ENGLAND Drinnen eiskalt
Evel Knievel, der Welt bekanntester Stuntman, hielt, bevor er sich auf sein schweres Motorrad schwang, eine Rede. Obwohl er kein Politiker sei und es auch »niemals sein« werde, beschwor der Amerikaner über 60 000 Briten im Londoner Wembley-Stadion, sie sollten in Europa bleiben, »denn wir brauchen England in Europa«.
Die Menge pfiff und johlte. Sie wollte für ihr Eintrittsgeld keine Sprüche, sondern sehen, wie Knievel sich die Knochen bricht. Das tat er denn auch. Bei dem Versuch, von einer Rampe mit einer Anfahrtgeschwindigkeit von 170 Stundenkilometern über 13 nebeneinandergestellte Busse zu springen, stürzte Knievel mit seiner 750er Maschine beim Aufsprung, brach und quetschte sich allerlei.
Ex-Beatle Paul McCartney machte es sich leichter. Sein Pressemanager rief einen Reporter an, der Sänger habe etwas zu Europa zu sagen. Und das hörte sich dann so an: Der Gemeinsame Markt sei so etwas wie früher die Beatles-Partnerschaft. »Und wenn ich damals einen Hit komponierte, mußte ich teilen, mit den anderen drei, mit dem Manager. Ergebnis: Keiner bekam wirklich etwas. Jetzt, da ich allein bin, kann ich meine ganzen Einnahmen behalten -- mir geht es jetzt viel besser.« So sei es wohl auch mit England.
Wie es wirklich sein wird mit England, falls es in der EG bleibt, oder auch, wenn es austreten würde, kann heute kein Brite mehr wissen, hätte er auch den besten Willen, die Argumente Pro und Kontra zu wägen. Denn 15 Jahre EG-Kampf und das Trommelfeuer vor dem Referendum wirken wie eine Betäubung. Zum erstenmal in der britischen Geschichte halten die Briten überhaupt eine Volksabstimmung ab, zweieinhalb Jahre nach ihrem Beitritt müssen sie am Donnerstag unwiderruflich entscheiden, ob sie zu Europa gehören oder sich auf ihre Insel zurückziehen wollen. Der Taxifahrer in London, der Rentner in Manchester, der Fischer in Aberdeen können eigentlich nur noch glauben, daß sie Chaos und Katastrophe wählen, wofür immer sie sich entscheiden.
Ein Volk von Tagelöhnern. ausgebeutet von multinationalen Konzernen. durch Massenarbeitslosigkeit auf Jobsuche zum Kontinent getrieben, die Landwirte von deutschen und französischen Bauern zum Selbstmord gedrängt, das altehrwürdige Parlament von Westminster machtlos den Intrigen der wuchernden Brüsseler Bürokratie ausgeliefert -- so malen Englands EG-Gegner wie der Industrieminister Wedgwood Benn die Zukunft des Landes in der Europäischen Gemeinschaft an die Wand. Was Napoleon und Hitler nicht vermochten, die Insel zu überrennen, dazu setzten nun die Eurokraten an.
Kaum weniger leidenschaftlich die Pro-Europäer: Wenn England nicht in Europa bleibe, verzichte es auf seine Zukunft. Ein Austritt sei ein Akt der Feigheit. England werde zu einem Land, mit dem man keinen Vertrag mehr schließen könne, zu einem kleinen, verelendenden Eiland. Es verzichte auf Milliarden, die Europa zu geben bereit sei, auf einen Markt von über 200 Millionen Menschen für seine Produkte. Schlicht: England würde untergehen.
Dergleichen prasselt seit Wochen auf die Briten nieder, in allen Zeitungen, stundenlang täglich im Fernsehen, in 22 Millionen Postwurfsendungen der Regierung, in Kabarett und Kino.
Und wer da nicht alles sein Urteil über die EG zum besten gibt: Mark"s and Spencer, die Warenhauskette, findet Europa prima und gewährt ihren Angestellten zur Abstimmung arbeitsfrei. Der Präsident des Verbandes der Einzelhändler hingegen sieht »fünf Millionen britische Händler wie von Bulldozern zermalmt«. Dr. Coggan. der Erzbischof von Canterbury, mahnte die Gläubigen. mehr von Beiträgen zu Europa als von Profiten aus Europa zu sprechen. Barbara Castle, Sozialministerin im Labour-Kabinett des Pro-Europäers Wilson, warnte im Fernsehen: »Manche meinen, es werde kall für uns außerhalb Europas sein. Was glauben Sie. wie eiskalt es für uns in Europa sein wird.«
Kaum jemand in England zweifelt dennoch daran, daß die Briten mehrheitlich mit Ja stimmen werden und daß Millionen potentielle Nein-Wähler gar nicht Europa treffen wollen. »Wir werden mit Nein stimmen, aber nicht weil wir gegen Europa etwas haben, wir wollen es nur den verdammten Engländern zeigen«, argumentiert etwa ein schottischer Nationalist.
Viele werden vermutlich auch gar nicht zu den Urnen gehen oder weiße Zettel einwerfen, einfach weil sie zu verwirrt sind, Ihr Leben lang waren sie daran gewöhnt, ihre Partei zu wählen -- und nun ist das plötzlich kein Maßstab mehr. Denn die EG-Frage spaltet Konservative wie Sozialisten. Plötzlich finden sich die Gewerkschafter auf einer Bank mit dem Rechtsextremen Enoch Powell in ihrer Ablehnung der EG, und niemand kämpft mit so harten Bandagen gegeneinander wie die Pro- und Anti-Europäer der Labour Party, die, um die Verwirrung vollkommen zu machen, derweil ungeniert auf derselben Regierungsbank sitzen.
Was die Szene vor der Abstimmung so gespenstisch macht: Kaum jemand zweifelt daran, daß die Regierung Wilson, die das Referendum gewollt hat. auseinanderfallen wird, niemand aber macht sich Illusionen, daß die Abstimmung, gleich wie sie ausfällt, das englische Siechtum heilen könnte.
Denn um die Briten, zerfallen in Pro- und Anti-Europäer, steht es schlecht wie nie zuvor. Zwar haben sie in den 30 Jahren seit Kriegsende 15 Krisen überdauert, haben sie Generalstreik und Drei-Tage-Woche, den Verlust des Empires und den irischen Bürgerkrieg überstanden, doch nun kommen sie um die Stunde der Wahrheit nicht mehr herum.
Was die Anti-Europäer wie ein Elysium verteidigen, ist beinahe schon ein Trümmerhaufen: Englands Inflationsrate liegt aufs Jahr umgerechnet bei 30 Prozent, legt man die neuesten Zahlen zugrunde, sogar darüber. Als realistischen Pfundkurs für die Zukunft sehen Banker vier Mark an -- zur Zeit ist das Pfund, für das einst 12 Mark zu zahlen waren, noch 5,40 Mark wert.
Englands Arbeiter und Angestellte fordern -- und bekommen -- Lohnerhöhungen zwischen 30 und 70 Prozent. Piloten, die vom 1. Januar an die Überschall- »Concorde« fliegen sollen, verlangen eine Verdoppelung ihrer Bezüge von 14 000 auf 28 000 Pfund.
An eine »rasende Kanu-Fahrt auf die Stromschnellen zu« sieht sich der Philosoph Arnold Toynbee erinnert und fragt: »Werden wir wieder zu Sinnen kommen, wird es uns gelingen, das Boot sozusagen in der dreizehnten Stunde unter Kontrolle zu bringen, bevor es über den Abgrund getragen wird?«
Viele zweifeln daran. Der »Observer« philosophierte bereits darüber, ob »ein Zusammenbruch unserer Gesellschaft mehr schaden würde als weitere Jahre der wirtschaftlichen Erosion
Doch jene, die meinen, es müsse noch schlimmer werden, bevor es sich wieder zum Besseren wende, die glauben, entweder werde Europa die Briten zwingen, ihr Haus in Ordnung zu bringen, oder aber England ohne Europa müßte alle seine Kräfte mobilisieren, um zu überleben, sind eine Minderheit.
Für die meisten Briten sind die immer rascher aufeinanderfolgenden, immer bedrohlicheren Krisen und der Zustand drohender Unregierbarkeit mittlerweile ein »British way of life« geworden. Sie haben sich an eine Misere gewöhnt, die in jedem anderen europäischen Land längst zu Barrikadenkampf oder jedenfalls politischem Extremismus geführt hätte. Warum nicht in England?
Dieses Volk, das im Straßenverkehr nicht hupt, das acht Stunden im Regen vor dem Britischen Museum steht, um Pharaonen-Schätze beschauen zu können. ist von Anlage her weder radikal noch revolutionär. Ohne Murren bezogen die Briten bis 1954 Fleisch und Speck auf Lebensmittelkarten. Wenn die U-Bahn-Züge wegen Streiks ausfallen, gehen sie zu Fuß; wenn es dunkel wird, weil die E-Werke streiken. zünden sie eben Kerzen an. In einer zwangsverordneten Drei-Tage-Woche freuen sie sich über die zusätzliche Freizeit. Und als letzte Woche Arbeiter ausrücken mußten, um das Gleisbett in Londoner U-Bahnen zu senken, weil eine Waggonfabrik Wagen geliefert hatte, die einen halben Zoll zu hoch waren und nicht mehr in die Tunnelröhren paßten, verlas der Nachrichtensprecher im Fernsehen die Meldung so. als sei dies ein besonders gelungener Scherz
»Britain can take it«, was immer da kommen mag, ist die verbreitete Philosophie. Die Parteien haben keine politische Alternative mehr zu bieten. aber die Briten verlangt offenbar auch gar nicht danach. Die wirklich Reichen -- und davon gibt es auf der Insel wesentlich mehr als etwa die über 20 000 Rolls-Royce-Besitzer -- trifft die Inflation nicht. Sie haben ihr Geld längst in der Schweiz, ihre Wohnsitze in Südfrankreich. Die organisierten Arbeiter und Angestellten kassieren unter der Labour-Regierung noch immer etwas mehr ab, als die Inflation ihnen nimmt.
Schwer getroffen aber ist, erstmals. der breite Mittelstand. Englands Zahnärzte, Bankmanager. Schauspieler. Journalisten, Lehrer, kleine Beamte und Diplomaten flüchten vor horrenden Mieten in Viertel, wo sie plötzlich Nachbarn von Dockern und pakistanischen Busfahrern sind. Ihre Kinder, für die sie das Schulgeld von 7000 Mark. das die exklusiven Public Schools nunmehr verlangen, nicht mehr aufbringen können, pauken neben Jamaikanern und Indern. Hier reißt die Inflation Klassenschranken nieder.
Vor solch schmerzlichen Realitäten flüchten immer mehr Briten in Nostalgie. Erfolgreichste TV-Serie auf der Insel ist in diesen Tagen »Good Things«. eine Geschichte über Städter, die das simple Landleben wieder entdecken. Es scheint, so der Publizist Anthony Sampson, »als hätte die Nation ihr Interesse am industriellen Fortschritt aufgegeben. Sie betrachtet die Industrie nur als notwendiges Übel, sehnt sich aber nach Ackerbau und Viehzucht«.
Und nach der glorreichen Vergangenheit: kein Fernsehtag ohne Panzersiege bei El Alamein. Flucht cleverer Tommys aus deutschen Gefangenenburgen. Im »Imperial War Museum« drängen Schulklassen und Pfadfinder vor deutschen V-2-Raketen und dem Motor der Maschine, mit der Rudolf Heß einst nach England flog.
Bestseller auf dem Buchmarkt sind seit Jahren die Abenteuer eines englischen Supermannes aus der Viktorianischen Zeit. Harry Flashman, im Dokumentations-Stil verkauftes Phantasieprodukt des Schriftstellers George Mac Donald Fraser, der sich mit Bismarck prügelt, französischen » Frogs«, türkischen »Niggern« und indischen Kulis zeigt, wer auf der Welt das Sagen hat.
Und das waren halt doch Englands allerschönste Zeiten.