiß nicht sterben, sondern überleben wollte. starb ein anderes Mädchen, das zu wissen wähnte, daß es -- gegebenenfalls -- nicht überleben, sondern sterben wollte. Ober dieses Mädchen hat ein Psychologe in einer Sonntagszeitung. sein Name ist sowenig bedeutsam wie der des Blattes, dem seine Meinung genehm war, anhand von drei Photos psychogrammatische Erkenntnisse geäußert. Da hieß es, auf der Basis von drei Photos (und allein die Münchner »Abendzeitung« schrie deswegen vergeblich auf): »Besonders typisch (für eine »vitale und kämpferische Persönlichkeit") der stark ausgebildete Unterkiefer und die vorstehenden Jochbeine. Die in verschiedene Richtungen blickenden Augen verraten zwiespältige. schizoide Züge.«
Den Psychologen und seine Sonntagszeitung (Sonntag ...) hat kein Aufschrei der Gemeinschaft hinweggefegt, in deren Namen Recht gesprochen und gegebenenfalls geschossen wird.
Wir alle, und nicht nur Polizeibeamte oder Kriminelle (mit dem Rücken zur Wand), haben in München das Mädchen Ingrid Reppel, 19, erschossen.