ÖSTERREICH / KRIEGSVERBRECHER Drei Minuten pro Opfer
Eine katholische Zeitung pries den Menschenraub. »Die Israelis gingen ihren Henker Eichmann von dort holen, wo er war, und brachten ihn vor das Gericht ihres Volkes«, erinnerte das Brüsseler Blatt »La Libre Belgique« seine Leser. »Aber uns Belgiern«, bedauerte die Zeitung, »hat es ja schon oft an Entschlußkraft gefehlt.«
Der Mann, den »Libre Belgique« gern heimholen möchte, ist Robert Jan Verbelen, 54, Ex-Sturmbannführer der flämischen SS. 1947 hatte ihn ein belgisches Gericht in Abwesenheit wegen 10lfachen Mordes zum Tode verurteilt. Ende 1965 sprach ihn ein Wiener Gericht frei:
Belgiens Außenminister Spaak zitierte Österreichs Botschafterin Johanna Monschein zu sich, um ihr die »Überraschung und Erregung« Belgiens auszudrücken. Der belgische Botschafter Colot protestierte bei der Wiener Regierung. Nach einer Sondersitzung drückte das gesamte belgische Kabinett seine »Mißbilligung« über den Verbelen-Freispruch aus.
In Antwerpen zerbarsten die Fensterscheiben des österreichischen Konsulats unter den Steinwürfen von Demonstranten. Der Österreichischen Botschaft in Brüssel und der österreichischen Vertretung bei der EWG wurden Sprengstoffanschläge angedroht. In Wien gingen Widerstandskämpfer auf die Straße. Brüssels »Le Soir« befand, die österreichische Justiz habe sich »in den Augen der zivilisierten Welt entehrt«. Und die »Haagsche Courant« erklärte Österreich zum »Paradies für Kriegsverbrecher«.
Nur in den ersten Nachkriegsjahren hatten eigens eingesetzte »Volksgerichte« österreichische Kriegsverbrecher zu schweren Strafen verurteilt. Aber schon damals wurde der Wiener Gestapochef Dr. Otmar Trnka, der seinen Namen unter Hitler zu »Trenka« aufgenordet hatte, nur mit 18 Monaten Kerker bestraft. Als die Widerstandsbewegung protestierte, bekam er in einem zweiten Prozeß fünf Jahre, brauchte aber nur zwei Drittel abzusitzen.
Nach dem Abschluß des Staatsvertrags ließen die Sowjets über hundert österreichische Kriegsverbrecher unter der Auflage heimkehren, daß ihnen in Österreich der Prozeß gemacht werde. Fast alle Heimkehrer wurden jedoch begnadigt, ordentliche Verfahren nur gegen drei eröffnet:
- Leopold Mitas, Schutzpolizei-Kommandeur im Getto Borislaw (Ukraine), wurde zu Lebenslänglich verurteilt - aber schon nach zwei Jahren begnadigt.
- Mitas-Gehilfe Heinrich Poll bekam
20 Jahre, wurde aber nach einem Jahr freigelassen.
- Mitas-Gehilfe Gabriel erhielt Lebenslänglich; in seinem Prozeß waren Mitas und Poll zur Überraschung der Öffentlichkeit bereits wieder als freie Männer im Zeugenstand erschienen, und offenbar führte der anschließende Proteststurm von NS-Gegnern zu dem harten Urteil.
Ende der fünfziger Jahre lösten deutsche NS-Prozesse Ermittlungen gegen etwa tausend Österreicher aus, weitere Verfahren folgten dem Eichmann-Prozeß.
Aber die Ermittlungen kamen kaum voran, nur wenige aufgespürte Kriegsverbrecher wurden inhaftiert. Gottfried Meir, Kompanieführer in der Leibstandarte-SS »Adolf Hitler«, von Italienern zu lebenslänglicher Haft verurteilt, weil unter seinem Kommando am Lago Maggiore eine jüdische Familie erschossen und in einer Zentralheizung verbrannt worden war, ist Schuldirektor in Kärnten. Sieben Deutsche, die am Lago Maggiore Juden mordeten, sind in der Bundesrepublik inhaftiert. Dreißig zum Teil einflußreiche Angehörige des Auschwitz-Wachpersonals, darunter drei Lagerärzte, leben im glücklichen Österreich ungestört.
Und wenn es zu Prozessen kam, so urteilten oft Geschworene mit eigener Vergangenheit über Untaten aus der NS -Zeit. Österreichs Eichmann-Jäger Simon Wiesenthal: »Es gibt heute kaum eine einzige österreichische Familie, die in der engsten Verwandtschaft oder Freundschaft nicht mindestens einen Nazi hatte.« Und: »In Österreich wird nur eingeseift, aber nie rasiert.«
Denn Österreichs regierende Koalitionsparteien - die konservative Volkspartei und die Sozialisten - hatten mit Rücksicht auf die große Zahl ehemaliger Hitler-Anhänger unter den Wählern frühzeitig ihren Frieden mit den Nationalsozialisten gemacht.
Die meisten Nazi-Richter und Staatsanwälte blieben im Dienst oder wurden bald wieder eingestellt (SPIEGEL 44/ 1965). Geschworene bei NS-Prozessen werden nicht nach ihrer NS-Vergangenheit befragt. Als aber in einem Kriegsverbrecherprozeß ein Geschworener mosaischen Glaubens auftauchte, wurde er wegen Befangenheit abgelehnt. So kam es in Österreich zu folgenden Urteilen:
Richard Hochrainer, bei seiner Verhaftung Gemeinderat der rechten »Freiheitlichen Partei« im salzburgischen St. Michael, wurde 1961 wegen eines nach Kriegsende begangenen Mordes an neun jüdischen Zwangsarbeitern zu sieben Jahren Kerker verurteilt, in zweiter Instanz aber freigesprochen.
Franz Murer, einst Judenreferent im Gebietskommissariat Wilna (Beiname: »Henker von Wilna"), wurde von einem Grazer Geschworenengericht 1963 freigesprochen, obwohl im Wilnaer Getto von 80 000 Juden nur wenige hundert überlebt hatten. Der freigesprochene Hochrainer holte den freigesprochenen Kameraden Murer, der es zum Obmann der Bezirkslandwirtschaftskammer Liezen (Steiermark) gebracht hatte, mit Mercedes und Blumen vom Gericht ab.
Das Wiener Oberste Gericht gab zwar später einem Einspruch des Staatsanwalts statt, doch soll gegen Murer nur wegen eines einzigen Mordfalls noch einmal verhandelt werden.
1964 stand Eichmanns Transportleiter Franz Novak vor Gericht. Er hatte Transporte mit 1,7 Millionen Juden für die Endlösung zusammengestellt - und dies gestanden. Das Urteil lautete auf acht Jahre Gefängnis wegen »öffentlicher Gewalttätigkeit«. Simon Wiesenthal: »Drei Minuten pro Opfer.« Der Staatsanwalt legte gegen das milde Strafmaß Berufung ein, die Wiener Generalprokuratur annullierte sie. Hingegen gab der Oberste Gerichtshof einer Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten statt.
Zweieinhalb Jahre bekam Anfang 1965 Dr. Erich Rajakowitsch, als SS -Obersturmführer einst Freund Adolf Eichmanns und zeitweilig Leiter des Judenreferats in den besetzten Niederlanden. Er hatte Deportationsbefehle für holländische Juden unterschrieben. Seinem Urteil lag der Paragraph 87 des österreichischen Strafgesetzbuches zugrunde, der »boshafte Sachbeschädigung und absichtliche Gefährdung von Menschenleben« ahndet.
Da Rajakowitsch zwei Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatte, konnte er Ende Dezember 1965 bereits als Zuschauer zum Verbelen-Prozeß kommen.
Der Belgier Robert Jan Verbelen war 1940 der flämischen SS und der unter NS-Fittichen gegründeten flämisch-nationalistischen Vereinigung »De Vlag« (Die Fahne) beigetreten. Motto des Vereins: »Bedingungslose Treue zum Nationalsozialismus, zum Germanischen Reich und zum Führer Adolf Hitler.«
Als belgische Partisanen 1943 mit Überfällen auf Wehrmachtsangehörige und Kollaborateure begannen, organisierte Sturmbannführer Verbelen unter flämischen SS-Männern Terror- und Mordkommandos. Über Verbelens Vergeltungsmethoden berichtete der New Yorker »Aufbau":
»Sind Sie Rechtsanwalt?« fragte Verbelen einen Verhafteten. Der bestätigte es durch Kopfnicken. »Also Intelligenzbestie, erschießen!« Ein anderer war Arbeiter. »Bolschewistenschwein, erschießen!« Ein Opfer war Wallone. »Flamenmörder, erschießen!«
Als der flüchtige Verbelen 1947 von einem Brabanter Gericht zum Tode verurteilt wurde, arbeitete er unter dem Decknamen »Herbert« als Agent der amerikanischen Spionageabwehr CIC in Österreich. Verbelen: »Ich habe 3322 Agentenberichte über die Sowjet-Spionage in Österreich unterschrieben.«
Nach dem Abzug der Amerikaner nahm Österreichs Staatspolizei den Agenten in ihre Dienste. Zur Belohnung erhielt er 1959 unter seinem wahren Namen die österreichische Staatsbürgerschaft und, wie er sich rühmt, mehrere Belobigungen der österreichischen Innenminister Helmer und Afritsch.
Als die internationale Widerstandsunion 1962 einen gewissen »Jean Marais« zu identifizieren suchte, der in neonazistischen Organen Artikel geschrieben hatte, entdeckte sie, daß Jean Marais Jan Verbelen war. Der Flame wurde verhaftet, als neuer Bürger Österreichs aber nicht an Belgien ausgeliefert.
Als nach dreieinhalbjähriger Untersuchungshaft am 29. November der Prozeß begann, erklärte sich Verbelen in einer vielstündigen Eröffnungsrede für »nicht schuldig«. Er beteuerte, er habe »als Offizier und als Flame stets nur meine Pflicht getan«.
Peinliche Pannen störten den Prozeßverlauf. Die erste Dolmetscherin für Französisch war, wie sich nach etlichen fruchtlosen Verständigungsversuchen herausstellte, schwerhörig. Die erste Dolmetscherin für Flämisch entpuppte sich als einstige Sekretärin des in Nürnberg als, Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilten NS-Reichskommissars für die Niederlande, Seyß-Inquart. Ein Ex-Jesuitenpater aus Belgien stimmte im Zeugenstand plötzlich flämische Kampflieder an.
Verbelen-Verteidiger Dr. Erich Führer, der einst Anwalt des nationalsozialistischen Dollfuß-Mörders Planetta und später NS-Mitglied und SA-Funktionär war, brachte als Plädoyer eine seiner in Wien berühmten »Führerreden"*.
Über sieben Stunden lang verglich er Verbelens Taten mit Partisanenkämpfen in Jugoslawien, Korea und Vietnam, erinnerte an den Freispruch der Südtirol-Dynamiter in Graz und rief den Geschworenen zu: »Was für die (noch im Amt befindlichen) österreichischen (Nazi-)Richter recht ist, muß für Verbelen billig sein.«
Die Geschworenen billigten dem SS -Freiwilligen Befehlsnotstand zu. Er wurde freigesprochen und konnte, von seiner jubelnden Lebensgefährtin Thusnelda Bankhofer abgeholt, in die gemeinsame Gemeindewohnung nach Wien-Döbling zurückkehren.
* Der ehristlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß wurde am 25. Juli 1934 Im Wiener Bundeskanzleramt von nationalsozialistischen Putschisten erschossen. Der Mörder Otto Planetta wurde gehenkt.
Demonstration gegen Verbelen-Freispruch in Wien: »In Österreich wird nur eingeseift...
Freigesprochener Verbelen, Anwalt Führer ... aber nie rasiert«
Eichmann-Transportleiter Novak, Judenreferent Rajakowitsch vor Gericht in Wien: »Paradies für Kriegsverbrecher«?