TUNNEL-FILM Drei kassierten
Vier Monate lang wühlten sie sich einträchtig fünf Meter unter Berlins Oberfläche durch den märkischen Lehm. Im fünften Monat zerstritten sie sich: Die stärkste Tunnelbauer-Brigade in Westberlin zerfiel, weil sich ihre Mitglieder - zwei italienische und achtzehn deutsche Studenten - nicht über den Punkt einigen konnten, an dem das gute Werk aufhört und das gute Geschäft beginnt.
Die Zwietracht brach aus, als den meisten der Stollenbohrer am vorletzten Wochenende bei der Zeitungslektüre Zweifel an der Lauterkeit ihrer drei Anführer kamen. Die drei Vorarbeiter hatten, ohne ihre Untergrund-Kommilitonen zu informieren, der amerikanischen Fernsehgesellschaft »National Broadcasting Company« (NBC) erlaubt, Bau und Betrieb eines von der Gruppe gemeinsam vorgetriebenen Fluchttunnels zu filmen.
Die NBC verdankte ihren ersten Dokumentarfilm über eine Mauerunterquerung dem italienischen Kunst-Eleven Luigi Spina, dem italienischen, Ingenieur-Studenten Domenico Sesta und dem deutschen Kommilitonen Wolf Schrödter. Die geschäftstüchtige Dreiergruppe kassierte für die Filmrechte von den amerikanischen TV-Leuten - nach bisher nicht dementierten Angaben - 30 000 Mark.
Die 17 subalternen Tunnelgräber waren erbost: Als Hiwis des italienisch-deutschen Direktoriums hatten sie monatelang unentgeltlich in Zwölf-Stunden-Schichten Lehm gekratzt - immer in dem Glauben, ihre Gruppe arbeite allein unter humanitären, nicht, aber unter pekuniären Gesichtspunkten. Sie hatten nicht einmal Verdacht geschöpft, als gegen Ende des Tunnelbaus zwei Kameraleute die unterirdische Röhre auszuleuchten und abzufilmen begannen.
Die Erklärung, die das Führungs-Kollektiv für die Filmerei gab, erfüllte die Stollenbauer sogar mit einem gewissen Stolz; Die Aufnahmen, so hieß es, dienten allein der privaten Dokumentation, denn immerhin sei der Tunnel das bisher längste und perfekteste Bauwerk seiner Art.
Die Bauherren hatten nicht übertrieben. Tatsächlich Ist bislang kein Fluchtstollen ähnlicher Qualität in Ulbrichts Reich gebohrt worden. Schon im Februar dieses Jahres hatten die beiden Italiener und ihr deutscher Freund mit der Planung begonnen. Nach sorgfältigem Kartenstudium und mehreren Lokalterminen fanden sie die passende, gegen Einsicht geschützte Stelle: ein Grundstück auf der Westseite der Bernauer Straße.
Anfang Mai tat die inzwischen auf 20 Mann angewachsene Gruppe den ersten Spatenstich. Ein fünf Meter tiefer Einstiegschacht wurde ausgehoben und von dessen Sohle aus der Tunnel unter der Bernauer Straße und dem angrenzenden Häuserblock hindurch 90 Meter weit in den Sowjetsektor vorgetrieben.
Dank reichhaltigem Gerät konnte der Stollen-Stoßtrupp risikolos arbeiten. Mit einem elektrischen Handbohrer wurde der harte Lehm gelöst und in selbstgebauten Loren über ein bei einem Altwarenhändler erstandenes Feldbahngleis abgefahren. 250 Tonnen Erdreich wurden auf diese Weise bewegt. 20 Tonnen Holz stützten die insgesamt 126 Meter lange Tunnelröhre ab.
Eine selbstgebastelte Belüftungsanlage und elektrisches Licht erleichterten den Vortrieb. Außerdem montierte der Bautrupp eine elektrische Pumpanlage, die dreimal mit Erfolg bei Wassereinbrüchen arbeitete. Gesamtkosten, die zum Teil durch das Honorar der NBCLeute gedeckt wurden: annähernd 15000 Mark.
Nach viermonatiger Bauzeit war der Stollen fertig. Am 14. September um 18 Uhr krochen die ersten Flüchtlinge gen Westen - durchweg Freunde und Verwandte der. Tunnelbau-Mannschaft, deren Mitglieder größtenteils selbst erst nach dem 13. August 1961 nach Westberlin gekommen waren.
Als tags darauf gerade der letzte der 29 Tunnelbenutzer im Westberliner Wedding angelangt war, machte ein Wassereinbruch den Schacht unpassierbar. Auch die Pumpen vermochten den Fluchtweg nicht mehr zu retten.
Die Tunnelbauer waren dennoch mit dem Erfolg ihres unterirdisch verbrachten Semesters zufrieden: Sie hatten die größte Flüchtlingsgruppe nach Westberlin gebracht, die jemals durch einen Tunnel unter der Mauer hindurchgeschleust wurde.
Nicht minder befriedigt zeigte sich der Westberliner Senat. Innensenator Heinrich Albertz lobte: »Die jungen Leute, die daran mitgewirkt haben, verdienen unsere höchste Anerkennung.«
Vier Wochen später allerdings sah sich der Senator zur Teilrevision seiner Anerkennung genötigt. Ebensowenig wie die Mehrheit der Stollengräber war die Westberliner Verwaltung über die Filmaufnahmen und die Honorarzahlung der NBC an die drei Obersappeure informiert worden.
Fluchthilfe auf kommerzieller Basis aber gilt im Schöneberger Rathaus nicht nur aus moralischen Gründen als verwerflich. Der Senat befürchtet politische Rückwirkungen.
Unfroh las die Brandt-Administration
daher einen Bericht der Londoner »Times« aus Washington, in dem gemeldet wurde, daß gewerbsmäßig betriebene Mauerschleusen in den USA zunehmend als Belastung der westlichen Reputation empfunden werden: »Zum Beispiel werden die Menschenschmuggler ... hier jetzt als gekaufte Agenten betrachtet, die ein lukratives Geschäft betreiben und nicht notwendigerweise vom Geist der Freiheit inspiriert sind.«
Das Blatt bezog sich dabei auf die Tätigkeit organisierter Banden, die Flüchtlingen Kopfprämien bis zu 5000 Mark abnehmen - ein Verfahren, demgegenüber das Inkasso des Tunnel-Triumvirats bei der NBC sich vergleichsweise harmlos ausnimmt.
Das amerikanische Magazin »Time« hatte schon Anfang Oktober Praktiken des Berliner »Tunnelgeschäfts« beschrieben, in dem unter anderen ein ehemaliger Schlachter - genannt »Der Dicke« - beträchtliche Umsätze erziele. Die Kopfprämie des »Dicken«, der freiwillige Studenten kostenlos für sich arbeiten lasse, liege bei 1000 Mark für jeden befreiten Ostdeutschen.
Sorgte sich die »Times": »Kann vom Westen erwartet werden, daß er dieses Geschäft verteidigt?«
Angesichts dieser Frage griff Heinrich Albertz Anfang voriger Woche dankbar ein Manifest auf, in dem die 17 über ihre Anführer verärgerten Tunnelgräber proklamieren: »Wir distanzieren uns nachdrücklich von allen Leuten, die aus dem Versuch, Flüchtlingen zu helfen, ein lohnendes Geschäft machen.«
Der Senator hofft, dieses Manifest werde den Eindruck zerstreuen, daß Fluchthilfe in Berlin überwiegend nur noch aus finanziellen Gründen betrieben wird. Zugleich hieß Willy Brandts Stadtregierung die per Luftpost an den deutschen Botschafter in Washington gerichtete Bitte der 17 Tunnelbauer gut, der Bonner Diplomat möge sich bei der NBC dafür einsetzen, daß die Sendung des Tunnelfilms im Hinblick auf mögliche Repressalien der Sowjetzone unterbleibe.
Die New Yorker Gesellschaft allerdings ließ erklären, der 31. Oktober liege als Sendetermin fest.
Flucht-Tunnel Bernauer Straße: Wer andern eine Röhre grabt...
Innensenator Albertz
... soll daran nicht verdienen