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»Du bist du, und ich bin ich«

aus DER SPIEGEL 25/1978

Almut ist ausgezogen«, sagt der großgewachsene, salopp sich bewegende Sportsmann Anfang Dreißig, der mit einem überraschten »He, Frank!« an den Nebentisch gerufen worden ist. Er sagt es auf die Frage, wieso er denn allein sei, und er sagt es ohne Betonung, ganz sachlich. Der Mann und die Frau, die ihn hergerufen haben, lächeln synchron.

»Ihr hättet es machen sollen wie wir«, sagt der Mann am Nebentisch, während die Frau, noch immer lächelnd, eine Strähne Spaghetti carbonara um die Gabel wickelt. »Gar nicht erst zusammenziehen.«

Die Kneipe, in der, offenbar zufällig, dieser Dialog stattfindet, ist ein merkwürdiges Mittelding zwischen Pub und Bistro, lokalisiert in einem jener großstädtischen Reviere, die ungeachtet ihrer gutbürgerlichen Vergangenheit plötzlich zu Schauplätzen modischer Trends werden. Sie ist vorübergehend »in«, bei einem bestimmten »Set« jedenfalls, bunt gemischten Aufsteigern um die Dreißig, deren Abende allemal »open end« verlaufen.

Frank hat sich inzwischen hingesetzt zu dem Paar, das also gar keines ist. Oder doch: Die beiden haben sich, erfährt er jetzt, sogar ein Haus zusammen angeschafft, ein Bauernhaus in der Marsch, dreißig Kilometer weg. Aber da sind sie nur am Wochenende gemeinsam. Im übrigen hat jeder seine Wohnung in der Stadt behalten; ist dem jeweils anderen zu nichts verpflichtet, noch nicht mal zu Kompromissen. Man besucht sich, wenn man Lust hat.

Und das geht? Franks Skepsis ist freilich nicht mehr so recht bei Kräften. Er hat mit Almut fünf Jahre zusammengelebt, und vor drei Jahren, als sie miteinander in diese fremde Stadt kamen, sind sie eher noch enger zusammengerückt. Zu eng eben, beklemmend eng. Frank hat sich das selber nur widerstrebend und seiner Almut im Grunde gar nicht eingestanden. Sie hat es gespürt, aber nicht begriffen, hat Hilfe gesucht, ist schließlich gegangen -- zu einem anderen.

Nein, Frank will nicht getröstet werden. Es geht ihm erstaunlich gut so. Er will auch, wenn er das bezahlen kann, die geräumige Wohnung in Stadtmitte erst mal behalten, will da wohnen bleiben, allein.

»Na, bitte!« Der Applaus kommt von der vierten Person am Tisch, einer Frau, etwas älter als die übrigen drei, aber attraktiv. Sie war mit den beiden Bauernhausbesitzern im Kino und hat vorhin schon zum Aufbruch gedrängt, weil ihr Babysitter sonst sauer wird. Jetzt hat sie sich wieder gegen die holzgetäfelte Wand gelehnt, an der eine übergroße Toulouse-Lautrec-Reproduktion mit allerlei englischem Messing koexistiert, und betrachtet Frank beifällig.

»Ich habe ja eine ziemlich üppige Wohnung«, sagt sie, »aber was ich mir nicht mehr vorstellen kann: daß jemand wieder mit Sack und Pack zu mir zieht. Grauenhaft! Dann lieber allein bleiben.«

Doch, sicher hat sie Defizite; die gibt sie auch zu. »Jemand, mit dem man beim Frühstück reden kann, bei dem man sich mal anlehnen kann -- das vermisse ich durchaus.« Aber sie hat eben auch Ansprüche, »sehr hohe Ansprüche«, wie sie wohl weiß; zu hoch vielleicht, aber dennoch unverzichtbar. »Mann ist Mann, und wenn er im Bett sitzt und hustet -- das nicht mehr!«

Sie hat einen vierjährigen Sohn; den hat sie auch haben wollen, bevor es für sie zu spät wurde, Kinder zu kriegen. Und natürlich hat sie einen Beruf. Für einen Mann, mindestens einen Ehemann, bleibt da nun »eigentlich keine Zeit mehr«.

Der Babysitter, den sie jetzt ablöst, ist übrigens der Vater ihres Kindes. Und sie wird ihn ganz bestimmt nicht heiraten.

»Das grassiert wie ein Virus«, sagt Frank leise.

Was grassiert da? Hat ein Spaltpilz die Paar-Gesellschaft befallen? Formiert sich dort, wo vordem Familien gegründet worden sind, die neue Gesellschaft der Freien und Einzelnen, um deren Fortbestand man besorgt sein muß?

Wir sind umzingelt von Getrennten, gewiß. Das beweisen beileibe nicht nur die Scheidungsziffern. Wenn es Trennungsanzeigen gäbe, so wie es Verlobungs- und Heiratsanzeigen gibt, dann wären die Zeitungen und die Briefkästen vermutlich voll davon. So etwa: »Wir fallen einander nicht mehr zur Lust. Hans Meier, Grete Müller«, folgt Datum, folgen separate Adressen.

Aber wenn man die gesamte Bevölkerung als Maßstab nimmt (und das muß man ja wohl), dann sind die Menschen, die allein leben, obwohl sie anders könnten, eine kleine radikale Minderheit. Von allen privaten Haushaltungen in der Bundesrepublik Deutschland sind nur etwas mehr als ein Viertel sogenannte Einpersonenhaushalte, also Haushalte, in denen Menschen allein leben; und von, diesen sind fast die Hälfte Senioren im Pensionsalter, jenseits 65.

Eine Minderheit ist bestimmt auch jene schnauzbärtige Spezies mehr oder minder linker, mehr oder minder jugendlicher Intelligenzler, die einigermaßen ungebunden in trendgerecht reaktivierten Bürgerhäusern leben und sich durchaus für Bafög und andere staatliche Leistungen interessieren, es aber strikt ablehnen würden, als Familienväter Kinder in die Welt zu setzen, die später mal ihre Renten bezahlen.

Gezählt hat das natürlich keiner, aber wenn nicht alles trügt, dann haben die Mehrheit eher jene Teens und Twens, die sogar noch auf Kostümfesten paarweise und händchenhaltend auftreten und die gar nicht so aussehen, als wären sie gegen Arterhaltung.

Nur: Es ist ja dennoch wahr -- und bedarf angesichts alltäglichen Augenscheins eigentlich gar keines Beweises mehr -, daß die herkömmlichen Formen mitmenschlichen Zusammenlebens in Zweifel geraten, daß sie für eine wachsende Zahl von Menschen in mittleren Lebensjahren nicht mehr praktikabel sind.

»Die Kernfamilie zerfällt«, konstatiert der Kanadier Edward Shorter, Professor an den Universitäten Toronto und Montreal, in seinem spektakulären Buch über »Die Geburt der modernen Familie«.

Sie ist, schon aus ökonomischen Gründen, nicht mehr das, was sie einmal war, nämlich eine Gemeinschaft zur Sicherung der nackten Existenz. Die zu neunzig Prozent vom Lohn abhängigen Zeitgenossen brauchen zum Überleben nicht, wie ehedem, Kinder als Arbeitskräfte und unmittelbare Altersversorger. Außerdem haben die Eltern ihre traditionelle Rolle als Erzieher mehr und mehr auf die Altersgenossen ihrer Kinder übertragen, ob nun freiwillig oder nicht.

Unter diesen Umständen wird schließlich auch die am Ende des 18. Jahrhunderts aus der -- mehrere Generationen umspannenden -- Großfamilie entstandene Kernfamilie, also bloß

Eltern plus Kinder, zum Relikt; mindestens verliert sie ihre Bedeutung als Bindeglied zwischen den Generationen.

Nicht besser ergeht es der Ehe, im Gegenteil. Vorbote für die Veränderung familiären Zusammenlebens ist ja doch das, was Edward Shorter »die wachsende Instabilität des Paares« nennt. Das Scheitern der Ehe als eine Zweierbeziehung auf Dauer, so glaubt er, ist nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert, ein mit Schimpf beladenes Unglück, sondern eine ernst zu nehmende Möglichkeit: »Die Menschen müssen sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie normalerweise nicht damit rechnen können, ihr ganzes Leben zusammen zu verbringen.«

Schuld daran ist, jedenfalls für Shorter, einmal »die Intensivierung des erotischen Lebens des Paares« samt dem damit verbundenen höheren Risiko einer Auflösung der Ehe, zum anderen die Tatsache, daß die Frauen wirtschaftlich unabhängiger geworden sind und es sich ergo leisten können, unerwünschte Verbindungen zu lösen.

Schuld daran ist aber gewiß auch jene epidemisch um sich greifende Verunsicherung, die mit der Demontage des hergebrachten Rollenverständnisses von Mann und Frau über das heterosexuelle Miteinander hereingebrochen ist.

Immer mehr emanzipierte Frauen weigern sich (oder sind effektiv außerstande), innerhalb der Familie oder auch im Innenleben des Paares zuständig und bereit zu bleiben für das Emotionale, für Wärme, Geborgenheit, Nachsicht -- für alle jene Eigenschaften also, die jenseits der ökonomischen oder reproduktiven Funktionen von Ehe und Familie deren Potenz zur Sinnstiftung, zur Vermittlung von Zufriedenheit ausgemacht haben.

Und die Reaktionen der Männer auf diese Verweigerung reichen, um es mit den Worten einer Frau zu sagen, »vom Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen über Schwierigkeiten in der eigenen, plötzlich mit anderen Prämissen versehenen Rolle über Selbstmitleid und Regression zur Kindfrau bis hin zu bewundernder Anerkennung« (Christine Brinck im »Zeit-Magazin").

Dies alles aber führt zwangsläufig zur Suche nach alternativen Möglichkeiten des Zusammenlebens -- seien es Wohngemeinschaften als zeitgenössische Varianten der alten Großfamilie, seien es »offene Ehen« ohne jede physische Exklusivität oder schlichtweg

* Gemälde von Friedrich Georg Waldmüller (1793-1865): »Großvaters Geburtstag«

»sinnvolle Zweierbeziehungen«, in denen »Kommunikation« und »funktionierende Sexualität« nicht bloß terminologisch an die Stelle von Liebe und Zugehörigkeit treten.

Aber so weit man blicken kann, wird nicht wirklich neues Terrain gewonnen dabei. In den meisten heterosexuellen Wohngemeinschaften reproduzieren sich verstärkt die nämlichen Konflikte, denen die Paar-Flüchtigen doch gerade zu entgehen hofften. Und nur ganz ausnahmsweise beweist sich eine »offene Ehe« auf die Dauer auch als eine »sinnvolle Zweierbeziehung«.

Selbst ein so nüchterner Begriff wie Partnerschaft ist dem Verschleiß anheimgefallen. Günter Graß« dessen Bestseller »Der Butt« ja vornehmlich als Auseinandersetzung mit einer Emanzipation gemeint ist, die sich an männlichen Leitbildern orientiert, die »eigentlich nur gleichziehen will« -- Graß begreift Partnerschaft unter diesen Umständen bloß noch als »Umschreibungen eines Verhaltens zueinander, das bindungslos ist, jederzeit auflösbar, von Vorsicht diktiert. Nur nicht sich aufeinander einlassen«.

Was Rainer Maria Rilke noch schwärmerisch als »zwei Einsamkeiten« beschrieben hat, die »einander schützen, grenzen und grüßen«, das ist für Günter Graß jetzt »das zweimal absolut gesetzte Ich, wobei die Bindungsangst der Männer, die seit Jahrhunderten anhält und zum dauernden Fluchtverhalten geführt hat, nun auch noch von den Frauen praktiziert wird«.

Praktikable Alternativen zum Paar, zur Familie? Sie sind nicht zu sehen. Kein Wunder: Die gesellschaftlichen Regeln, die jahrhundertelang die Rollen von Mann und Frau, die Form von Ehe und Familie bestimmt haben, sind ja nicht nur Schranken gewesen, sondern auch Leitlinien. »Der Entzug dieser Orientierungshilfen«, so der Schweizer Psychiater Jürg Willi in seinem bemerkenswerten Buch über die »Zweierbeziehung«, »gibt den Jungen heute eine eher hypothetische Freiheit, die sie oft mehr verunsichert als glücklicher werden läßt.« Als eine Art »Idealnorm, der viele nachstreben"« hat sich, laut Jürg Willi, das Bild einer freien Beziehung emanzipierter Partner herauskristallisiert, die nur so lange Bestand hat, wie sie den Beteiligten »uneingeschränkte Selbstverwirklichung« garantiert und durch »unverpflichtete Liebe« am Leben bleibt. »Von dieser Idealnorm sind nun aber viele -- vielleicht alle -- überfordert.«

So ist es. Und wenn es so ist, wenn viele, vielleicht alle Betroffenen von dieser neuen Idealnorm des Zusammenlebens überfordert sind, dann kann die Reaktion ja nur ein Rückzug sein -- der Rückzug ins Leben allein.

Denn wo Alternativen zur Partnerschaft nicht zu finden sind oder sich als nicht praktikabel erweisen, da wird das Alleinsein selber zur alternativen Lebensform.

Das ist in Wahrheit schon geschehen. Weder die »offene Ehe« mit Partnertausch noch das vielgestaltige Experiment mit neuen Wohngemeinschaften ist die am häufigsten -- und mit der meisten Aussicht auf Erfolg -- praktizierte Alternative zur Paar-Gesellschaft, sondern das Leben allein.

Gewiß ist es nur eine Minderheit, die diese alternative Lebensform erprobt, aber eine in jeder Beziehung beträchtliche Minderheit -- jedenfalls bei weitem stark genug, um in der Entwicklung westlicher Industriegesellschaften einen Trend zu konstituieren.

In Amerika ist dieser Trend schon seit geraumer Zeit zu beobachten und auch statistisch zu belegen. Beim US-Census-Büro, dem dortigen Statistischen Bundesamt, spricht einer der Direktoren, Vincent P. Barabba, ganz offiziell von der deutlich erkennbaren »Entwicklung eines Trends zu einer größeren Anzahl von Personen, die ihr Leben lang ledig bleiben wollen«.

Laut Census-Büro leben 15,5 von 215 Millionen Amerikanern allein und bilden 21 Prozent aller Haushaltungen des Landes, eine Minderheit also. Entscheidend aber ist, wie schnell diese Minderheit gewachsen und wie sie zusammengesetzt ist. Die Zahl der alleinlebenden Amerikaner unter 35 Jahren zum Beispiel ist von 1970 bis 1977 um 135 Prozent angestiegen.

Bereits in den sechziger Jahren hat die Zahl der Einpersonenhaushalte in USA überproportional zugenommen, und in der Mitte der siebziger Jahre beginnt diese Entwicklung sich förmlich zu überschlagen: Von den 1976 neu gegründeten 1,3 Millionen Haushaltungen kommen nur ganze 174 000 auf Ehepaare, während mehr als dreimal so viele, nämlich 549 000, neue Einpersonenhaushalte sind.

Und von den restlichen neuen Haushaltungen entfällt der größte Teil auch noch auf Ein-Eltern-Familien -- also auf alleinstehende Väter und Mütter mit ihren Kindern. Wenn man diese alleinerziehenden Eltern mitrechnet, dann ist schon heute einer von drei amerikanischen Haushalten kein Paar-Haushalt mehr.

Frank Fürstenberg, Soziologe an der Universität von Pennsylvania und Familienspezialist, beschreibt die Amerikaner der Zukunft denn auch als Einzelwesen, die nur noch einen kleinen Teil ihres Lebenslaufs familiären Existenzformen widmen werden -- »außerhalb dieses Abschnitts werden die Menschen ihre Zeit allein zubringen oder in Übergangsbeziehungen (transitory arrangements)«

Und Arthur Norton, Chef der Abteilung Familie und Ehe im Census-Büro, sagt voraus, daß 1985 bereits 26 Prozent aller amerikanischen Haushalte Einpersonenhaushalte sein werden.

Das aber ist eine Prophezeiung, die von den tatsächlichen Gegebenheiten in der Bundesrepublik Deutschland schon heute ein ganzes Stück übertroffen wird.

Wer erwartet hat, daß Amerika uns, wie sonst immer, in der Entwicklung gesellschaftlicher Trends um runde zehn Jahre voraus sei, muß sich überraschen lassen: Diesmal ist es, zumindest statistisch, eher umgekehrt.

Von den im Jahr 1977 gezählten 24,1 Millionen bundesdeutschen Privathaushalten waren sieben Millionen oder 29,2 Prozent Einpersonenhaushalte (USA: 21 Prozent); das sind reichlich doppelt so viele wie 1950 und immerhin rund 1,5 Millionen mehr als 1970.

Dies bedeutet, verglichen sowohl mit der Zunahme der Gesamtbevölkerung als auch mit der Zunahme der Mehrpersonenhaushalte in diesem Zeitraum, eine weit überproportionale, geradezu galoppierende »Vermehrung« der in Einpersonenhaushalten, also allein, lebenden Menschen.

Und zwar sind es vornehmlich Menschen in den aktivsten Lebensjahren, die in so überdurchschnittlich steigendem Maße allein bleiben. Die bundesdeutsche Statistik weist aus, daß die Zahl der Männer und Frauen zwischen 25 und 45 Jahren, die in Einpersonenhaushalten leben, sich seit 1957 reichlich verdoppelt hat (von 521 000 auf 1 318 000 im Jahre 1977).

Hier wie in Amerika muß man zu den sieben Millionen Menschen in Einpersonenhaushalten noch die Ein-Eltern-Familien addieren, und nach dem Stand von 1976 sind das 776 000 alleinstehende Familienvorstände (mit 1,2 Millionen Kindern unter 18 Jahren). Das ist der amtliche Stand; die Gesamtzahl dürfte noch höher sein, weil viele getrennt lebende Ehepaare aus steuerlichen Gründen als verheiratet firmieren.

Sogar die vom Trend zum Alleinleben reflektierten gesellschaftlichen Entwicklungen, sofern sie statistisch faßbar sind, erscheinen hierzulande zum Teil stärker ausgeprägt als in Amerika. Die Zahl der Eheschließungen zum Beispiel war bereits 1957 mit neun pro Tausend der Bevölkerung niedriger als in Amerika, und sie sinkt seit den sechziger Jahren kontinuierlich weiter.

Annähernd parallel verläuft die Explosion der Scheidungsziffern. Sie haben sich in Amerika wie in der Bundesrepublik seit dem Ende der fünfziger Jahre mehr als verdoppelt. In Großstädten kommt jährlich auf rund zwei Eheschließungen eine Scheidung.

Hier wie dort auch machen die meisten Geschiedenen auf dem Absatz kehrt und heiraten ein zweites Mal, wenn nicht häufiger. In der Bundesrepublik sind es derzeit 80 Prozent der Männer und 70 Prozent der Frauen, die solchermaßen Edward Shorters These stützen, nicht die gesetzliche Institution der Ehe sei am Ende, wohl aber die Vorstellung, »daß man das ganze Leben mit derselben Person zusammenbleiben müsse«.

Weiter freilich reichen die Parallelen nicht. Der statistische Vorsprung, den die Alleinlebenden hierzulande vor ihren amerikanischen Artgenossen haben, verhilft ihnen nicht auch schon zu deren gesellschaftlichem Status. Als eine mehr oder minder genau umrissene Gruppe kommen die Alleinlebenden bei uns überhaupt nicht vor.

Anders in Amerika. Dort ist das Alleinleben förmlich auf den Begriff gebracht worden: »single« ist nicht nur eine personenbezogene Zustandsbeschreibung, sondern eine etablierte Familienstandsbezeichnung.

In Amerika sind die Singles eine soziologisch ziemlich genau definierte, wirtschaftlich wichtige Bevölkerungsgruppe, denen nicht nur eine bestimmte »Szene« und -- als »Swinging Singles«

auch ein bestimmtes Rollenverhalten zugeordnet wird, sondern deren genau beobachtete Konsumgewohnheiten mit einem spezifischen Angebot an Waren und Dienstleistungen beantwortet werden.

Amerikanische Singles haben, zumindest in den großen Städten, »ihre« Kneipen, also auf sie spezialisierte Bars, als Kommunikationszentren. auch als Umfeld für die relativ problemfreie Anknüpfung von »transitory arrangements«. Es gibt vielerlei Wochenendtreffs und spezielle Reiseveranstaltungen für Singles, die ganz unverhohlen einer »transitorischen« Partnerbeziehung Vorschub leisten.

Insgesamt aber hat sich der Begriff Singles zusehends entsexualisiert, ist eher zu einer demographischen Größenordnung geworden, die relativ bürgerliche Formen des kooperativen Zusammenlebens beschreibt.

Die Gruppe der Singles beherrscht in Amerika heute beispielsweise den Markt für Stadtwohnungen, innerstädtische Reihenhäuser und zentral gelegene Wohnanlagen und bezahlt dafür Preise, die oft nur unwesentlich unter denen für Familienbehausungen liegen. Solche fast ausschließlich von Singles bevölkerten Wohnkomplexe haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, vom Verfall bedrohte Teile der Stadtkerne, etwa in Chicago, vor dem Verslumen zu bewahren.

Im vergangenen Jahr sind nach Berechnungen amerikanischer Kreditinstitute 15 Prozent aller Häuser und Wohnungen von Alleinstehenden erworben worden, zunehmend von weiblichen. Im amerikanischen Wohnungsgeschäft kursiert bereits ein Kürzel für diese neue Käuferschicht; sie heißen dort »SSWD« (für single, separated, widowed and divorced -- ledig, getrennt lebend, verwitwet und geschieden).

Natürlich hat die Werbung längst auf diese Zielgruppe reagiert. Eine der altehrwürdigen Grundregeln für amerikanische TV-Werbespots war, daß eine Frau einen Ehering tragen mußte, um zu dokumentieren, daß sie über Kaufkraft verfüge. Das ist vorbei.

Nicht nur die Hersteller gehobener Konsumgüter drängen auf den Single-Markt. Auch die amerikanische Lebensmittelindustrie beginnt mindestens die abgepackten Mengen im Blick auf den Einpersonenhaushalt zu verkleinern. In den Regalen amerikanischer Supermärkte sind Offerten an den wörtlich zu nehmenden Einzelverbraucher, wie »Campbell"s Soup for One«, bereits geläufige Größen.

So weit sind wir hierzulande noch lange nicht -- und das obwohl der Markt der Alleinlebenden, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, sogar noch umfangreicher ist als in den USA (sieben Millionen von insgesamt 61,3 Millionen Bundesbürgern) und obwohl die Alleinlebenden nach allen zur Verfügung stehenden Daten nicht nur mehr Geld auf der hohen Kante haben als Verheiratete, sondern im allgemeinen auch mehr Geld zum Leben und für den Urlaub ausgeben.

Allenfalls die deutschen Touristikunternehmei sind seit ungefähr zwei Jahren dabei, sich auf Alleinreisende ein bißchen besser einzustellen -- etwa indem sie außerhalb der Saison Einzelzimmer ohne Zuschlag anbieten oder indem sie, wie zum Beispiel DER

und Scharnow, nach einem sogenannten »Do-it-System« Hotels »mit großen Kontaktchancen« durch herzförmige Signets kennzeichnen: »Ein Haus für alle, die im Urlaub unbedingt neue Freunde finden möchten.«

Aber eine »Szene«, auf der ausschließlich Singles anzutreffen wären, gibt es nirgendwo in Deutschland -- allenfalls ein bestimmtes Milieu, das ganz generell den Ruf genießt, »swinging« zu sein, und in dem es keineswegs nur Singles leichter finden mögen, oberflächliche Kontakte zu knüpfen.

Bei uns haben statt dessen solche Veranstaltungen Konjunktur, die von der Intention wie vom Ambiente her mehr der Lebenshilfe zuzurechnen sind: Freizeitklubs zum Beispiel oder von Frauenzeitschriften inszenierte »Treffpunkte« -- alles Einrichtungen, die offenbar davon ausgehen, daß Alleinlebende nichts weiter als kontaktgestörte Außenseiter der Paar-Gesellschaft seien.

Sind sie das denn? Was sonst könnten sie sein: Beziehungsgeschädigte oder Risikoflüchtlinge, irgendwo unterwegs zwischen Noch-nicht und Nichtmehr? Egoisten, die sich selber der Nächste sein wollen? Einsame, die kein Mensch braucht und denen abends in ihren vier Wänden die Decke auf den Kopf fällt? Kontaktschwächlinge, an den Rand gedrängt oder ausgetrickst von einer Konsumgesellschaft, die ohne Konkurrenzdruck nicht auskommen kann und darum den anderen Menschen immer schon tendenziell zum Gegner, zum Rivalen macht?

Wer wollte das entscheiden. Es gibt keinen Modellfall eines Alleinleben

* Aus der deutschen Touristik-Werbung: Die Herzen bezeichnen Hotels mit geringen, mittleren und großen Kontaktchancen. Links: amerikanische Ein-Portionen-Konserven.

den, keinen prototypischen Single, es gibt nur Beispiele:

* Liv Ullmann. 38, Schauspielerin, hat nach der Trennung von dem Regisseur Ingmar Bergmann begriffen, »daß es unmöglich war, so zu leben, als könnte ich nur durch einen anderen Menschen Erfüllung finden«, und haust seither mit der gemeinsamen Tochter Linn, aber ohne Mann. »Ich glaube, es ist manchmal leichter. aufzuwachen und sich allein zu fühlen, wenn ich es tatsächlich bin, als mit jemandem zusammen aufzuwachen und einsam zu sein.«

* Peter Handke, 35, Schriftsteller ("Die linkshändige Frau"), seit Anfang der siebziger Jahre von seiner Frau, der Schauspielerin Libgart Schwarz, getrennt und schließlich geschieden, ist (in Paris) mit der gemeinsamen Tochter Amina allein: »Manchmal doch das große Gefühl, zu leben. wie ich leben will ... Wie stolz ich bin auf das Alleinsein! Wenn z. B. jemand kommt, und es ist schon jemand andrer da, mache ich sofort klar, daß dieser andre nur zufällig da ist.«

* Etta Schiller, 43, hat ein Jahr nach der ziemlich spektakulären Scheidung von dem ehemaligen Superminister Karl Schiller einen Sohn (Jan) zur Welt gebracht: »Nein, heiraten werde ich nicht mehr. Auch nicht den Vater meines Kindes. Ich tauge nicht für die Ehe, ich kann keine Kompromisse schließen, mich nicht unterordnen."> Bernhard Vogel, 46, einziger noch lediger Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes (Rheinland-Pfalz), bleibt bei der Meinung, daß an der Seite eines voll entfalteten politischen Managers allenfalls noch Platz für einen persönlichen Referenten sei, und verweist auf den Witwer Konrad Adenauer, der 14 Jahre lang frauenlos Bundeskanzler war: »Schließlich zählt nur der Erfolg, den ein Politiker letztlich vorzuweisen hat.«

* Jutta Heine, 38, ehemalige Sprinterin, Hürdenläuferin, Fünfkämpferin und zweifache Silbermedaillengewinnerin der Olympischen Spiele von Rom 1960, betreibt heute eine Pension in einer alten Walzmühle im Westerwald, ohne Partner: »Ich bin ja nicht grundsätzlich dagegen, es muß ja nicht gleich die Ehe sein. Aber ich glaube, ich könnte hier niemand haben, der auch noch Ansprüche stellt.«

Wer soll denn wohl ein typischer Single sein: die kesse krausköpfige Frau in weiten modischen Hosen, die, mit Pille und Scheckbuch in der Umhängetasche und einem Langhaardackel als ständigem Begleiter, fröhlich verkündet: »Ich mag Männer, ich mag nur nicht ein und denselben immer um mich haben«? Oder der frustrierte junge Mann, der kurz entschlossen inseriert: »Ich bin das Alleinsein satt. Wer schreibt mir? 21/190 Zuschr. mögl. mit Ganzbild«?

Vielleicht gibt es immerhin so etwas wie ein übergreifendes Lebensgefühl, ein gemeinsames Credo -- vergleichbar dem, das Frederick S. Perls, Begründer der Gestalt-Therapie*, formuliert hat und das er ein »Gestaltgebet« nennt: »Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust. Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben. Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben. Du bist du, und ich bin ich. Und wenn wir uns zufällig finden -- wunderbar.

Wenn nicht, kann man auch nichts machen.«

Aber selbst Peter Handke, der mehr als viele andere zum Thema beigetragen hat, sagt lapidar: »Es hat noch niemand beschrieben, was Alleinsein ist.«

Das soll nicht so bleiben: Mindestens soll beschrieben werden, wie Alleinsein ist -- wie es motiviert und wie es erlebt wird von den so unterschiedlich Betroffenen.

Der SPIEGEL hat bei »Getas«, der renommierten Bremer »Gesellschaft

Die Gestalt-Therapie, so wie Perls sie definiert, soll die Einsicht bewirken, daß die Entfremdung in den verschiedensten körperlichen und seelischen Regungen des Menschen hier und jetzt ihren Ausdruck findet. daß sie hier und jetzt vielfach wahrgenommen und überwunden werden kann.

für angewandte Sozialpsychologie«, eine Studie über das Leben allein in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Sie sollen hier ausführlich referiert werden.

Es ist dies die erste systematische Untersuchung, die »Motivation, Lebensgefühl, Lebensgestaltung von Alleinlebenden« in Deutschland (so der Titel der Studie) nicht nur mit platter Umfragetechnik, sondern mit der Methode »qualitativer Explorationen« (so der Fachausdruck) ausgeforscht hat.

Zum ersten Mal vermittelt diese Studie, über die Darstellung mehr oder minder exotischer Einzelfälle hinaus, verläßliche Erkenntnisse darüber, warum auch hierzulande immer mehr Frauen und Männer zwischen 25 und 45 Jahren allein leben -- wie ihnen dabei zumute ist, wie sie damit zurechtkommen und wie weit ihre Lebenspläne tragen.

Die Feststellungen über das Alleinleben, die sich aus diesen Erkenntnissen ableiten lassen, nötigen dazu, die verbreitete Vorstellung von den immer lustig und ledig nur sich selber verwirklichenden Singles zu relativieren.

Denn: Von den in der SPIEGEL-Studie als Stichprobe ermittelten Frauen und Männern zwischen 25 und 45 Jahren, die allein leben,

* ist nur etwa die Hälfte aus freier Entscheidung und aus Überzeugung allein; die andere Hälfte ist umständehalber oder notgedrungen, jedenfalls wider Willen, ohne dauerhafte Partnerschaft;

* wird das Alleinleben nur dann als positiv empfunden, wenn es prinzipiell die Möglichkeit des Kontaktes zu anderen Menschen einschließt und sofern die betreffende Person selber in ein System zwischenmenschlicher Beziehungen eingebunden bleibt;

* werden zwar mehrheitlich intime Beziehungen unterhalten, aber fast immer unter einem rational-kritischen Vorbehalt und mit eingebauter Distanz; von Liebe ist in solchen Beziehungen nur selten und von gemeinsamer Zukunft so gut wie nie die Rede;

* wollen weitaus die meisten, nämlich drei Viertel, nicht auch noch im Alter allein bleiben; aber kaum einer weiß, ob und wie das gelingen wird.

Swinging Singles? Wenn überhaupt, dann ist das Adjektiv ganz wörtlich zu nehmen: schwankend, pendelnd zwischen Euphorie und Depression, zwischen dem Glanz der Unabhängigkeit und dem Gespenst der Einsamkeit.

Zwei Gruppen gibt es also: Die eine bejaht das Alleinsein prinzipiell, weil sie die so gewonnene Freiheit und Selbständigkeit höher bewertet als das ständige Zusammensein mit einem Partner. Die andere Gruppe leidet eher unter dem Alleinsein, möchte es so schnell wie möglich beenden und wieder mit einem Menschen zusammenleben, kann diesen Wunsch aber derzeit nicht erfüllen, weil ein Partner, der den zum Teil sehr hohen Ansprüchen genügen würde, nicht zu sehen ist. Beide Gruppen verteilen sich annähernd gleichmäßig über alle abgefragten Jahrgänge.

Für beide Gruppen gleichermaßen gilt die Erkenntnis, daß Alleinlebende nur dann mit sich selber und ihrem Zustand zurechtkommen, wenn sie »in ein System zwischenmenschlicher Kommunikation integriert« bleiben -- also wenn ihre Interessen und Aktivitäten sich immer auch auf andere Menschen beziehen, mindestens auf solche Dinge, die mit anderen Menschen gemeinsam getan werden können.

Gewiß also wird das Alleinsein nur dann positiv erlebt, »wenn es prinzipiell die Möglichkeit des Kontaktes zu anderen Menschen impliziert«. Aber diese Möglichkeit fällt ja nicht vom Himmel, sie muß geschaffen werden. Das geht nicht ohne Anstrengung, ohne die beständige Bemühung um andere Menschen; und die wiederum setzt eine prinzipiell positive Einstellung zum Zustand des Alleinlebens voraus.

Wer ehedem »alles gemeinsam gemacht hat«, wer auf seinen Partner ausgerichtet war oder dies zumindest sein wollte, der fühlt sich auch allein oft zu unsicher und zu schwach für solche zwischenmenschlichen Aktivitäten, die das Alleinleben doch erst erträglich machen könnten.

Natürlich sind es gerade solche Singles, die lieber heute als morgen wieder mit einem Partner leben würden. Aber wegen des allgemeinen Rückgangs ihrer Aktivität sind die Chancen dafür weit schlechter als bei denen, die das Alleinleben positiv erfahren und im »Umgang mit anderen Menschen aktiv bleiben.

Nur wer das Alleinleben bejaht, der kann es überwinden. Das ist bloß scheinbar paradox. Denn je nachdem wie ein Mensch mit dem Alleinsein selber fertig wird, vermittelt er seinem Mitmenschen entweder das, was dieser sich wünscht, aber nicht hat, nämlich Selbständigkeit und Unabhängigkeit, oder aber das, wovor dieser sich fürchtet. nämlich Einsamkeit, Angst und Verzweiflung.

Einsamkeit und Alleinsein sind ja beileibe nicht dasselbe. Alleinsein kann Leere, Verzweiflung und Trostlosigkeit bedeuten, aber es kann auch entspannend und erholsam sein. Der Unterschied läßt sich objektiv nicht bestimmen, er ist in hohem Maße subjektiv.

»Einsam zu sein bedeutet zu einem ganz wesentlichen Teil«, so die Definition der Bochumer Soziologin Dr. Helga Gripp, »das Gefühl zu haben, von einem ganz bestimmten Menschen oder auch von den Mitmenschen überhaupt nicht mehr akzeptiert, anerkannt, nicht mehr gebraucht zu werden.«

Das aber kann einem Alleinlebenden, der im Umgang mit anderen Menschen aktiv bleibt und dabei nicht bloß seine Defizite transportiert, eigentlich gar nicht passieren.

Mit anderen Worten (nämlich wieder denen von Helga Gripp): Um Zeiten des Alleinseins so bewältigen zu können, daß sie eben nicht als Trostlosigkeit und Verzweiflung erlebt werden, »müssen wir zweierlei leisten: Wir müssen auf den anderen zugehen, soziale Kontakte aufnehmen können, und wir müssen uns selbst als ein Stück weit in uns selbst ruhend, auf uns selbst vertrauend erleben können. Wir fühlen uns dann einsam, wenn eine dieser beiden oder auch beide Verhaltens- beziehungsweise Erlebnisnotwendigkeiten uns nicht möglich sind«.

Das mag so sein. Aber es soll (und kann gerade einen Alleinlebenden) nicht vergessen machen, daß es ja noch eine andere, so nicht zu behebende Einsamkeit gibt. vor der die Singles eben dadurch Schutz gesucht haben, daß sie Singles geworden sind: jene Einsamkeit zu zweit nämlich, die sich -- beispielsweise -- in der resignierten Erkenntnis ausdrückt, daß der Mensch, mit dem man nun seit Jahren zusammen ist, beim Frühstück immer die »falsche« Hälfte vom Brötchen ißt.

In nahezu jedem einzelnen Fall -- das läßt auch die SPIEGEL-Studie ganz deutlich erkennen -- ist Alleinleben vornehmlich eine Reaktion auf das Leben zu zweit: auf die Pleiten, die man selber in Partnerbeziehungen erlebt hat, oder auf die Erfahrung der permanenten Paar-Misere ringsum. Der kollektive Kommentar der Singles dazu ist ein einstimmiges: so nicht.

Das heißt, zu dem festen Vorsatz, böse Erfahrungen mit der Zweisamkeit nicht wieder zu machen, tritt der Anspruch, den Alleinlebende an neue Partnerschaften stellen und der nicht selten in Perfektionismus ausartet oder doch in Kompromißlosigkeit.

Denn auch das Alleinleben hat eine prägende Kraft, die mit der Zeit so stark werden kann, daß sie neuen Partnerschaften geradezu programmatisch entgegenwirkt. Peter Handke weiß: »Die Gefahr bei diesem Nachdenken, Alleinsein, Sehen, »Sinnen« usw. ist, daß man sich schließlich nicht mehr lockern kann für eine andere Existenz, für jemand andern.«

Mindestens bedingen die Erfahrungen, die ein hinlänglich sensibler Mensch mit dem Alleinsein macht, eine Verschärfung seiner Partnerwahl. Will sagen, er kann nur noch einen solchen Partner akzeptieren, der bereit ist, wenigstens den entscheidenden Teil der im Zustand des Alleinlebens erworbenen Einstellungen und praktizierten Verhaltensformen auch in einer Gemeinsamkeit zu tolerieren.

Gleichberechtigung in der Partnerschaft und ein optimaler Freiraum sind dabei die wichtigsten, jedenfalls die am häufigsten genannten Bedingungen. Und die Singles, die erklärtermaßen lieber allein bleiben, gehen samt und sonders davon aus, daß der Freiraum, den sie für sich beanspruchen, in einer engen Partnerschaft nicht aufrechterhalten werden kann, wenn diese Partnerschaft wirklich funktionieren soll.

Die innere Selbständigkeit, die man sich durch das Alleinleben erwirbt, so resümiert auch Helga Gripp, »läßt nur noch eine sehr aufgeklärte Beziehung zu

Was immer eine »aufgeklärte Beziehung« im Einzelfall bedeuten mag -- zuviel Gefühl kann ihr nur gefährlich werden. Vermag das Gefühl doch einen jeden Menschen, der auf Partnerschaft nicht völlig verzichten will, leicht zu verleiten, mit dem Alleinlehen auch jene innere Selbständigkeit dranzugeben, die selbst für kompromißbereit gebliebene Singles zu einer conditio sine qua non geworden ist.

Vor Liebe also wird gewarnt. Es ist besser für eine »aufgeklärte Beziehung«, Liebe gar nicht erst beim Namen zu nennen, denn sie verwirrt den Verstand, der fein säuberlich Prioritäten gesetzt, Freiräume abgesteckt und Bedingungen formuliert hat. Liebe lauert darauf, dies alles durcheinanderzubringen.

Es ist leicht, »A man alone« zu sein, so beendet der amerikanische Gebrauchslyriker Rod McKuen seine für Frank Sinatra geschriebene Ballade vom »Mann allein«, der zu leben gelernt hat »mit Erinnerungen an Mitternacht. die im Morgengrauen aus dem Leim gehen« -- nur »don"t talk to strangers«, es ist besser, nicht mit Unbekannten zu sprechen. denn »someone might be kind and muddle up your mind -- jemand könnte gut zu dir sein und dir den Kopf verdrehen«. Love is a four letter word, Liebe gehört sich nicht.

Was Wunder, daß die meisten Singles -- ausweislich der SPIEGEL-Studie -- von Liebe entweder gar nicht oder nur mit erheblichen Einschränkungen reden, sich vielmehr mit begrenzten Übereinstimmungen bescheiden, mit »menschlichem Verständnis« etwa oder »mit gut funktionierender Sexualität«.

Daß Partnerschaft unter solchen Prämissen fast ausschließlich im Präsens abgehandelt wird, ist nur logisch. Über die Dauerhaftigkeit ihrer intimen Beziehungen mögen die Singles noch weniger als von der liebe reden. Wetten auf die Zukunft werden nicht angenommen, selbst Spekulationen erscheinen einigermaßen sinnlos. Was aus einer solchen Beziehung werden kann, ist kein Thema. Es soll vermutlich gar nichts daraus werden.

Mindestens die Männer haben keinerlei Bedenken einzuräumen, daß sie ihre gegenwärtigen Partnerbeziehungen mit einem Minimum an emotionalem Engagement nur so lange aufrechterhalten wollen, bis eine neue Möglichkeit sich bietet, die ihnen besser erscheint.

Die Dimension Dauer kommt überhaupt erst dann ins Spiel, wenn die Singles ganz direkt mit der Frage konfrontiert werden, ob sie auch noch im Alter allein leben wollen. Diese Konfrontation hat dann freilich einen enthüllenden Effekt.

Fast alle Befragten versuchen zunächst einmal, das Problem zu verdrängen -- entweder, sofern sie jung an Jahren sind, weil das eigene Altern noch jenseits ihres Vorstellungsvermögens liegt oder aber, und das gilt generell, weil der Gedanke, im Alter allein zu sein, viele versteckte Ängste wachzurufen droht.

Wer hätte nicht einen Horror davor, so zu enden wie letztes Jahr in einem Wiener Wohn-Silo die 73 Jahre alt gewordene Rentnerin Anna Zetek. Ihre Rente war mindestens ein Jahr lang an eine Tote ausbezahlt worden, und der Computer ihrer Bank hatte regelmäßig die Miete abgebucht. Niemand, auch kein Verwandter, hatte die alte Frau vermißt; niemand hatte bemerkt, daß sie tot in ihrer Wohnung lag, selbst die Nachbarn nicht, die sich gelegentlich auf dem Gang über den penetranten Geruch mokierten.

Weitaus die meisten Singles -- wie gesagt: drei Viertel der »Getas«-Stichprobe -- bekennen schließlich ganz offen, daß sie sich ihr Alter allein nicht vorstellen mögen. Selbst die Beherzten, die sehr wohl realisieren, daß sie sich beizeiten einen Freundeskreis einrichten und ihn pflegen müssen, um im Alter nicht allein zu sein. sind gar nicht so sicher, daß sie auch noch im vorgerückten Lebensalter auf eine enge Partnerschaft werden verzichten wollen.

»Das Bedürfnis nach Freiheit und Selbständigkeit«, so die Analyse der Bremer Sozialforscher, »verliert offensichtlich an Gewicht, wenn die objektiven Voraussetzungen seiner Manifestation vermindert oder geschwunden sind.«

Erst die Konfrontation mit dem angstbesetzten Alter also macht völlig klar, daß auch überzeugte Alleinlebende, die in jüngeren und mittleren Jahren keineswegs nur aus Mangel an Gelegenheit allein bleiben, nicht etwa im Prinzip gegen Partnerschaft sind, sondern daß sie einfach nur keine Form dafür gefunden haben, die ihnen hinlänglich tragfähig und dauerhaft erscheint.

Erst wenn die Rede auf das Altwerden kommt, erweist sich die vermeintlich frivole Weigerung dieser Solisten, ihren aktuellen Partnerschaften nennenswerte Zukunftschancen einzuräumen, als das, was sie ursprünglich ist: Eingeständnis eines wohlbegründeten Zweifels an der ungeschmälerten Vollziehbarkeit hergebrachter -- und auch alternativer -- Formen des Zusammenlebens.

Alleinleben als alternative Lebensform eigenen Anspruchs ist gar nicht prinzipieller Protest gegen Partnerschaft, eher ein Experiment damit. Alleinlebende sind gar nicht grundsätzlich Einzelwesen, eher Experimentatoren. Sie experimentieren, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, mit einer Partnerschaft für Fortgeschrittene.

Am nächsten kommt das, was solche Singles als Partnerschaft für Fortgeschrittene experimentell betreiben, wohl der Vorstellung vom »freischwebenden Paar«, die Edward Shorter am Ende seines Buches über die »Geburt der modernen Familie« als eine zeitgerechte Fortsetzung der zerfallenden Kernfamilie geschildert hat. Shorter sieht dieses »freischwebende Paar« als »eine eheliche Dyade"« die dramatischen Spaltungen und Fusionen ausgesetzt sei.

Nun ist die Ehe für jene Hälfte der Singles, die bewußt und entschlossen allein leben, gewiß keine erwägenswerte Form der Partnerschaft mehr. Auch haben die Alleinlebenden, sofern sie aktiv mit Partnerschaft experimentieren, das Zusammenleben ohne Trauschein nicht erfunden: sie betrachten es vielmehr (mit ganz geringen Ausnahmen) als mögliche Voraussetzung für jene alternative Form von Partnerschaft, nach der sie selber suchen.

Begreift man aber die Alleinlebenden als Experimentatoren auf der Suche nach einer Partnerschaft für Fortgeschrittene, dann haben sie zur Definition des »freischwebenden Paares« in der Tat etwas Wesentliches beizutragen.

Den Beweis dafür erbringt die SPIEGEL-Studie. Sie steuert eine Variante der nicht institutionalisierten Zweierbeziehung bei, die von der Paar-Gesellschaft bisher noch kaum bemerkt, von den Singles aber immer häufiger praktiziert, jedenfalls akzeptiert wird: zusammen leben, jedoch in getrennten Wohnungen.

Hier tut sich allem Anschein nach ein Weg auf, wie man jene psychische Distanz zum Partner. auf die sowohl die Beziehungsgeschädigten wie die Risikoflüchtlinge unter den Singles offenkundig nicht mehr verzichten wollen, sozusagen ins Räumliche übersetzen kann.

Es ist eindeutig die Mehrheit der für die SPIEGEL-Studie Befragten, die sich positiv zu dieser Form von getrennter Gemeinsamkeit äußern. »Viele sympathisieren damit«, konstatieren die Bremer Sozialforscher »schon deshalb, weil sie selber so verfahren.«

Simone de Beauvoir -- auch sie ist »selber so verfahren« -- hat zu diesem Thema einmal gesagt, wenn ein durch Gesetz nicht gebundenes Paar einen gemeinsamen Haushalt habe, dann werde die Frau »trotz allem die Frauenrolle erfüllen, und es gibt kaum einen Unterschied zur Ehe«.

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, seit Jahrzehnten ein -- durch Gesetz nicht gebundenes -- Paar, haben außer auf Reisen in Hotels nie zusammen gewohnt. Und das war für diese Beziehung, die Sartre auch heute »die vollkommenste Beziehung« nennt, nach Simone de Beauvoirs Meinung »wichtiger als die Tatsache, daß wir nicht verheiratet sind«.

Denn: »Diese Art von Freiheit, die wir im Alltag aufrechterhalten haben, ist es, die zählt.«

Im nächsten Heft

»Getrenntes Zusammenleben« -- Die Partnerprobleme der Singles -- Allein mit Kindern -- Sind Väter die besseren Mütter?

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