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Drei Gräber bei Wienhausen

aus DER SPIEGEL 21/1947

Ein Schienenauto der Reichsbahn fährt in langsamem Tempo die eingleisige Strecke der Heidebahn Celle-Gifhorn ab. Nach 15 Kilometer erreicht es das Dorf Wienhausen. Die blonde Frau im Innern des Fahrzeugs schaut sich aufmerksam die Gegend an. An einer Waldlichtung ruft sie: »Hier sind die Gräber!«

Etwas abseits vom Bahndamm, eineinhalb Meter tief in der Erde, stößt das Suchkommando auf 15 verweste Leichen. Die Kleidung ist noch gut erhalten. Deutlich erkennbar ist da das blau-weiße Zebramuster: KZ-Häftlinge.

Die Toten sind nicht mehr zu identifizieren. Bei der Durchsicht der Taschen kommen Eßlöffel, Draht, Bindfaden und ein Paar Strümpfe zutage. Vor der Bestattung auf dem Celler Friedhof untersuchen zwei Aerzte die Leichen. Sie stellen bei einer Person Genickschuß und bei einer zweiten eine Schädelverletzung fest.

Am 6. April 1945 mußte ein Transportzug, der 5000 Häftlinge des Lagers Dora bei Nordhausen nach Belsen bringen sollte, am Signal vor Wienhausen halten. Der Zug hielt noch oft auf dem Wege, es wurden Tote hinausgeworfen und noch Lebende gemordet.

Zwei Tage sollte die Fahrt dauern, und für zwei Tage war Verpflegung ausgegeben worden. Sechs Tage und sieben Nächte fuhren die hungernden und frierenden Häftlinge bereits in offenen Güterwagen. In jedem Wagen waren zwei SS-Wachen. Sie schossen auf Zivilpersonen, die versuchten, Lebensmittel in den Zug zu werfen.

Bei jedem Aufenthalt wurden Tote vergraben. Auf der Waldlichtung bei Wienhausen wurden auch drei Gräber gegraben. Etwa 50 tote Häftlinge wurden in die Gruben geworfen. Etliche sollen sogar noch am Leben gewesen sein. Alles dies bot einen grauenvollen Anblick.

»Nach zwei Stunden fuhr der Zug weiter«, sagte die 26jährige Irma Schulte, die dem Suchkommando die Grabstelle zeigte. Sie und ihre 13 Kameradinnen waren die einzigen Frauen im Transportzug.

Die 14 waren die schönsten Frauen in Auschwitz. Dort wurden sie auf Befehl des Lagerkommandanten ausgewählt und in ein Bordell für Häftlinge gesteckt. Jede Frau mußte pro Abend vier Männer empfangen. Kapos, Blockälteste und Häftlinge mit Funktionen durften das Bordell betreten.

Der Kommandant hatte den Frauen versichert, daß sie nach einem halben Jahr aus dem Konzentrationslager entlassen würden.

Irma Schulte betreute die Unglücklichen als Blockälteste. Sie berichtet, daß jede der Frauen ein eigenes Zimmer bewohnen durfte, ein schneeweiß bezogenes Bett hatte und Kleider und Schmuck bekam.

Das Bordell war von Auschwitz nach dem Lager Nordhausen verlegt worden und sollte dann in Belsen etabliert werden. Frauen, die schwanger wurden, mußten sich im Lazarett einem ärztlichen Eingriff unterziehen.

»Hier muß es sein« Eine grausige Erinnerung

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