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BONN / PREISE Druck im Schlauch

aus DER SPIEGEL 43/1969

Zwanzig Jahre lang hämmerte es die Christenunion den Wählern ein: Nur eine Herrschaft der CDU/CSU in Bonn garantiere den Bürgern sichere Arbeitsplätze und eine stabile Mark. Drei Jahre genügten, die Wirtschafts-Wundertäter zu entlarven.

Als CDU-Kanzler Ludwig Erhard im Spätherbst 1966 abgewirtschaftet hatte, drohte Massenarbeitslosigkeit. Nun, da CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger abtritt, droht Inflation.

Die Krise zu meistern, blieb damals und bleibt auch diesmal wieder jener Partei aufgetragen, die von den Christdemokraten stets als Wirtschafts-Schädling verteufelt worden ist, den Sozialdemokraten. Karl Schiller, Wirtschaftsminister der zukünftigen SPD/FDP-Regierung, trägt sein Schicksal mit Fassung: »So wie wir im Frühjahr 1967 mit der von Erhard hinterlassenen Arbeitslosigkeit fertig werden mußten, müssen wir uns jetzt mit den von Kiesinger und Strauß hinterlassenen Preissteigerungen herumschlagen.«

Auf dem Hohen Haus am Rhein, in dem sich an diesem Montag der sechste Deutsche Bundestag konstituiert, lastet eine schwere und dringliche Hypothek. Regierung und Parlament müssen im Eiltempo ein Stabilitätsprogramm entwerfen, verabschieden und vollziehen, um den heißesten Boom der Nachkriegszeit zu löschen.

Das neue Kabinett wird, noch bevor der neue Kanzler am 28. Oktober seine Regierungserklärung abgibt, eine drastische Aufwertung der Deutschen Mark verfügen.

Denn nach den Versäumnissen der von der CDU/CSU majorisierten Großen Koalition drohen

* die schärfste Teuerung seit der Währungsreform; die Erzeugerpreise der Industrie klettern derzeit mit einer Jahresrate von sechs Prozent, die Kosten der Lebenshaltung, traditionell Nachhut jeder Inflation, lagen bereits im September um 2,8 Prozent über dem Vorjahresstand;

* die heftigste Lohnexplosion der Nachkriegszeit; die Effektivlöhne werden nach Berechnungen des unabhängigen Sachverständigenrates im letzten Quartal dieses Jahres um 12,5 Prozent höher liegen als Ende 1968, die Lohnkosten der Industrie (einschließlich der höheren Soziallasten) nach Schätzungen der Bundesbank am Jahresende um 18 Prozent.

Kurzum: Die Bundesrepublik steuert -- zur Zeit noch führerlos -- in eine »hausgemachte Inflation« (Bundesbankpräsident Karl Blessing). Und »angesichts der sich in allen Wirtschaftsbereichen häufenden Meldungen über Preisanhebungen« kann auch das Bonner Wirtschaftsministerium »an der Fortsetzung dieser inflatorischen Bewegung nicht zweifeln«.

Den ersten Treibsatz hatte Schiller selbst gezündet, als er im letzten Jahr die Konjunktur länger als nötig mit Staatsgeldern anheizte und zu spät gegensteuerte. Dann freilich, als er sich um die Jahreswende zum Bremsen entschlossen hatte, fiel ihm die industriehörige CDU/CSU in den Arm. CDU-Kanzler Kiesinger und CSU-Finanzminister Strauß blockten alle Versuche Schillers ab, das zu bewirken, was letztlich einziger Inhalt christdemokratischer Programmatik war -- Stabilität und Ruhe:

* Schillers Vorschläge vom 17. März, 9. Mai und 23. Juni, die Mark aufzuwerten und so den deutschen Markt wenigstens vor der übersteigerten Nachfrage aus dem inflationären Ausland zu schützen, wurden von Strauß entgegen den Gesetzen der Logik torpediert;

* Schillers Antrag vom 23. Juni und in der letzten Kabinettsitzung vor der Bundestagswahl, die inzwischen gleichfalls überbordende Binnenkonjunktur durch Abbau von Abschreibungserleichterungen und höhere Investitionssteuern einzufangen, prallte an der Christenmehrheit im Kabinett ab.

Erst am Tage nach der Wahl gelang es dem Sozialdemokraten, die trotzenden Christdemokraten zu überlisten und erstmals seit einem Jahr wieder aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben.

Mit Hilfe des Bundesbankdirektors Otmar Emminger, eines Kiesinger-Duzfreundes und Aufwertungs-Befürworters, überredete Schiller die Kabinettsrunde, den Wechselkurs der Mark probeweise freizugeben.

Der notorische Aufwertungs-Gegner Strauß gab seine Zustimmung, weil er glaubte, der Mark-Kurs werde wegen einer vorübergehenden Dollar-Knappheit möglicherweise sogar sinken, notfalls aber könne die Bundesregierung jederzeit zur alten festen Parität zurückkehren.

Als die Mark nach sieben Tagen Freihandel statt dessen um 6,35 Prozent höher gehandelt wurde und damit faktisch aufgewertet worden war, wachte Franz Josef Strauß auf, In der letzten frostigen Sitzung im Kabinett des Kurt Georg Kiesinger wies Bundesbankpräsident Blessing auf Selbstverständliches hin: »Kein Mensch glaubt noch, daß wir zur alten DM-Parität zurückfinden.«

Wütend fuhr Strauß auf Blessing los: »Man hat mich hinters Licht geführt. Hier ist mit gezinkten Karten gespielt worden.«

Einen taktischen Erfolg mochte der amtierende Wirtschaftsminister Schiller damit errungen haben, eine wirksame Strategie im Kampf gegen die Inflation ist die neue Regierung noch schuldig. Die erste Preis- und Lohnwelle läuft schon, die Konjunkturaussichten fürs nächste Jahr sind trübe:

* Das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, das noch Im Sommer eine Konjunkturabschwächung zu erkennen glaubte, notierte, die Bundesrepublik sei »seit dem Frühsommer in eine Überhitzungsphase geraten, in der die Nachfrage-Expansion die inländischen Angebotsmöglichkeiten weit überfordert«;

* das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften (WWI) malte schwarz: »Der Inflationsbazillus beginnt auch in der Bundesrepublik zu wirken ... Sie kann 1970 vielleicht nur noch zwischen erheblichen Preissteigerungen und einer drohenden Krisengefahr wählen, die sich dann 1971 voll auswirken würden«;

* Bundeswirtschaftsminister Schiller fürchtet, daß mit der ersten Preis- und Lohnwelle die Antriebskräfte der Inflation noch lange nicht erschöpft sind: »Der Druck im Schlauch ist nicht auf einen Schlag weg.«

Der große Boom übertrifft sogar den Rekord des Jahres 1960, als das Wirtschaftswunder ins Kraut schoß. Nie zuvor stiel? die Produktion so hart an die Grenzen der Kapazität, war die Zahl der Gastarbeiter so hoch und das Auftragspolster der Firmen so dick -- nie zuvor scheffelten die Unternehmer so fette Gewinne, die Aktionäre so viel Dividende.

Die Frankfurter Bundesbank faßte ihre neuesten Untersuchungen zusammen: »Extreme Spannung zwischen Güternachfrage und -angebot im Inland« und »fundamentales Ungleichgewicht zwischen der Bundesrepublik und der übrigen Welt«.

Was die Institute voraussagten, spüren die Verbraucher schon seit Monaten: Noch im ersten Halbjahr 1969 hatte die Bundesbank eine Rate von drei Prozent für die ganze Saison 1969 ermittelt. Jetzt steht der Preis-Tachometer bereits bei 3,5 Prozent.

Vorgenommen oder angekündigt wurden in den letzten Wochen Preiserhöhungen für

* Spirituosen um fünf Prozent;

* Porzellan um sechs bis acht Prozent;

* Lederwaren und Schuhe um fünf bis zehn Prozent;

* Bestecke um zehn bis zwölf Prozent;

* Steinkohle um 13, Koks um 17 Prozent;

* Glühlampen (Osram) sowie Papierwaren um 15 Prozent;

* Eisenwaren um zehn bis 20 Prozent.

Kartoffeln, die vor Jahresfrist für neun Mark je Zentner zu haben waren, kosteten schon Anfang Oktober 13 Mark. »Was se nächste Woch koste«, so berichtete ein Frankfurter Kartoffelhändler damals, »wisse mer net.« In der Woche darauf verlangte er für den Zentner 15 Mark.

In Berlin schlugen die Händler 60 Prozent auf die alten Kartoffelpreise, in Hamburg gar 70 Prozent auf. Die Schlachthof-Abgabepreise für Schweinehälften kletterten seit Juni dieses Jahres um zehn bis 15 Prozent. Allein in München trieben die Fleischhauer und Selcher die Preise für Bratenfleisch vom Schwein binnen eines Monats um 1,9 Prozent hoch seit September vergangenen Jahres um 6,9 Prozent.

Schweinekoteletts kosten laut Ermittlungen der Bonner Zentralen Markt- und Preisberichtsstelle im Bundesdurchschnitt 7,7 Prozent mehr als im Vorjahr, in Frankfurt, Hamburg und München bis zu 15 Prozent mehr. Auch die Verbraucherpreise für Rindfleisch wurden während des letzten Jahres laut amtlicher Statistik um sechs bis neun Prozent nach oben gedreht, in den Ballungsgebieten schlugen die Fleischer noch weit mehr auf.

»Alle reden über Preisstabilität«, so hatten noch im Juli. dieses Jahres 21 Markenartikelfirmen in großen Zeitungsanzeigen verkündet: »Wir halten Preisdisziplin und erklären, daß wir für die Dauer eines Jahres die Preise für unsere Markenartikel nicht erhöhen werden.« Anfang September hatte einer der Inserenten, die Geschäftsleitung der Keksfirma Bahlsen, es sich anders überlegt. Elf Produkte, darunter Leb- und Honigkuchen, wurden um fünf bis 20 Prozent teurer.

Zwar hielt das Unternehmen eisern am Preis von einer Mark für seine Lebkuchen-Serien, Herzen und Sterne mit Schokolade fest, verminderte aber das Gewicht am 8. September derart, daß die Ware seither um 14,9 Prozent kostbarer ist. Bei den ebenfalls preisgebundenen Spitzkuchen der Bahlsen-Honigkuchen-Serie (Preis: 1,50 Mark) erlöst Bahlsen dank weniger Gewicht 19 Prozent mehr.

Andere Teilnehmer der Stabile-Preise-Kampagne, darunter die renommierten Firmen Braun, 4711, Elbeo, Gold-Zack, Kaffee Hag und Inka-Kosmetik, konnten ihr Versprechen mühelos einhalten -- denn sie hatten kurz vor Beginn der Anzeigen-Aktion ihre Preise kritisch überprüft und für bestimmte Produkte um 22 bis 84 Prozent nach oben korrigiert.

In Versand- Katalogen werden Camping-Liegen mit 2,06 Meter Länge und 72 Zentimeter Breite angeboten. Bei stabilem Preis aber spart der Fabrikant seit kurzem stillschweigend Material ein: je acht Zentimeter in Länge und Breite.

Ein Markenartikler brachte eine Kaffeemühle zu 24 Mark heraus. Als der Boom zu brummen begann, versah der Hersteller das Kunststoffgehäuse des Geräts mit einer anderen Farbe. Seither bietet er das neue Produkt zum Preis von 29 Mark an.

Für die Maß Bier kassieren Bayerns Schankwirte zehn Pfennig mehr. Ohne Aufhebens setzten Frankfurter Bäcker die Preise für Weißbrot um zehn bis 20 Pfennig je Pfund herauf. In Hamburgs Backstuben notieren die Brötchen einen Pfennig höher.

»Angesichts der gegebenen Übernachfrage«, so resümiert die Bundesbank in ihrem letzten Monatsbericht, »dürften sich die Preisauftriebstendenzen erheblich verstärken.« Auch das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften fürchtet, »daß die Preisentwicklung im Spätherbst -- und vor allem dann 1970 -- den wirtschafts- und konjunkturpolitisch verantwortlichen Instanzen aus den Händen gleitet«.

Über die Kehrseite der Prosperität führen auch die Wirtschaftsbosse Klage. Professor Franz Broich, Generaldirektor der Chemischen Werke Hüls AG, über seine Lieferanten: »Alles dauert heute sechs Monate länger.« Generaldirektor Dr. Rolf Sammet von den Farbwerken Hoechst hat als Auftraggeber noch trübere Boom-Erfahrung: »Bei manchen Apparaten ist es überhaupt nicht mehr möglich, Lieferfristen zu vereinbaren.«

Die Auftragsflut schwemmt über alle Branchen. Als der Frankfurter Elektrokonzern AEG 24 Prozent Zuwachs bei den Kundenaufträgen meldete, hatte er lediglich den Durchschnitt aller Bestelleingänge der deutschen Industrie erreicht. Seinen Aktionären teilte der Oberhausener Maschinenbau-Trust Gutehoffnungshütte mit, gegenüber dem Vorjahr seien 53,7 Prozent mehr Orders eingegangen.

Der Boom braucht neue Häuser. Die überbeschäftigten Fabrikanten planen so viele neue Produktionshallen, daß die »Baugenehmigungen für Wirtschaftsgebäude« schon im Frühsommer um 47 Prozent höher lagen als ein Jahr zuvor. Die Preise zogen mit: Von Mai bis August stiegen die reinen Baukosten bei gewerblichen Betriebsgebäuden um 3,6 Prozent -- das entspricht einer Jahresrate von 14,4 Prozent -, obwohl während dieser Zeit keine Lohnerhöhungen fällig wurden. Binnen eines Jahres kletterte der Baupreis-Index für Wohngebäude um 5,3 Prozent.

»Zum zentralen Engpaß in der Wirtschaft der Bundesrepublik« (Deutsche Bundesbank) wurde der Arbeitsmarkt. Obwohl mit 1,5 Millionen Ausländern mehr Gastarbeiter denn je in Deutschland wirken, gab es noch niemals so viele unbesetzte Arbeitsplätze: 860 000.

Tausend offene Stellen meldet allein der Duisburger Stahlkonzern Thyssen, tausend Jobs an Fließbändern und Schreibmaschinen hat auch VW in Wolfsburg zu vergeben.

Jeder Mann in der westfälischen Möbelfabrik Interlübke leistet täglich eine Überstunde ab, jeder Werker bei der Duisburger Demag zwei. Um mit den Rechnungen nachzukommen, müssen alle 120 Buchhalter und Computer-Diener der Textilfabrik Schulte & Dieckhoff in der Woche 15 Stunden länger arbeiten. Europas größter Schuhkonzern. die Salamander AG in Kornwestheim, hat in aller Eile Kindergärten ausgehoben, um Mütter vom Wickeltisch an den Schusterleisten zu locken.

Versandhändler Josef Neckermann kann den Boom nur mit 1800 zusätzlich angeheuerten Teilzeitarbeitern bewältigen, die in der Woche zwischen 15 und 25 Stunden lang Pakete schnüren. Demnächst geht Neckermann auf die Dörfer: Büroabteilungen werden »in ländliche Gebiete« verlegt.

Seit letzten Januar schraubte die deutsche Industrie ihre Produktion um 15 Prozent hoch. Die Niederrheinische Hütte in Duisburg ließ ihre Walzstraßen so schnell laufen, daß 56 Prozent mehr Draht herausschossen. Der Thyssen-Konzern erreichte mit seiner Rohstahlerzeugung von zwölf Millionen Jahrestonnen einen neuen Rekord.

Investitionen von nie gekanntem Ausmaß heizen Konjunktur und Preise weiter an. Die Duisburger Stahlgruppe Klöckner legte ein Bauprogramm von 500 Millionen Mark vor, die Daimler-Benz AG investiert in diesem Jahr 800 Millionen, und der Wolfsburger Riese steckt eine Milliarde in neue Anlagen. Der Chemie-Trust Bayer will bis 1973 rund sechs Milliarden Mark für Ausbau und Rationalisierung einsetzen.

Die Frankfurter Bundesbank addierte die Unternehmer-Ausgaben für Anlagen im ersten Halbjahr 1969 und kam auf die Rekordsumme von 63 Milliarden Mark: Das Vorjahresergebnis wurde um nicht weniger als 22 Prozent übertroffen.

Ihre Investitionen können die Unternehmen aus der Kasse finanzieren, denn in allen Branchen explodieren die Gewinne. Schon jetzt lassen die Farbwerke Hoechst durchblicken, 1969 werde der Ertrag um 17 Prozent höher ausfallen als im Vorjahr. Vom Oberhausener Misch-Konzern Babcock wurde bekannt, er schließe mit 20 Prozent Gewinnplus ab.

Nutznießer der Prosperität waren zuallererst Deutschlands Unternehmer. Die Bundesbank stellte fest: »Im ersten Halbjahr 1969 sind aus dem Unternehmensbereich schätzungsweise 18 Prozent mehr für Zwecke des privaten Verbrauchs und der privaten Ersparnis entnommen worden als ein Jahr zuvor.« Dagegen sind die Bruttolöhne und -gehälter lediglich um acht Prozent gewachsen. Karl August Schillers »soziale Symmetrie« ist auf dem Höhepunkt der Konjunktur zur Asymmetrie entartet. Gegenüber dem ersten Halbjahr 1967 waren die Nettolöhne und -gehälter in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nur um 13,8 Prozent gestiegen, die Nettogewinne hingegen um 45 Prozent.

Mit spontanen Streiks außerhalb der Gewerkschaft suchten Anfang September Stahlkocher und Kohlenhauer einen Ausgleich. Die Eisenbosse mußten die Löhne um elf Prozent aufbessern, die Zechenchefs zehn Prozent zulegen. Heinz P. Kemper, Generaldirektor der Veba und Aufsichtsratsvorsitzender der Ruhrkohle AG, billigte die höheren Löhne für die Kumpel als »Gerechtigkeitszuschlag« und stockte postwendend seine Kohlenpreise auf. Den Aufpreis nahm Deutschlands größtes Elektrizitätswerk RWE zum Anlaß, seinen Kunden fünf Prozent höhere Strompreise zu avisieren. Ein RWE-Sprecher erklärte lapidar: »Einer muß ja den Anfang machen.«

Dr. Rüdiger Schoneweg, Vorstandsmitglied in der Ladenkette Kaiser's Kaffee-Geschäft AG, ist überzeugt: »Die Preiswelle wird erst im Januar richtig einsetzen.« Auch Paul Derigs, Vorstandsmitglied im Warenhauskonzern Karstadt, sieht keine Chance für stabile Preise: »Ein Auffangen der Einkaufspreise durch erhöhten Umsatz ist nicht mehr möglich.«

Bundesbank und wirtschaftswissenschaftliche Forschungsinstitute halten die gegenwärtige Konjunktursituation vor allem deswegen für gefährlich, weil viele Unternehmer wie nie zuvor in der Lage sind, die anfallenden Mehrkosten -- etwa höhere Löhne -- mühelos auf die Verbraucher abzuwälzen.

Der Kampf der neuen Bundesregierung um Stabilität wird daher notwendigerweise auch die Unternehmergewinne schmälern.,. Stabilität« so beschied Schiller die bereits jetzt um einen Teil ihrer Exportgewinne gebrachte Industrie, »kann weh tun, aber jetzt ist Stabilität dran.«

Schon bei den Koalitionsverhandlungen zwischen den beiden Wunschpartnern SPD und FDP fand Wirtschaftsminister Schiller das rechte Gehör. Kein Freidemokrat fiel ihm ins Wort, als er ein Vier-Punkte-Programm vortrug. Er will

* das von der Kiesinger-Koalition mißachtete Stabilitäts- und Wachstumsgesetz konsequent anwenden, das ihn im Falle einer Hochkonjunktur zu Dämpfungsmaßnahmen verpflichtet;

* sofort ein »Sachprogramm zur Sicherung der Stabilität« vorlegen;

* den Wettbewerb durch eine Novelle zum Kartellgesetz beleben; volkswirtschaftlich unerwünschte Zusammenschlüsse von Wirtschafts-Unternehmen, etwa in der Presse, sollen durch eine vorsorgliche Kontrolle unterbunden werden;

* unterentwickelten Branchen und Regionen durch gezielte Staatshilfen den Anschluß an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung finden helfen.

Der neue Wirtschaftsminister plant als erste Amtshandlung nach seiner Vereidigung und noch bevor Kanzler Willy Brandt seine Regierungserklärung vor dem Parlament abgibt, das Kabinett zum Aufwertungsbeschluß zu drängen.

Als günstige Gelegenheit für den offiziellen Währungsschnitt bietet sich das nächste Wochenende an. Wie von ungefähr tagt an diesem Samstag in Brüssel der EWG-Währungsausschuß, den die Bundesregierung vor einer Wechselkursänderung konsultieren muß. Am Montag darauf tritt der Ministerrat der EWG zusammen, der nach einer Mark-Aufwertung über Bonns Hilfsmaßnahmen an die aufwertungsgeschädigte deutsche Landwirtschaft (zwischen 1,2 und 2,5 Milliarden Mark) befinden muß.

Nach dem Expertenrat muß Schiller einen Aufwertungssatz zwischen acht und zehn Prozent wählen, wenn er der von außen angeheizten Binnenkonjunktur beikommen will.

Nur mit einer derart drastischen Wechselkurs-Korrektur hofft der Minister ein bescheidenes Nahziel noch erreichen zu können: Im nächsten Jahr soll die für 1969 erwartete Preissteigerungsrate von drei Prozent nicht überschritten werden. Erst von 1971 an glauben Schiller und seine Konjunkturexperten wieder relative Preisstabilität garantieren zu können.

Mit Unterstützung der Freidemokraten will er zugleich der von Aufwertung und Lohnkosten bedrängten Wirtschaft Steuerhilfen geben. Die Koalitionspartner kamen überein, di Ergänzungsabgabe, den von der Großen Koalition eingeführten Drei-Prozent-Zuschlag zur Einkommen- und Körperschaftsteuer, in zwei Stufen wieder abzuschaffen. Überdies kann die Industrie wieder mit öffentlichen Aufträgen für Schul-, Straßen- und Krankenhausbau rechnen.

Schon in seiner Regierungserklärung soll Kanzler Brandt die Deutsche Bundesbank offiziell bitten, ihre konjunkturbremsende Hochzinspolitik aufzugeben. Von Bonn allein gelassen, hatte die Notenbank im September den Diskontsatz auf die Rekordhöhe von sechs Prozent geschraubt. Nach der Aufwertung kann sie ihn, so meint Schiller, wieder senken.

Der Rückgang der Exporte würde laut Schiller durch vermehrte Massenkauf kraft im Inland wettgemacht. Nach seiner Rechnung wird die Binnennachfrage 1970 durch höhere Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst, mehr Geld für Kriegsopfer und durch die ebenfalls geplante Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages in der Lohnsteuer um 5,8 Milliarden Mark wachsen.

Eine CDU/CSU-Opposition braucht Kanzler Brandts Wirtschaftsminister nicht zu fürchten. Mit ihrem Wahlkampf-Nein zur Aufwertung hat sich die Christunion selber aus dem Konjunkturgeschäft manövriert. Zur Sache ist dem künftigen Schiller-Kontrolleur in der Opposition, Franz Josef Strauß, bis heute nichts Neues eingefallen. Noch am Freitag letzter Woche bot er den Bonner Journalisten seine alte Rechthaberformel an: »Das ewige Aufwertungsgerede hat uns die Inflationshysterie gebracht.«

Selbst Unternehmer wie der Kölner Stahl-Industriel].e und Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages Otto Wolff von Amerongen beurteilen die Chancen der CDU-Wirtschaftspartei in der Opposition skeptisch: »Das binnenwirtschaftliche Stabilitätsprogramm ist die schwierigste Aufgabe der neuen Bundesregierung. Die CDU könnte schon gute Fälle finden, aber wie soll sie die ohne guten Anwalt vertreten?«

Röchling-Bankier Dr. Manfred Schäfer, Chef des CDU-Wirtschaftsrates, warnt die Parteifreunde im Bundestag vor gar zu kecker Opposition gegen den SPD-Wirtschaftsminister: »Wenn die gegen Schiller und seinen Apparat antreten, kann Schiller sich aussuchen, wann, wo und wie er sie in der Luft zerreißt.«

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