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BERLIN Drodzy Polacy

In West-Berlin werden Polen jetzt wie Tamilen behandelt. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

In der Kirche Maria Regina, einer Vorstadt-Kirche in einem abgerissenen Quartier des West-Berliner Bezirks Reinickendorf, ist jeden Sonntag zweimal volles Haus. Gut tausend Gläubige beten dann zur Kirchen-Patronin, der »Gottesmutter von Tschenstochau«.

Der Refrain des alten Kirchenliedes, das der polnische Pater Jan Laskiewicz nach der Heiligen Messe zuweilen intoniert, ist ein wirklich frommer Wunsch: »Gott gib uns die freie Heimat wieder.« Für das Näherliegende kämpfte derweil ein halbes Dutzend Polen am Verkehrsknoten Kurt-Schumacher-Platz. Bis zur vorletzten Woche kampierten sie, fast drei Monate lang, unweit der französischen Garnison auf Matratzen im Freien. Sie wollten demonstrativ deutlich machen, daß sie - nachdem ihre Sozialhilfe gestrichen und der Heimplatz gekündigt wurde - Obdachlose sind. Auch die Ersatz-Heimat West-Berlin macht es ihnen schwer.

An die 10 000 Polen leben in der Stadt, nach Türken (118 000) und Jugoslawen (31 000) die drittgrößte Ausländergruppe und wohlgelitten, wie es lange schien. Die teilnahmsvolle Nachbarschaftshilfe der Westdeutschen, die über Jahre hinweg in einer beispiellosen Spendenaktion Hilfsgüter nach Osten schickten, galt auch den Polen, die ihrer von Militärdiktatur und Versorgungsmisere geplagten Heimat den Rücken kehrten.

Anders als Wirtschaftsflüchtlinge aus der Dritten Welt durften Zugereiste aus Warschau oder Breslau am ehesten mit Verständnis und selbst mit Nachsicht bei den Berlinern rechnen, bei einer Bevölkerung, die, so der »Tagesspiegel« in einschlägigem Zusammenhang, »weiß, was wehtut«.

Doch Wende auch hier. Wie die Demonstranten vom Kurt-Schumacher-Platz, die gelegentlich von Berliner Passanten angerempelt wurden, bekommen auch deren Landsleute neuerdings öffentliche Distanz zu spüren. Sparbeflissene Sozialpolitik und restriktive Aufenthaltsbestimmungen vermitteln nun auch den Emigranten aus dem Osten zunehmend den ganz normalen deutschen Ausländeralltag.

Ein Berliner Solidarnosc-Flugblatt klagt: »Polska spolecznosc w niebezpieczenstwie« - polnische Gemeinde in Gefahr. Und in Bonn protestierten die Solidarnosc-Leute Mitte Juni gegen »menschliche Härten« der verknappten Sozialhilfe.

Zwar kann kein Pole wider Willen in sein Heimatland zurückgeschickt werden. Dies gilt, wie für alle Ostblock-Bürger, seit 1966, als ihnen die Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern (IMK) ein »Bleiberecht« erteilte. Doch im Juni - mittlerweile leben an die 100 000 Polen im westlichen Deutschland - diskutierte die IMK bereits

darüber, ob solche »Duldungs«-Regel noch zeitgemäß ist. »Mißbrauchsfälle« jedenfalls sollen künftig ausgeschlossen werden.

Andere Korrekturen sind dagegen bereits vollzogen. Polen mit lediglich geduldetem Aufenthalt, die von Sozialhilfe leben, in der Regel jeder dritte, werden nunmehr Asylbewerbern gleichgestellt. Statt wie bisher den auch Deutschen gewährten Sozialhilfesatz in bar, Wohngeldübernahme und andere Subsidien erhalten sie in Berlin jetzt nur noch die reine Hilfe zum Lebensunterhalt, 240 Mark in Wertgutscheinen und knapp 50 Mark Taschengeld.

Polnische Wirtschaftsflüchtlinge, die von vornherein auf den Lebensunterhalt durch Sozialhilfe setzten, bekommen in aller Regel, nach der Rechtsprechung mehrerer Oberverwaltungsgerichte, künftig gar nichts mehr. Ihnen bleibt die Abreise oder, mit fragwürdigem Erfolg, der Asylantrag. Laut Berlins Sozialsenator Ulf Fink ist es »weder für die Betroffenen eine Perspektive noch politisch durchhaltbar, daß wir einem 10 000er Personenkreis auf Dauer Sozialhilferechte einräumen«.

Daß Polen nunmehr wie die sozial abgestempelten Tamilen behandelt werden, dürfte Folgen für den »Exodus Poloniae« haben, den der Ost-Experte Wolf Oschlies seit den siebziger Jahren registriert. Zuerst waren es Arbeitstouristen, die für ein paar Wochen oder Monate kamen, um eine schnelle Mark zu machen. Dann, nachdem in Polen das Kriegsrecht verhängt worden war, kamen zudem die politischen Emigranten, die, wie der ehemalige Pressesprecher der »Solidarität« in Posen, Grzegorz Zietkiewicz, praktisch aus der Internierung heraus Polen verlassen mußten.

Andere, denen noch nicht einmal der sogenannte Einwegpaß für nicht mehr im Lande erwünschte Oppositionelle zustand, kamen aus der Luft. Wie der Wasserbauingenieur Wieslaw Wrobel, erster Sekretär der Partei im Kreisbetrieb für Großkanalisation in Zabkowice, leiteten Dutzende planmäßige Maschinen der Luftverkehrsgesellschaft LOT unplanmäßig nach Tempelhof um oder stiegen, zufällig in einer entführten Maschine, einfach mit aus. Die West-Berliner dechiffrierten prompt die Initialen LOT als »Landet ooch Tempelhof«.

Begünstigt wurde der Zulauf durch die in Berlin übliche Visum-Freiheit für Ostblockbürger - Folge der von den westalliierten Schutzmächten seit je gepflegten Idee, zumindest von ihrer Seite die Freizügigkeit für ganz Berlin garantieren zu müssen. Aber auch ein Willkommensgruß des Senats, der schnell in Polen zirkulierte, wirkte wie ein Magnet.

»Drodzy polscy goscie«, den lieben polnischen Gästen, hatte Senator Fink Anfang 1982 per Flugblatt, Auflage 17 000, das »Vertrauen in die Gastfreundschaft unserer Stadt« nahegelegt. Und er ermunterte zum jetzt suspekten Sozial-Tourismus: »Falls Sie mittellos sein sollten, können Sie zur Sicherung Ihres Lebensunterhalts Sozialhilfe beantragen.«

Einer mit inzwischen deutschem wie polnischem Paß, der Berliner Solidarnosc-Chef Edward Klimczak, verließ sein Land, weil er »lieber Kellner im Westen als Wissenschaftler mit Maulkorb im Osten« sein wollte. Heute ist er als Russisch-Dozent an der Freien Universität Beamter auf Lebenszeit - eine Ausnahme-Karriere. Nicht mal der zehnte Teil der Berliner Polen kann trotz zum Teil jahrelangen Bemühens die begehrte Arbeitserlaubnis vorweisen. Am ehesten geht es noch bei seltenen Berufen, bei denen Deutsche oder Ausländer aus EG-Staaten als bevorrechtigte Mitbewerber rar sind.

Nach anderthalb Jahren schlug so einem Turmuhrmacher die begehrte Stunde. Mit Plazet des Arbeitsamtes durfte er legal verrichten, was er zuvor bereits illegal getan hatte: Uhren reparieren. Der ehemalige Elektronik-Student Miroslaw Cyrankowski, der als Polen-Aussiedler ebenfalls eine Arbeitserlaubnis erhielt, brachte es gar zum eigenen Gewerbe. Mit polnischer Ehefrau betreibt er in Spandau einen »Früchtemarkt«.

Diejenigen, die leer ausgehen, weiß der Berliner FDP-Abgeordnete Professor Jürgen Dittberner, scheitern nicht selten an der »undurchsichtig arbeitenden Bürokratie ... die offensichtlich nicht menschlich, sondern blutleer entscheidet, an Behörden, die freundlich im Generellen, aber doch schikanös im Speziellen sind«.

Und gelegentlich werden die Vorschriften zur Farce. So mußte sich ein polnischer Professor als Abwäscher schwarz sein Zubrot verdienen, obwohl er einen Ruf an eine westdeutsche Universität erhalten hatte. Dem freilich konnte er nicht folgen, weil er als Asylant noch einer einjährigen Arbeitssperre unterlag.

Wie solche Arbeitssperren umgangen werden, exerzieren Berlins Polen schon seit Jahren durch Schwarzarbeit. Bootsbauer, Pferdeknecht, Lastwagenfahrer, Handzettelverteiler, Kohlenträger - dem Berliner Polizei-Oberrat Herbert Brückner zufolge, zuständig für Gewerbedelikte, geht das Spektrum von Angebot und Nachfrage in diesem Bereich »durch fast alle Branchen und durch alle Kreise«.

Der polnische Bauarbeiter, dem Brückners Ermittler nach einer Razzia den Sozialhilfebescheid wie ein paar Tausender schwarz verdientes Geld aus der Tasche ziehen, ist ebenso wenig _(1982 auf dem Berliner Flughafen ) _(Tempelhof. )

Ausnahme wie die Praxis »illegaler Überlasserfirmen« (Brückner), die benötigten Facharbeiter bereits in Polen anzuheuern. Brückner: »Da wußten schon die Leute in Stettin, wie sie sich in Berlin zu melden haben.«

Mittlerweile aber bemühen Polen auch schon Rechtsberatung und Anwälte gegen Behördenakte. Kämpferische Publikationen mit Namen wie »Poglad« (Anschauung), »Przekazy« (Übermittlung) oder »Archipelag« signalisieren, daß künftig auch Opposition zum deutschen Gastgeber angesagt ist.

So weit möchte Sozialsenator Fink die »drodzy Polacy«, die lieben Polen von einst, denn doch nicht ins Abseits driften lassen. Die nach unterschiedlichen Übergangsfristen bis zum Spätsommer vollends greifenden Einschnitte in den bislang gewahrten sozialen Besitzstand der polnischen Emigranten, beschwichtigt der Senator, wolle er nach Möglichkeit durch aufenthalts- und arbeitsrechtliche Lockerungen gemildert sehen.

Doch Finks Senatskollege vom Arbeitsressort, Edmund Wronski, läßt Polen, die entgegen der herrschenden Rechtslage bei der Jobsuche den Deutschen gleichgestellt werden möchten, eine Absage erteilen: Dies sei »angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktlage und der immer noch hohen Arbeitslosenquote nach meiner Auffassung nicht zu rechtfertigen«.

Diese Senatsmanöver sieht Witold Kaminski, Berliner Polen-Sprecher und Vorsitzender des »polnischen Sozialrats«, als ganz logischen Schritt einer verschärften Ausländerpolitik an: »Das erste Wort, das ich in Berlin gehört habe, war Intergration. Heute höre ich nur noch ''wir Deutschen, ihr Ausländer''.«

Die veränderte Konstellation bekommt auch ein Arzt zu spüren, den Ende 1981 ("Ich hatte damals eigentlich gar keinen Grund, mein Land zu verlassen") die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen im Westen überraschte.

Der Behördenvorwurf, »ein typischer Sozialflüchtling« zu sein, macht ihn seither »krank«. Andererseits, räumt er ein, lege ein nicht geringer Teil der Polen durchaus eine wenig zimperliche Anspruchshaltung vor: »Das geht nach der alten Erfahrungsregel vieler Polen, der Staat gibt nie etwas freiwillig, also muß man es fast erpressen.«

Um das medizinische Know-how nicht zu verlernen und sich »vom Status des Sozialhilfeempfängers zu befreien«, ging der Arzt ungewöhnliche Wege. Er verdingte sich, zum Nulltarif, als Doktor in einem Berliner Krankenhaus, wo er es ("Ich betrachte diese Möglichkeit als Entgegenkommen bei einigen hundert arbeitslosen Ärzten in Berlin") auf etwa 40 Wochenstunden bringt.

Wenn er »ein paar neue Schuhe braucht«, hat die Heilkunde kurze Pause. Dann geht er eben »ein paar Tage tapezieren«, um Geld zu verdienen.

1982 auf dem Berliner Flughafen Tempelhof.

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