Du bist das Netz!
Der Nachfolger von Diderot und d'Alembert, die mit ihrer 1751 begonnenen Encyclopédie Weltruhm erlangten, lebt im Rentnerparadies St. Petersburg in Florida. Seine Mitarbeiter heißen nicht Rousseau, Voltaire oder Montesquieu, sondern Monica und Dany.
An seinem Arbeitsplatz gibt es keinen Globus und keine Bibliothek. Das Areal gleicht einer winzigen Rumpelkammer: Auf dem Boden liegen Papiere verstreut zwischen Tüten, einem Rucksack, Pappkartons und einer Kiste voll verworrener Computerkabel.
Mitten in diesem Chaos sitzt Jimmy Wales, ein entspannter Enddreißiger, dem das Hemd aus der Hose hängt. Hier organisiert er das Wissen der Menschheit. Und hier führt er eine Tradition fort, die von den Philosophen der französischen Aufklärung bis zum Brockhaus und zur Encyclopaedia Britannica reicht. Es gibt aber auch Leute, die sagen, dass er diese Arbeit nicht fortsetzt, sondern zerstört.
Wales ist der Gründer von Wikipedia. Seine Online-Enzyklopädie ist ein für den modernen Jedermann offenes, basisdemokratisches Projekt: Mehrere zehntausend Menschen weltweit schreiben Beiträge, sie ergänzen oder korrigieren bestehende Artikel. Und sie diskutieren mitunter erregt, wie sie zum Beispiel den Irak-Krieg möglichst objektiv, fehlerfrei und aktuell darstellen können.
Die Welt, sofern sie über einen Internet-Anschluss verfügt, hat sich mit ihm auf die Suche gemacht nach der einen, der einzigen Wahrheit.
Es gibt keine Redaktion, keinen Verlag und kein enormes Millionenbudget. Es gibt weder Werbung noch Benutzergebühren. Wikipedia verbreitet nicht die Erkenntnis von Nobelpreisträgern und Fachautoritäten, sondern die Weisheit der Massen: oft erstaunlich informativ, gelegentlich brillant, manchmal schludrig bis falsch, aber meistens aktuell - und immer umsonst. Wann hat es das schon einmal gegeben: eine Volks-Enzyklopädie, die auch vom Volk geschrieben wird?
Mit Wikipedia ist eine täglich wachsende Wissensmaschine entstanden, eines der größten und spannendsten Internet-Imperien weltweit. Über eine Million Beiträge enthält allein die englische Fassung, die zweitwichtigste - die deutsche - ist zurzeit mehr als 420 000 Artikel stark; jeden Tag kommen hierzulande 500 neue hinzu. Wikipedia gehört zu den international am häufigsten besuchten Web-Seiten - neben Google, Ebay und Yahoo.
Nur Wales hat davon nichts, zumindest finanziell: Als er Wikipedia am 15. Januar 2001 ins Leben rief, war die Internet-Blase an den Börsen gerade geplatzt. Niemand wollte etwas von neuen Geschäftsideen wissen, Risikokapital gab es nicht. Anstelle einer Firma gründete er deshalb eine Volksbewegung.
»Ich weiß selbst nicht, ob ich damals die dümmste oder die klügste Entscheidung meines Lebens getroffen habe«, sagt Wales, ein ehemaliger Börsenhändler mit abgebrochener Promotion. Weil seine Hobby-Enzyklopädisten bis heute von Banner-Werbung
und überhaupt Kommerz nichts wissen wollen, ist sein Laien-Lexikon als Stiftung organisiert, die von Spenden lebt. Nach den letzten verfügbaren Zahlen standen im dritten Quartal vorigen Jahres 240 000 Dollar bereit, um Computerserver, Bürokosten, zwei Angestellte und Aushilfen zu finanzieren.
Wikipedia ist längst zum Symbol geworden - für eine neue Ära des Internet, im Szenejargon Web 2.0 genannt. In diesem neuen Web-Zeitalter spielen die Nutzer, die User, die Hauptrolle: Aus passiven Konsumenten werden höchst aktive Produzenten. Millionen Leser, Radiohörer und Zuschauer schaffen die Inhalte für sich und ihresgleichen selbst.
Wikipedia steht auf jenen zwei Säulen, die zugleich das Fundament dieser neuen Generation @ ausmachen: Einerseits wächst da eine neue Macht des Kollektivs heran, dessen vermeintliche Allwissenheit sich dauernd verändert und ständig zur Disposition gestellt wird.
Andererseits wird der Einzelne zum Machtfaktor. So entblößen sich Abermillionen im Netz - mal als Besserwisser bei Wikipedia & Co., mal im eigenen Online-Tagebuch, mal ganz profan mit verhuschten Nacktfotos vor der heimischen Schrankwandkombination.
So verändert ein Medium auch das Denken seiner Nutzer. Ich surfe, also sind wir.
Ein Heer von Freizeitforschern und Hobbyjournalisten, von Amateurfotografen, Nachwuchsfilmern und Feierabendmoderatoren hat das World Wide Web als Podium erobert. Das Internet ist zu einem bunten, chaotischen Mitmach-Marktplatz geworden, auf dem jeder nach Laune im Publikum sitzen oder die Bühne bespielen kann. Ein wahres Welt-Theater, dessen Konsequenzen noch gar nicht abschätzbar sind.
Werden wir umso unselbständiger, je vernetzter wir sind? Oder umso aktiver, je mehr Zeit unseres Lebens sich im Web abspielt? Wird es die eine Wahrheit da überhaupt noch geben, wo die Meinung von Millionen durch die Breitband-Leitung strömt? Erleben wir eine schöne neue Welt von Bescheidwissern - oder eine von egomanischen Rechthabern? Klar ist nur: Bislang bestimmten Intendanten, Regisseure, Journalisten das Programm - kurz: Profis. Jetzt erhebt sich aus jedem einzelnen Zuschauersessel Konkurrenz.
Ein Urtraum der Aufklärung scheint wahr zu werden. Dass ein Publikum sich selbst aufkläre, schrieb einst Immanuel Kant, sei unausbleiblich, wenn man ihm nur die Freiheit ließe, von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen. Die neue bunte Bildungsbürgerbewegung, die mit Bühnen wie Wikipedia entstanden ist, fühlt sich dieser Tradition durchaus verpflichtet. Freiheit, Nützlichkeit, Vereinsarbeit: E-mancipation als Aufklärung Version 2.0.
Ein Massenphänomen ist so entstanden, dessen Auswirkungen bislang nur zu erahnen
sind. Im Kleinen lassen sie sich bereits beobachten, zum Beispiel in der Branche der Enzyklopädisten: Noch Ende der achtziger Jahre konnte die Britannica für ihre Gesamtausgabe etwa 2000 Dollar verlangen. Jetzt wird das aufwendig erarbeitete Geistesmonument für rund 30 Dollar auf CD-Rom verscherbelt. Vergleichbare Qualität gibt es dafür bei Wikipedia völlig kostenlos - wenn man einer Untersuchung der Wissenschaftszeitschrift »Nature« folgt.
Bedeutet Masse auf einmal Klasse? Der amerikanische Wirtschaftsjournalist James Surowiecki glaubt: »Unter den richtigen Umständen sind Gruppen bemerkenswert intelligent - und oft klüger als die Gescheitesten in ihrer Mitte.« In seinem Buch »Die Weisheit der Vielen« gibt er zahlreiche Beispiele für die These, dass Gruppen schlauer sind als Einzelne. Sein Ergebnis: »Im kollektiven Wissen liegt die Lösung.«
Was aber bedeutet das für die Medien-, Wissens- und Unterhaltungsindustrie? Werden ganze Branchen umgepflügt, werden Traditionskonzerne untergehen, weil sie sich nicht rechtzeitig der neuen Zeit angepasst haben und völlig neue Unternehmen oder gar Non-Profit-Bewegungen an ihre Stelle treten? Und welche Folgen hat es für die Gesellschaft, für Politik und Kultur, wenn Massenkommunikation eine Sache für jedermann wird?
Mehr als fünf Jahre ist es her, dass die Internet-Blase an der Börse platzte - und plötzlich ist die gute alte New Economy wieder da. Wieder werden Internet-Seiten für Hunderte von Millionen Dollar verkauft. Wieder beschwören Trend-Gurus Joseph Schumpeters Kraft der »schöpferischen Zerstörung«. Wieder schwellen die Kurse an, denn kaum haben sich wenige Überlebende wie Google in kürzester Zeit als Milliardenkonzerne etabliert, drängen schon völlig neue Namen nach vorn.
Beispielsweise MySpace.com. Die amerikanische Kontakt- und Entertainmentbörse für Teens und Twens wurde im Juli 2003 gegründet. Inzwischen melden sich jeden Tag weit über 200 000 neue Fans an. Fast aus dem Nichts wurde MySpace zur viertgrößten Web-Seite der englischsprachigen Welt: ein bunter Jahrmarkt, auf dem inzwischen auch immer mehr deutsche Kids ihr virtuelles Poesiealbum verfassen oder Liebesbriefe schreiben, ihre Fotos und Videos vorzeigen oder den nächsten Flirt aufreißen. Mit 93 Millionen Mitgliedern hat MySpace bereits mehr »Einwohner« als Deutschland.
Oder YouTube.com: Die Internet-Plattform für selbstgedrehte Kurzvideos ging erst im vergangenen Dezember online und hat inzwischen schon 70 Millionen Clips im Angebot; jeden Tag kommen 60 000 neue hinzu.
Ganz gleich ob Flickr, Facebook oder PodShow, egal ob Meetup, Evite oder Technorati: Junge Internet-Firmen werden plötzlich mit Risikokapital überhäuft, nachdem sie jahrelang eher gemieden wurden. Ihre Gründer gelten in Silicon Valley wieder als Stars, ihre Web-Seiten stehen für einen neuen Lebensstil.
Ihr Konzept ist völlig anders als das früherer Internet-Pioniere. Sie betrachten ihr Publikum nicht als passive »user«, sondern als kreative, mitteilungsbedürftige Urheber und Gestalter, die sich fortwährend austauschen wollen und dabei ein bislang eher knappes, teures Gut völlig kostenlos produzieren: Inhalt. »User generated content« und »social networks« lauten deshalb die neuen Zauberworte, die Investoren und Trend-Gurus gleichermaßen elektrisieren.
Zeitungsmacher hatten einst Angst vor dem Radio, dieses fühlte sich vom Fernsehen attackiert - das Aufkommen neuer Medien hat immer für Unruhe gesorgt, doch im Prinzip hat sich seit Gutenbergs Erfindung der modernen Druckerpresse Mitte des 15. Jahrhunderts kaum etwas geändert. Stets gab es wenige - professionelle - Sender und viele, viele Empfänger.
An dieser Grundregel wird jetzt kräftig gerüttelt. Denn das Internet im Jahr 2006 ist mehr als nur Vertriebskanal. Es ist zu einem Ort geworden, an dem die Leute sich unterhalten und darstellen, an dem sie ihr Wissen und ihre Interessen organisieren - oder ganz einfach mit Freunden herumhängen. Es steht für eine Demokratisierung der Massenkommunikation, frei nach dem Motto: Mein Netz gehört mir!
Projekte wie Wikipedia, MySpace und YouTube animieren alle zum Mitmachen und erfüllen so selbst einen Traum marxistischer Medientheorie. Eine wirkliche
Revolution in den Massenmedien, schrieb Hans Magnus Enzensberger vor 36 Jahren, müsse nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen, sondern jeden zum Manipulateur machen.
Schon Bertolt Brecht verlangte seit Ende der zwanziger Jahre, das Publikum solle nicht nur belehrt werden, sondern auch selbst belehren. Über den Rundfunk schrieb er hoffnungsvoll, er »wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens ... wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen«. Erst durchs Internet ist diese Form der Massenkommunikation aller mit allen möglich geworden.
Eine Generation zieht sich online aus, manchmal wortwörtlich, manchmal, indem sie ihre Gefühle und Gedanken, ihren Alltag und ihr Familienleben offen präsentiert - die mediale Distanz lässt auch bisher gültige Schamgrenzen fallen.
Der »gläserne Mensch«, in der Vergangenheit für viele eine Schreckensvision, wird zunehmend zur Realität - für manche gar zum erstrebenswerten Ideal. Wer viel von sich preisgibt, wird interessant, er wird in anderen Blogs erwähnt oder mit »comments« überhäuft. Das ist die neue Ökonomie der Aufmerksamkeit. Für alle, die eine interessantere Online-Version ihres realen Ichs haben, springt nebenbei ein Spiel mit Identitäten heraus - solange es keine Begegnung mit der Wirklichkeit gibt.
Doch es geht nicht nur um Selbstdarstellung, Web 2.0 wird auch Folgen für die politische und gesellschaftliche Entwicklung haben. Mit Blogs und Podcasts lassen sich in einer verlinkten Netz-Gemeinschaft in Windeseile Protest, Boykott und Unterstützung organisieren. Jeder kann seine Meinung über Politik oder Produkte äußern - und im Internet einen machtvollen Verstärker finden. Einst belanglose Splittergruppen können sich übers Web zu einflussreichen Fronten formieren.
Undemokratische Regierungen haben die Gefahr erkannt und versuchen mitunter, globale Suchmaschinen wie Google zu domestizieren - siehe China. Motto: Freiheit, die sich nicht googlen lässt, existiert auch offline nicht.
Einer der wesentlichen Charakterzüge des Web 2.0 aber ist die kollektive Intelligenz: Die Weisheit der Massen erweist sich oft als schneller und aktueller, tiefgründiger sowie - durch zahlreiche Links - breiter als herkömmliche Artikel, Fachbücher oder Forschungsprojekte.
»Die einfache Orientierung an klassischen Autoritäten bricht zusammen«, sagt der Berliner Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz (siehe Interview Seite 66). Anwälte und Ärzte, Journalisten, Lehrer, Professoren und Politiker - alle, die professionell mit Wissen umgehen, seien einem Erosionsprozess ausgesetzt: »An die Stelle von Autorität tritt dieses eigentümliche, breit gestreute, selbstkontrollierte Netzwerk-Wissen.«
So jedenfalls wurde das Platzen der Internet-Blase nicht das Ende, sondern der wahre Beginn der digitalen Revolution. Seither hat die rasante Verbreitung von Breitbandanschlüssen völlig neue Voraussetzungen geschaffen: sowohl technisch, wie wirtschaftlich, politisch und kulturell. Erst jetzt wird sichtbar, wozu das Internet wirklich fähig ist.
Das bekommen vor allem die klassischen Medien zu spüren. Denn wenn informative und unterhaltsame Inhalte umsonst im Web entstehen und ein globales Publikum finden: Wer soll dann noch aufwendig erstellte Zeitungen, Sendungen, CDs und Filme kaufen? Ein weltweites Milliardengeschäft ist bedroht. »Jeder ist in Gefahr«, sagt Trendforscher Paul Saffo vom Institute for the Future in Palo Alto über die veränderte Wirtschafts- und Gesellschaftswelt.
Eines der prominentesten Gesichter der Web-2.0-Generation ist Caterina Fake. In diesem Frühjahr brachte sie es zusammen mit ihrem Mann, Stewart Butterfield, bis auf die Titelseite von »Newsweek": als Pioniere des neuen »Wir«-Gefühls im Netz.
Fake hat zwar schon seit 1994 für Startups im Silicon Valley gearbeitet, sie hat Websites für Firmen wie McDonald's gebastelt, Online-Zeitschriften gegründet und Foren ins Leben gerufen. Und sie gehört zur ersten Generation der Blogger. Seit 1999 schreibt sie beinahe täglich neue Beiträge für ihr Online-Tagebuch. Sie selbst zählt sich »zu den Ureinwohnern des Internet«.
Der größte Erfolg ihres Lebens war trotzdem eher Zufall. Nach dem Zusammenbruch der New Economy waren Fake und Butterfield ins kanadische Vancouver
gezogen, wo sie ein komplexes Online-Spiel entwickelten. »Game Neverending« würde wahrscheinlich heute noch eine Nischenexistenz fristen, hätte es damals nicht eine interessante Zusatzfunktion geboten: Die Spieler konnten hier unkompliziert ihre Digitalfotos online stellen - und das taten sie massenhaft. Binnen weniger Wochen wurde der ungewöhnliche Bilderdienst zum eigentlichen Renner des Spiels.
Das war das Ende von Neverending - und die Geburtsstunde von Flickr. Nur zwei Jahre später ist die Internet-Seite zu einem riesigen, internationalen Bilderreigen geworden, zu einem gemeinsamen Familienalbum der globalen Netz-Gesellschaft. Rund vier Millionen Menschen laden im Sekundentakt ihre Bilder auf die Server der jungen Firma.
Es gibt Schnappschüsse von Hochzeiten, von Sonnenuntergängen und Straßenprotesten in Katmandu. Freunde und Verwandte kommentieren gegenseitig ihre Fotos, Fremde finden sich zu virtuellen Gruppenausstellungen zusammen, in denen es ums Zuprosten geht ("Cheers") oder um Architektur in Aserbaidschan. Einen »Platz, auf dem die Leute zusammenkommen«, nennt Fake Flickr.
Doch die Internet-Seite ist inzwischen weit mehr als ein Forum für Millionen Hobbyknipser. Ihre globale Präsenz ist von professionellen Fotografen nicht zu schlagen. Als »Augen der Welt« bezeichnet deshalb Butterfield das Unternehmen. Er ist überzeugt, dass im Nachrichtengeschäft die besten und frischesten Fotos oft auf Flickr zu finden seien - und nicht bei klassischen Agenturen wie Reuters, AP oder Getty.
Ganz gleich, ob beim Tsunami in Südostasien, bei den Terroranschlägen von London oder den Studentenunruhen in Paris: Längst greifen auch etablierte Medien auf die Arbeit der Amateurfotografen zurück.
Im besten Fall wird die neue Plattform zur Startrampe für Karrieren, die im Offline-Leben kaum denkbar wären. Rebekka Guoleifsdottir, eine 28-jährige, alleinerziehende Mutter aus Island, hatte früher wenig Ahnung vom Fotografieren. Dann begann sie, ihre Bilder ins Internet zu stellen: Selbstporträts und Bilder ihrer Söhne, Buchten, Wasserfälle, verfallene Häuser. Inzwischen wurden ihre Bilder hunderttausendfach angeklickt. »Fotografie ist mein Leben geworden«, sagt sie. Solche Karrieren rütteln auch die Branchenriesen wach.
2811 Mission College Boulevard in Santa Clara, Kalifornien: Am Ende eines großen Parkplatzes steht ein schmuckloses Bürogebäude. Drinnen gibt es eine Empfangsdame und Großraumbüros - Gewerbegebietseinheitslook. Hier residiert Yahoo, ein Milliardenkonzern, der selbst erst vor gut einem Jahrzehnt als bunter Haufen um Gründer Jerry Yang entstanden und eine Ikone der Web-1.0-Ära geworden ist.
Hier arbeiten Fake und Butterfield, die ihre Firma im Frühjahr 2005 für eine zweistellige Millionensumme an Yang verkauften. Flickr war damals gerade profitabel geworden; das Unternehmen verdient, indem es Speicherplatz für Fotos verkauft oder wenn Kunden ihre Schnappschüsse ausdrucken oder zu Kalendern, Büchern und Postkarten verarbeiten lassen. Die beiden Gründer sind jetzt so eine Art Abteilungsleiter im Yahoo-Reich geworden, mittags kann man sie in der Kantine treffen. Powerpoint-Präsentationen und lange Meetings, budgetieren, fokussieren und visionieren - Butterfield findet solche Konzernmethoden immer noch »verrückt«. Manches sei nützlich, sagt er, »und manches nicht so sehr«.
Noch vor wenigen Jahren wurden Startup-Karrieren ganz anders gekrönt: mit einer rauschenden Party an der Wall Street zum Börsengang. Doch inzwischen gelten im Silicon Valley andere Regeln als in der Gründerzeit der neunziger Jahre. Viele Pioniere aus dieser Epoche sind, so sie überlebt haben, zu mächtigen Paten der Hightech-Szene zwischen San José, Palo Alto und San Francisco geworden.
Drei, zwei, eins - meins: Kaum jemand greift so beherzt zu wie Ebay-Chefin Meg Whitman, die den deutschen Werbeslo-gan für ihr Online-Auktionshaus verinnerlicht hat. Für rund 630 Millionen Dollar schlug sie bei der Preisvergleichsseite shopping.com zu; 1,5 Milliarden Dollar war ihr das Online-Bezahlsystem PayPal wert; die Internet-Telefonfirma Skype nahm sie für mindestens 2,5 Milliarden in ihr Reich auf.
Amazon, Cisco, Google und Microsoft: Amerikas Hightech-Konzerne langen derzeit zu, wo sie nur können; mitunter aus schierer Angst, den Anschluss zu verlieren. Die besten Online-Innovationen fänden an der Basis statt, und sie hätten »sehr zerstörerische« Auswirkungen auf die etablierten Konzerne, warnte Microsoft-Gründer Bill Gates Ende vergangenen Jahres per Memo seine Kollegen.
Die Kapitäne der alten Industrien wollen ebenso wenig fehlen, wenn die Welt online geht. News-Corp-Eigner Rupert Murdoch, 75, kaufte MySpace vorigen Sommer für gut 580 Millionen Dollar. Ex-Paramount-Studioboss Barry Diller, 64,
legte sich für 1,85 Milliarden Dollar die Suchmaschine AskJeeves zu. Und auch Viacom-Gründer Sumner Redstone will es offenkundig wissen: Der 83-Jährige gilt als potentieller Käufer von Facebook.
Facebook, eine Kontaktbörse für Studenten, wurde erst vor zwei Jahren von einem damals 19-jährigen Harvard-Schüler gegründet. Inzwischen ist die Seite für einen Milliarden-Dollar-Deal im Gespräch.
Solche Aussichten haben sich längst auch in der deutschen Internet-Szene herumgesprochen. Wie schon beim letzten Hype sind auch diesmal wieder »Entrepreneure« von Berlin bis Wetzlar höchst aktiv. Manchmal reicht es ja schon, sich an amerikanische Geschäftsideen anzulehnen. Was in Amerika MySpace.com heißt, nennt sich dann in Deutschland dugehoerst-zu-meinen-freunden.de
Der Kölner Wirtschaftsstudent Christoph Berger, 27, gründete Anfang März mit seinem 25-jährigen Bruder und einem Partner ein Netzwerk für deutsche Studenten. In der Nacht zum 28. April stellten sie studylounge.de ins Web - ein Volltreffer. In nur drei Wochen meldeten sich 10 000 Menschen an, jeden Tag kommen über 1000 Neue hinzu. »Es geht richtig ab«, sagt Berger.
Studylounge ist eine Mischung aus Mensa, Hörsaal und schwarzem Brett, aus Uni-Zeitung und Studentenkneipe. Mitglieder können ihre Uni, Studienfächer und private Vorlieben angeben, Fotos hochladen und auf einer virtuellen Pinnwand Nachrichten schreiben. Sie können online Freunde sammeln und virtuelle Gruppen gründen wie die »Dortmunder Partyanimals« oder »Chemie ist toll!!«.
»Unser Vorbild ist Facebook«, sagt Berger, der die Erfolgszahlen des amerikanischen Uni-Portals auswendig kennt: Knapp die Hälfte aller US-Studenten haben ein eigenes Facebook-Profil. In Deutschland sind rund zwei Millionen Menschen an einer Uni eingeschrieben. »Ich glaube, wir haben ein großes Potential«, sagt Berger.
Es herrscht wieder Gründerzeit in der deutschen Online-Welt. Es gibt wieder Partys wie die zum zehnten Geburtstag von SinnerSchrader, jener Hamburger Internet-Agentur, die als eine der wenigen den großen Crash überlebte. Von »neuer Lust und neuer Leidenschaft« war dort die Rede, der Untergang der klassischen Medien schon wieder in Sicht.
Und es gibt wieder Stammtische wie den »Web Montag«, der in Städten wie Köln, Berlin, München und Hamburg Gründer, Anwender, Blogger und dergleichen zu Diskussionen über »Social Bookmarking« oder »E-Democracy« versammelt - an Orten, die sich zum Beispiel newthinking store nennen.
Vasco Sommer hat all das schon einmal erlebt. Neulich, beim Berliner Web Montag, ist er mal wieder auf einen der jugendlichen »Business-Leader« gestoßen. »Hast du Programmierer?«, hat der ihn aufgeregt gefragt, »ich brauche mindestens zehn davon, sofort!« »Alles ist wie früher«, sagt Sommer.
Damals, 1997, gründete er mit seinem Geschäftspartner Florian Wilken kontakt anzeigen.de. Das Kleinanzeigenportal überstand den Zusammenbruch der New Economy. 2002 verkauften die beiden heute 31-Jährigen ihre Firma und nahmen eine Auszeit. Seit vorigem Jahr betreiben sie in einer Berliner Fabriketage mit blog.de eines der größten deutschen Blogger-foren.
Wie in einer gigantischen Seifenoper breiten dort Online-Chronisten ihre phantasierten oder realen Erlebnisse aus, Figuren wie Chiara Online, die über ihren »ersten Sex seit bestimmt 15 Jahren ohne jede Schutzmaßnahme« ähnlich offen schreibt wie über die Operation ihres Trümmerbruchs in der linken Hand. 50 000 Klicks hat sie mit ihrem Tagebuch in einem halben Jahr erzeugt.
Die Leser geben Kommentare ab, schreiben sich E-Mails und verlinken ihre Seiten untereinander. Da mutet es schon fast rührend an, wenn auch tatsächliche Promis wie die deutsche Schriftstellerin Else Buschheuer, ihr US-Kollege Norman Mailer oder
das Model Eva Padberg das Medium entdecken - die eine früher, der andere später.
Eine Momentaufnahme der Online-Tagebücher auf Sommers Portal jedenfalls würde ein völlig chaotisches Porträt der deutschen Web-Gesellschaft zeigen: Binnen Sekunden folgen Beiträge über den »Da-Vinci-Code« oder den »Herrentag« in Luckenwalde, über Computerprobleme ("Mein neuer PC wird so langsam!"), das Wetter ("Mal sehen, wie es morgen ist") und andere Widrigkeiten ("Ich schreibe auch darüber, dass ich nach wie vor viel Alkohol trinke").
»Man erreicht andere am besten, wenn man von sich selbst etwas preisgibt«, sagt Sommer über seine Blogger. Er will Informationshierarchien abbauen und den Menschen Werkzeuge an die Hand geben, damit sie ihre Kreativität ausleben können - am liebsten gleich international: Sommer und Wilken haben ihr Bloggergeschäft, das sie in Berlin in einem fünfköpfigen Team betreiben, schon bis nach Spanien und Schweden ausgedehnt.
Ist der Markt bereits wieder überhitzt? Zumindest die Auswirkungen an der Börse sind diesmal weniger deutlich. Zwar werden erneut astronomische Preise gezahlt, aber nicht an der Börse, sondern in diskreten Deals mit Murdoch & Co. So bleiben die jungen Firmen von Analysten verschont, die Quartal für Quartal immer phantastischere Umsatz- und Gewinnprognosen erwarten. Die Aussicht auf rasche Milliarden-Deals jedenfalls spült jede Menge frisches Risikokapital in die Firmchen zwischen Palo Alto und San Francisco.
YouTube.com legt ein besonders hohes Tempo vor. Die Video-Plattform hatte erst
vor etwa einem halben Jahr 3,5 Millionen Dollar Startkapital erhalten. Anfang April schoben die Investoren von Sequoia Capital, die auch zu den ersten Financiers von Google gehörten, rasch mehr als das Doppelte nach. Denn die Nutzerzahlen explodieren.
Schon kurz nach dem Start im Dezember waren drei Millionen oft verwackelte Kurzvideos abrufbar: kleine, meist mit Digitalkameras gedrehte Filmschnipsel, häufig von Teens und Twens, die sich als Freizeit-Popstar oder Hobby-Comedian versuchen.
Chad Hurley, 29, ist einer der Firmengründer der Firma. Anfang 2005, erzählt er, drehten er und seine Freunde bei einem Abendessen kleine Videos. Weil die per E-Mail wegen ihrer großen Datenmenge nur schwer zu verschicken waren, tüftelte er - wo sonst als in seiner Garage? - an einer einfacheren Lösung. Das war der Beginn von YouTube.
Seine Firma residiert in einem winzigen Backsteinhaus über Amici's Pizzeria im kalifornischen San Mateo. Im April zählte sie gerade mal 26 Mitarbeiter. Und doch wird sie von den klassischen Fernsehsendern genauso argwöhnisch beäugt wie von Hollywood - weil sie für einen Wandel in der Entertainment-Industrie steht. Bei YouTube gibt es weder einen Studioboss noch Regisseure. Deren Jobs erledigt das Publikum.
»Wir erleben gerade den Übergang zur Clip-Kultur«, sagt Hurley. »Das hier ist eine wirklich demokratische Unterhaltungsform.« Er glaubt, dass zunehmend mehr Menschen selbst für halbstündige TV-Serien weder Zeit noch Geduld aufbringen. Wozu noch stundenlange Oscar-Übertragungen verfolgen, wenn die wichtigsten oder lustigsten Momente kurz darauf bei YouTube über den Bildschirm flackern? Warum ein ausführliches Liza-Minnelli-Interview anschauen, wenn die peinlichsten Ausschnitte auch online zu sehen sind? Ist ein Sekunden-Clip über Präsident Bushs Versprecher bei einer Pressekonferenz nicht viel unterhaltsamer als die Abendnachrichten?
Andererseits: Lässt uns vielleicht genau das auch zu einer Art Best-of-Gesellschaft degenerieren? Einer Welt, die nur noch auf Höhepunkte fixiert ist?
YouTube ist ein buntes, chaotisches Panoptikum. Jeder stellt rein, was ihm gefällt, Urheberrechte spielen nur eine untergeordnete Rolle. Nur wenn sich TV-Sender und andere Urheber beschweren, nimmt das Unternehmen die entsprechenden Clips aus dem Programm. Hurley glaubt allerdings, die klassischen Medien sollten auf Protest lieber verzichten und ihre Inhalte - mittelfristig gegen Gebühr - stattdessen auf seiner Seite promoten. »Wir helfen ihnen, ein völlig neues Publikum anzusprechen.«
Wie schnell und mächtig das Medium funktioniert, haben kürzlich erst drei türkischstämmige Jungs aus dem pfälzischen Germersheim erfahren. Ihr talentfreies HipHop-Video, in einem Jugendtreff produziert, wurde auf YouTube in wenigen Tagen zum Hit der Trashkultur. Über den holprig gereimten und schief gesungenen Song »Wo bist Du, mein Sonnenlicht?« wurde quer durch Deutschland gelacht.
Solche Phänomene wie die gruslige Grup Tekkan aber, die Arctic Monkeys oder Gnarls Barkley zeigen, dass die Fan-Gemeinde im Netz bereits groß genug werden kann, um den einzelnen Künstler übers Web hinaus berühmt zu machen - wenngleich bislang dann auch noch der Plattenvertrag oder TV-Auftritt die Karriere erst richtig befeuert. So scheint es auch nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis Katrin Bauerfeind, Moderatorin des Internet-Fernsehens Ehrensenf.de, eine Karriere in den klassischen Medien startet. Schon jetzt liefert sie mit den TV-Machern Rainer Bender und Carola Sayer täglich eine herrliche Portion Wahnsinn frei Haus - zur Freude von Zehntausenden.
Früher sei Online nur die Idee eines zusätzlichen Vertriebskanals gewesen. Das war der bedeutende Irrtum in der Ära des Web 1.0, glaubt Tim O'Reilly, einer der Vordenker des www. Schon 1992 schrieb er eine erste umfassende Gebrauchsanweisung fürs Internet. Als er im Oktober 2004 in San Francisco eine Konferenz über die jüngsten Netztrends organisierte, wurde der Titel der Veranstaltung, Web 2.0, zum Namen der neuen Ära.
»Die alten Medien haben versucht, das Internet nach ihrem Weltbild zu gestalten«, sagt O'Reilly. Firmen, die jetzt aufsteigen, hätten dagegen die neuen Regeln verstanden.
Was das für Wirtschaft und Gesellschaft heißt, wird erst allmählich deutlich. Die Verunsicherung ist groß. Fachtagungen in den USA sind mit Titeln wie »Der Tod des Produzenten« überschrieben. Das »Live-Web« wird als »das neue Hollywood« ebenso gefeiert wie gefürchtet. Und auch die Werbebranche hat die Macht der Blogger schon zu spüren bekommen.
Kurz nachdem der deutsche Kreativ-Guru Jean-Remy von Matt Weblogs als »Klowände des Internet« bezeichnet hatte, schlugen die Blogger zurück. Der überraschte von Matt sah sich angesichts des Proteststurm zu einer öffentlichen Entschuldigung genötigt und lobte die »virale Kraft dieser Medienform«.
Kaum abzusehen sind die Folgen für die Politik. Neben den traditionellen Nachrichtenmarkt mit seinen professionellen Kommentarseiten, Titelgeschichten, Interviews und Enthüllungen tritt ein anschwellendes Stimmengewirr von politischen Blogs und Podcasts. Die sorgen - in den USA schon deutlich spürbar, in Deutschland erst allmählich - für größere Meinungsvielfalt. Aber zugleich radikalisieren und polarisieren sie auch die Debatte.
»Übers Internet kommen Leute zusammen, die eigentlich nicht miteinander sprechen sollten«, sagt Zukunftsforscher Saffo. Die christlichen Fundamentalisten Amerikas zum Beispiel fanden früher viel schwerer zueinander, sie waren in größere Gemeinschaften eingebunden und konnten ihre Vorstellungen nicht so leicht verbreiten.
Das Web wurde zum idealen Instrument, um ihren Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu verstärkten. »Das ist soziales Dynamit«, sagt Saffo. Er glaubt, dass im Netz viele selbstgewählte virtuelle Gemeinschaften entstehen, die nach eigenen Gesetzen funktionieren und ihre eigene kulturelle Identität entwickeln. Das Internet, sagt er, werde zu einem »völlig unvorhersehbaren Verstärker sozialer Trends«.
Heute müssten sich die fußmüden Veteranen des langen Marschs durch die Instanzen die Augen reiben. Nicht die politisch engagierten Revoluzzer haben die neue Ordnung herbeigeführt, sondern verhaltensunauffällige Stubenhocker vor ihren Bildschirmen. Die Revolution kam nicht von der Straße, sie schlich durch die Hintertür. Erst als aus der Kommune die Community wurde, kam es zum Umbruch der herrschenden Verhältnisse. Seitdem wächst stetig die Meinungsmacht der Blogs und Foren, die auch von den alten Eliten nicht mehr ignoriert werden kann.
Was aber bedeuten diese Veränderungen für die klassischen Medien? Ist die Angst berechtigt, die selbst Medienmythen wie Rupert Murdoch bereits um sein konservativpublizistisches Lebenswerk fürchten lässt? »Gesellschaften und Unternehmen werden scheitern und untergehen, wenn sie glauben, dass ihre glorreiche Vergangenheit sie vor dem Wandel beschützt«, sagte er im März vor britischen Zeitungsverlegern.
Seine Rede klang wie ein Fanal: »Die Macht entgleitet den alten Eliten in unserer Branche, den Chefredakteuren, Verlagsführern und Eigentümern.« Gut ausgebildete Medienkonsumenten wollen nicht mehr geführt werden, sagte Murdoch, in einer wettbewerbsintensiven Welt »können sie alles kriegen, wann sie wollen und so viel sie wollen«.
Spätestens seit der spektakulären Übernahme von MySpace durch Murdochs News Corp im vorigen Sommer ist die Online-Plattform zu einem der momentan bedeutendsten Phänomene der US-Massenkultur aufgestiegen.
93 Millionen Nutzerprofile bilden mittlerweile eine riesige Parallelgesellschaft. MySpacer stellen sich dort mit ihrer eigenen Seite vor: Sie zeigen Privatfotos und -videos, lassen ihre Lieblingsmusik erklingen, beschreiben sich selbst und wen sie treffen wollen. Im »Friend-Space« stehen die Fotos sämtlicher Freunde - wer weniger als hundert vorweist, gilt leicht als Autist.
Ein Online-Tagebuch hält die virtuelle Clique über die jüngsten Erlebnisse auf dem Laufenden. Kommuniziert wird über öffentliche Kommentarlisten, die wie ein modernes Poesiealbum wirken, vollgestopft mit Bildern und belanglosen Kurzbotschaften, mit Komplimenten und mitunter eindeutigen Angeboten.
Die Nutzer seiner Plattform haben drei große Motive, sagt Shawn Gold, Marketingchef von MySpace: »Sie wollen sich selbst ausdrücken, sie wollen mit Freunden in Verbindung treten, und sie wollen ihre Popkultur ausleben.«
So viel Transparenz hat es auf öffentlichen Plätzen wohl noch nie gegeben. Viele MySpacer breiten ungehemmt fast alles über sich aus: vom Gehalt und ihrer sexuellen Orientierung bis zum letzten Vollrausch und den für die nächste Party zu besorgenden Betäubungsmitteln.
Erst allmählich lernen sie, dass ihr Kosmos genau beobachtet wird. Mal sprengt die Polizei ein Event wegen illegalen Alkoholkonsums von Minderjährigen, mal schmeißt ein katholisches College einen schwulen Studenten raus - Eltern, Lehrer, Dozenten und Wachtmeister surfen aufmerksam durch die Profile; selbst Arbeitgeber schauen sich Bewerber inzwischen schon auf MySpace an, bevor sie ein Jobangebot unterbreiten.
Trotzdem macht sich die Online-Gemeinschaft auch in Deutschland langsam breit. Wer sich etwa durch die Profile von Kölner MySpacern klickt, stößt auf eine Mischung aus Schulhof und Science-Fiction, aus Anmache und harmlosem Geplauder über die »Geschi LK Klausur« - ein perfekteres Forum der Selbstdarstellung hat es in früheren Offline-Zeiten nicht gegeben. Mitglieder mit Phantasienamen wie »herr quatsch« oder »Sommerregen« finden sich zu virtuellen Gruppen
zusammen, die meistens irgendwie mit Bands, Partys und Alkohol zu tun haben oder sogar mit alten Karnevalsliedern ("everything has an ending, only the sausage has two").
Rainer Schirrmeister und Daniel Goihl, beide 19, sind zwei von ihnen. Wer die beiden Abiturienten im Café Starbucks am Kölner Friesenplatz treffen will, legt sich am besten selbst ein MySpace-Profil zu, wundert sich ein wenig über die umgehend eintreffende Post fremder Bikini-Schönheiten ("Rachel wants to be your friend") und sucht dann nach »Rainerzufall« und »germany's next popstar«, um einen Termin auszumachen.
Schon mit elf Jahren hatte »Rainerzufall« seinen eigenen Internet-Zugang, seitdem ist er regelmäßig im Netz, zuerst waren es Chatrooms, dann das Instant-Messaging-Programm ICQ, jetzt ist es MySpace. »Ich habe gut 160 Freunde auf meinem Profil«, sagt er, »die meisten kenne ich auch im echten Leben. Ich brauche keine 1000, um glücklich zu sein.«
Das Kölner Nachtleben ist anscheinend trotzdem eine überschaubare Angelegenheit geworden: Wenn die beiden Freunde in ihre Lieblingsclubs gehen, das Underground oder die Live Music Hall, haben sie ziemlich viele Gesichter schon mal irgendwo online gesehen. »,Hey, bist du nicht ,sexy girl' von MySpace' - so ähnlich läuft das dann«, sagt Daniel; viele der Mädchen würden extra-scharfe Fotos in ihr Profil stellen, »in echt«, sagt er, »sind die meistens aber nicht so offen«. Rainer war bis vor kurzem noch Single. »Klar hab ich bei MySpace Freundinnen gefunden«, sagt er, »man kann das gut als Baggerbörse benutzen.«
Die beiden Jungs haben jeder eine eigene Band, »Musik ist absolut grundlegend«, sagen sie, wenn sie ihr MySpace-Leben erklären. Im April legte Daniel ein Profil für seine Band Distinct an, »jetzt haben wir schon über 4000 ,friends'«, sagt er. Hier fand er auch einen neuen Lead-Sänger und Kontakte für Auftritte, die er in England und Frankreich plant.
Über 250 Mitarbeiter kümmern sich am Firmensitz in Santa Monica um die Belange der Gemeinschaft. Die Gewinne des Unternehmens waren bislang eher bescheiden.
Es ist deshalb eine der drängendsten Fragen der Industrie, wie aus dem Massenphänomen auch ein Massengeschäft werden kann. MySpace ist kein zentraler Marktplatz, auf dem sich Shows von News Corp und generell Inhalt, egal welcher Art und welcher Herkunft, einfach promoten ließen. MySpace ist ein Anti-Portal, Aufmerksamkeit entsteht hier von unten, durch eine Art Mund-zu-Mund-Progaganda der Fans. »Wir können das hier nicht als Medienunternehmen betrachten«, sagte News-Corp-Präsident Peter Chernin kürzlich der »New York Times": »Diese Seite wird von ihren Nutzern programmiert.«
Die Frage nach dem richtigen Geschäftsmodell stellt sich deshalb quer durch die gesamte Branche. Zwar gibt es diesmal, so scheint es vorerst, weniger Luftbuchungen als beim ersten Boom; die Technik ist leichter zu nutzen, die Reichweite sehr viel größer. Börsenmillionen verpuffen nicht mehr großflächig in Werbekampagnen. Gemeinschaften wie MySpace, Flickr oder YouTube haben sich an der Basis quasi von selbst aufgebaut. Trotzdem bleibt offen, woher künftige Profite eigentlich kommen sollen.
Eindrucksvoller als die Gewinne sind auch diesmal häufig wieder Ehrgeiz und Visionen. Ron Bloom beispielsweise glaubt, dass schon in fünf Jahren »die Hälfte aller Medieninhalte weltweit von Privatleuten produziert werden wird«. Seine Firma soll eine der wichtigsten Plattformen für »user generated content« werden. »In diesem Bereich«, sagt er, »wollen wir die weltweit größte Mediengruppe aufbauen.«
Anfang 2005 hat Bloom zusammen mit dem früheren MTV-Moderator Adam Curry PodShow gegründet - eine Plattform für Freizeitmoderatoren, die übers Web ihre selbstproduzierten Radioshows ausstrahlen wollen.
Zurzeit residiert der künftige Weltkonzern noch mit 40 Mitarbeitern in einer Fabriketage in San Francisco. Mit 200 exklusiven Hobbysendungen hat PodShow trotzdem schon eine riesige Fan-Gemeinde gefunden. Zuhörer weltweit laden sich regelmäßig Beiträge vom »weekly wine podcast« bis zu »Keith and his girlfriend talk shit« auf ihren Computer.
Bloom findet, dass man diese Entwicklung nicht hoch genug einschätzen kann. »Vor zehn Jahren konnte es sich kein normaler Mensch leisten, eine eigene Zeitung zu drucken oder eine Radiofrequenz zu kaufen«, sagt er. Heute sind nur ein paar Mausklicks erforderlich.
Was da ins Netz gestellt wird, hat allerdings nicht mehr viel mit klassischem Radio und traditioneller Werbung zu tun. So unprofessionell, frisch und authentisch wie die Sendungen wirkt auch das Sponsoring. »Ich trinke ja selbst kein Bier, find's aber klasse, dass Heineken meine Sendung unterstützt. Meine Freunde sagen, das sei ein Super-Bier« - so ähnlich klingt Reklame im Podcast-Zeitalter. Bloom sagt, auf diese Weise nehme er schon jetzt Millionen ein. Für eine Sendung wie »MommyCast«,
in der zwei Frauen aus dem Vorort über ihre Babys und ihr Familienleben plaudern, hat er einen sechsstelligen Sponsoren-Deal mit einem Windelproduzenten vermittelt.
Manche Podcaster starten steile Karrieren - so wie Gruselautor Scott Sigler, der jahrelang vergeblich versuchte, einen Agenten oder Verlag für seine Romane zu finden. Dann begann er, sein Werk kapitelweise und als Audiodatei online unters Volk zu bringen. Mehrere zehntausend Fans hören ihm inzwischen Woche für Woche zu, einige Bücher wurden längst gedruckt und tausendfach verkauft.
Andere klingen, als sei das Radio gerade erst erfunden worden: »Oh, ich bin zu leise, hallo, hört ihr mich?« - so geht es zu, wenn zum Beispiel Larissa Vassilian alias Annik Rubens ihren Podcast »Schlaflos in München« sendet. Die Nachwuchsmoderatorin plaudert ohne Punkt und Komma. Es geht um ihre Heimorgel, sehr häufig um ihren Kater »Tiger« oder auch darum, »endlich diese ominöse Vorhangstange zu installieren, von der ich euch ja schon erzählt habe«. Ihre Fans kommentieren das auf Rubens' Web-Seite durchaus kritisch ("Diese Scheißkatze nervt"), trotzdem hören bis zu 10 000 Menschen zu. Authentischer als die ewiggleichen tollsten Hits der Achtziger, Neunziger und das Beste von heute im kommerziellen Rundfunk sind solche Podcasts allemal.
Hobbyschreiber, -fotografen, -filmer und -moderatoren, die im Internet kostenlos gegen ihre professionellen Kollegen konkurrieren; Informations- und Unterhaltungsformen, die bestens ohne Sendeanstalt und Verlag funktionieren: Solche Herausforderungen hat es für die Medien - und die Mediengesellschaft - bislang nicht gegeben.
In seiner Brandrede vor britischen Zeitungsverlegern fand Rupert Murdoch dennoch ein versöhnliches Fazit. »Großartiger Journalismus wird immer Leser finden«, sagte er. Murdoch glaubt, dass Nachrichtenorganisationen weiterbestehen, wenn sie unverzichtbare Inhalte schaffen und diese in dem Medium liefern, das ihren Lesern am besten passt.
Wikipedia-Gründer Wales steht für eine andere Position. Vor einiger Zeit saß er bei einer Podiumsdiskussion neben dem Chef von USA Today online. »USA Today« ist die größte Tageszeitung Nordamerikas, die Redaktion ihrer Online-Ausgabe ist personell bestens ausgestattet. Wales hatte zum Zeitpunkt der Begegnung überhaupt keinen Angestellten - und trotzdem mehr Verkehr auf seiner Internet-Seite. »Das war cool«, sagt er.
Neulich, an einem warmen Maiabend in Berlin, saßen rund 30 seiner Hobby-Enzyklopädisten ausnahmsweise in Echtzeit und ganz real zusammen, bei Grillwürsten und Bier am Spreeufer gleich gegenüber der Jannowitzbrücke, manche hatten ihre Laptops dabei.
Eine eigentümliche Feierabendakademie hatte sich da versammelt, es gab Experten für Fahrräder und Drogenpolitik, für Ufos und Kroatien. Jaan-Cornelius Kibelka war dabei, ein 16-jähriger Gymnasiast, der alles über U-Bahnen weiß und für seinen Artikel über Budapest dort jede Station besuchte. Eine andere Autorin stellte sich als Juliana C. vor; sie schreibe Beiträge über Pornografie und Erotik. »Ich habe lange als Prostituierte gearbeitet und zu viel Quatsch über diese Themen gelesen«, erklärte sie ihre Motivation.
Ganz klein fing das alles vor ein paar Jahren an. Es gab ein paar eher belanglose Artikel ("Die Nordsee ist ein Teil des Atlantiks und somit ein Meer") und nur wenige Autoren. Kurt Jansson, ein Berliner Soziologiestudent, gehörte dazu. Wikis waren an seinem Uni-Institut damals, 2002, ein Fremdwort, die Diskussion dort war in den neunziger Jahren steckengeblieben. Jansson legte deshalb 700 Zettel mit einer Ankündigung für sein »autonomes Seminar« in Vorlesungsverzeichnisse. Der Titel ("Freie Software - Freies Wissen - Freie Gesellschaft?") beschreibt ziemlich gut, was danach passierte.
Inzwischen ist Jansson, 29, Vorsitzender des deutschen Wikimedia-Vereins. Über 420 000 Artikel haben er und über 20 000 weitere Autoren seither verfasst. Ihr Web-Lexikon gehört zu den beliebtesten Internet-Seiten Deutschlands. 95 Prozent aller Gymnasiasten machen sich laut Umfragen bei Wikipedia schlau.
Irgendwann im vorigen Jahr entstand dann der Plan, die gesammelte Erkenntnis der Online-Enzyklopädie zu Papier zu bringen. Ein Berliner Verlag war brennend interessiert und wollte gleich 100 Bände drucken - ein direkter Angriff auf Brockhaus, Britannica & Co.
Das Vorhaben platzte. »Unsere Community ist noch nicht so weit«, sagt Jansson. Seine Wikipedianer wehrten sich erbittert gegen diese Kommerzialisierung ihres Projekts. Und gegen den Versuch, ihr täglich wachsendes kollektives Wissen für die Ewigkeit unveränderlich zwischen Buchdeckel zu pressen. FRANK HORNIG