Zur Ausgabe
Artikel 6 / 87

»Du bist noch da, bist du wahnsinnig?«

aus DER SPIEGEL 15/1979

SPIEGEL-Korrespondent Hans Hielscher in Middletown Das Schreibwarengeschäft »Die

Feder« an der Ecke Union Street und Brown Street in Middletown bietet T-Shirts an. Sie zeigen das vor der Stadt liegende Kernkraftwerk und den Slogan: »Ich habe Three Mile Island überlebt.«

Die Hemden verkaufen sich gut. Denn in der zweiten Hälfte der vorigen Woche schien sich die Pennsylvania-Kleinstadt vom Atomschock zu erholen.

Zwar blieben die Schulen geschlossen, und Schwangere und Kleinkinder sollten weiterhin den Acht-Kilometer-Umkreis von Three Mile Island meiden. Aber im Zentrum von Middletown öffneten die Geschäfte wieder. Familien kehrten heim, wie die Stewards aus der Nisley Street 108, die mit ihren Töchtern Melissa, 10, und Michelle, 12, auf einen 30 Kilometer entfernten Campingplatz geflüchtet waren. In mehreren Häusern hingen Zettel: »Wir sind zurück.« Ein Villenbesitzer in Geyers Church Road hißte gar die amerikanische Flagge.

Die Middletowner fühlten sich noch einmal davongekommen. Und ihr Ärger traf jetzt jene. die in Horden eingefallen waren, um den Untergang ihrer Stadt zu beschreiben.

»Ich schäme mich meiner Kollegen«, schrieb der Reporter des Lokalblattes »Press and Journal« über die angereisten Korrespondenten. Bewohner berichten, einige hätten die mit Geigerzählern arbeitenden Techniker aufgefordert, für die Kamera entsetzt zu schauen. Radio und Fernsehen hätten der Stadt suggeriert, daß eine Atomexplosion unmittelbar bevorstehe.

»Wenn ich in Panik geraten wäre«, erzählt William A. Bush, der nach elf Jahren in der Armee just in der Katastrophenwoche nach Middletown zurückgekehrt war, »dann nur aufgrund der Berichte.«

Vorletzten Freitag und Sonnabend waren allerdings viele in Panik geraten. Da wollten sie nur raus aus Middletown. Sie hatten nichts dagegen, daß Fernsehteams filmten, wie sie die Kofferräume ihrer Autos füllten.

Doch schon am folgenden Sonntagnachmittag sahen die bei Verwandten oder in Hotels der Umgebung untergekommenen Flüchtlinge im Fernsehen, wie das Ehepaar Carter -- mit gelben Gummischuhen geschützt -- im kaputten Kernkraftwerk herumspazierte. Da konnte alles so schlimm nicht sein.

Viele kehrten in »Stefanie's 230 Diner« ein, dem Restaurant an der Überlandstraße 230, gleich hinter Middletown. Ein wenig schämten sie sich der Flucht, schien es, denn sie erzählten der Wirtin: »Wir haben nur die Kinder weggebracht. Wollten uns schon immer mal ein verlängertes Wochenende gönnen.«

Stefanie Arndt, 53, in Breslau geboren und seit 22 Jahren in Middletown, hatte ihre Koffer nie gepackt, ihr Restaurant nie geschlossen. Ihre Schwestern riefen sie aus dem Westerwald und aus Nürnberg an, ehemalige Angestellte meldeten sieh aus Kalifornien: »Was, du bist noch da, bist du wahnsinnig?« Stefanie harrte aus: »Ich war drei Jahre in russischer Gefangenschaft. In Amerika ist mein Restaurant bei Überschwemmungen zweimal zerstört worden. Ich habe gute Nerven.«

In der Krisenwoche brachten ihre guten Nerven dann ein gutes Geschäft. In Truppenstärke kamen zugereiste Nukleartechniker, Polizisten und Feuerwehrleute. Stefanie: »In zwei Tagen haben wir 3000 Sandwiches verkauft. Gott sei Dank konnte ich acht meiner 28 Angestellten dazu bewegen hierzubleiben.« Aber in Zukunft? Die Deutschamerikanerin zeigt amerikanischen Bilderbuch-Optimismus:

Als 1964 der Luftwaffenstützpunkt Oak Hills geschlossen wurde und 12 000 Arbeitsplätze verlorengingen, hätte alle Welt geglaubt, nun gehe es abwärts mit Middletown. Sie aber habe zwei Häuser gekauft -- und sie sieben Jahre später für das Dreifache wieder verkauft.

»Middletown ist für immer erschrocken«, fürchtet hingegen Bürgermeister Robert Reid. Aber auch er sieht etwas Positives: Die Stadt sei nun »in den Geschichtsbüchern«.

Und vielleicht, so hoffen die Dirks' und Brumbachs, die Reitz und Garbers, Nachkommen deutscher Einwanderer, die rund um Three Mile Island leben, vielleicht wird auch einmal die untersehwellige Angst vor möglichen Spätfolgen des Atomunfalls verschwinden.

Ein Paul B. Horning dichtete in »Es Pennsilfaanisch Deitsch Eck«, der deutschen Ecke des Middletowner Lokalblattes: »Der Mensch in seiner Schwachheit vergeßt viel Sache die ganze Zeit.«

Zur Ausgabe
Artikel 6 / 87
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren