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Artikel 53 / 81

»Du sollst zerbrechen!«

aus DER SPIEGEL 46/1977

21. 12. 76

»Natürlich ist das keine Literatur, was Sie machen, sondern Schweinerei, schlicht und einfach Schweinerei.«

Wie lange dauert es, bis man Reden dieser Art mit »Schwein« beantwortet? Du hast dir vorgenommen, »offen« zu bleiben, kein Wort zu vergessen, du hast dir vorgenommen, eine »soziale Studie« zu treiben und mit wachen Augen und Ohren all das zu registrieren, was diese Herren vollführen. Aber du bist nicht nur Beobachter, sondern auch und vor allem Objekt ihrer An- und Eingriffe.

Das Komplizierte deiner Lage: Du kannst nicht auf »Durchgang schalten« und ihre Reden abprallen lassen, du bleibst »auf Empfang« und damit verletzbar. Das wissen sie längst: »Sie haben einen Fehler: Was wir Ihnen im vorigen Monat sagten, hören Sie jetzt immer. Das zehrt aus. Das macht Sie kaputt über kurz oder lang.«

Du sollst dich verändern, dich anpassen. Was liegt näher, als Zyne zynisch zu beantworten, auf Machtmeierei spitz und abgebrüht zu reagieren? Warum wehrst du dich gegen eine solche verständliche und vielleicht auch nützliche »Anpassung«? Weil du gern du selbst bleiben möchtest. Auch hier. Auch zwischen diesen Mauern und vor diesen Schreibtischen.

Du fühlst, bevor du es erkennst, daß diese »Anpassung« einer Beschädigung gleichkommt, die auf Dauer das beseitigt, was dich von diesen modisch gekleideten Herren unterscheidet. Es ist nicht nur eine Frage der Taktik, das Niveau der »Schweinerei«-Reden nicht anzunehmen, es geht nicht nur um Worte, es geht um deinen Menschenwert, den du selbst demontierst, wenn du zur Verteidigung Worte und Verhaltensweisen wählst, die denen gleichen, die dich demontieren sollen.

Aber hast du die Wahl? Erzeugt nicht deine Gefängniszelle und die tägliche Zuführung in dieses Zimmer folgerichtig eine Unempfindlichkeit und Tendenz zur Selbstverleugnung, die sich möglicherweise kraftvoll gebärdet und auf alles spuckt? »Laß sie quatschen«, könntest du sagen -- warum zwingst du dich, hinzuhören, warum hältst du ein Interesse an ihren Worten wach, warum stellst du dein »inneres Tonband« nicht ab? 22. 12.

Mein Pritschennachbar erzählt pausenlos von der »großen weiten Welt«. Von seinen Reisen: Frankreich, Spanien, Marokko. Immer verbunden mit der rhetorischen Frage: »Und was hast du gesehen? Gar nichts, nur dieses kleine, vermauerte Land, von dem du dich nicht trennen willst ... stell doch einen »Antrag« ...«

Dann redet er von »Deutschland« und seiner harten Währung, nach der alle Leute lechzen, »da kannst du kommen, wohin du willst«. Hin und wieder stellt er gezielte Fragen.

Beobachtung: Im Zwischengang Zellentrakt-Vernehmerbau steht ständig eine Deckenluke offen. Ein Netz von Kabeln und Drähten ist sichtbar. Das wird dir erst jetzt bewußt, obwohl dich dieser Anblick unterschwellig von Anfang an beunruhigte. Den Gefangenen soll vor Augen geführt werden, daß alles, was im Zellenbereich geschieht, »oben«, bei den Vernehmern, »zusammenläuft«. Deine begründete Befürchtung, abgehört zu werden, soll eine sichtbare Grundlage und Stimulanz erhalten: Kabel und Drähte, die offenliegen, wenn du vorbeigeführt wirst: du sollst sie sehen. Gegen 14 Uhr:

III: Wir wollen heute eine Lesestunde veranstalten. Dem Untersuchungsorgan liegt eine Anzahl von Texten vor, die von Ihnen verfaßt wurden und die als staatsfeindliche Hetzschriften betrachtet werden müssen. Der Text, der in dieser Vernehmung angesprochen wird, trägt den Titel: »Der Besuch«, ich darf mal vorlesen:

Der Besuch. Wenn Westbesuch kam, hat mein Vater das Klo gescheuert und irgendein Pulver ins Rohr gestreut, um das Ungeziefer abzuschrecken, denn wir hatten keine Wasserspülung.

An solchen Tagen ist ihm bestimmt alles schäbig vorgekommen, das Haus, in dem zweimal Hochwasser stand und Salpeter die Wände hochkriecht, das Viertel, in dem eine Textilfabrik neben der anderen steht und keine besseren Leute wohnen: Meine Mutter wäre fast umgekehrt, als er sie zum erstenmal die Blumengasse hinunterführte, ihr Vater war Buchhalter, und sie hat mir gesagt, sie sei nur geblieben, weil manche Häuser noch schlimmer aussahen als das, in dem sie dann verschwunden sind.

Ich weiß, daß mein Vater an so was denkt, wenn er das Klo scheuert, weil Besuch kommt und noch dazu ausm Westen, wo alles besser ist und überall die Wasserspülungen rauschen.

Als die Gäste dann vor der Tür standen und guten Tag gesagt hatten, hab« ich die Entschuldigungen gehört: Hier läßt manches noch zu wünschen übrig. wir sind nur einfache Leute und so weiter. Meine Mutter hatte eingekauft wie zu 'ner Hochzeit, und sie hat »bei uns« gesagt und nicht »Zone« oder »sogenannte«.

Ich war noch Kind und weiß nicht mehr genau, was und worüber alles gesprochen wurde, ich hab« mich nur gewundert, daß der Mann keine Zigarren rauchte und nicht fett und vollgefressen aussah wie ein Fabrikbesitzer in meinen Vorstellungen. Er war Schlosser und sie Hausfrau. Ich weiß auch nicht, ob sie schon wieder Sehnsucht nach einem starken Mann hatten und Franz Josef wählten, wahrscheinlich nicht.

Der Kaugummi, den sie mitbrachten, war das Beste. Die Jungs auf der Straße haben mich fast verdroschen, weil ich ihnen nur die Ohren vollschmatzte und nichts abgab. Angeber, haben sie gerufen und mich nicht mit Versteck spielen lassen am Abend: hau doch ab, haben sie gesagt, verschwinde doch in deinen Westen, du Arschloch.

So, die erste Protokollfrage: In dem von Ihnen verfaßten Text »Der Besuch« charakterisieren Sie die Wohnverhältnisse in der DDR als »schäbig«, Sie beschreiben Häuser, an denen »Salpeter hochkriecht«, und verweisen darauf, daß andere »noch schlimmer« aussehen. Dieser verzerrenden und diskriminierenden Beschreibung setzen Sie lobend die westlichen Verhältnisse gegenüber, »wo alles besser ist« und »überall die Wasserspülungen rauschen«, Nehmen Sie zu diesem Vorwurf Stellung! --

Sie haben nicht verstanden, was ich geschrieben habe. Vielleicht wäre es gut, meine Zeilen noch einmal in Ruhe zu lesen.

III: Antworten Sie gefälligst auf das, was Ihnen vorgeworfen wurde. Muten Sie mir ja nicht zu, diese Kloakenberichte noch einmal zu lesen. Wissen Sie nicht, wieviel Geld unser Staat für den kommunalen Wohnungsbau ausgibt?

Doch, das weiß ich. Und das ist gut so. Aber ich weiß auch, was ich erlebt habe, Das kann ich nicht umlügen. Außerdem wird deutlich, daß ich nicht von »der« DDR spreche, sondern von dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin.

III: Noch was: Im Westen würde Ihnen vielleicht nur die Stelle mit Franz Josef Schwierigkeiten einbringen, auch dort gibt es gewisse Paragraphen, aber immerhin ... von welcher Seite man es auch betrachtet, dieser Text muß strafrechtlich belangt werden, der Verfasser von so was, den meine ich. 23. 12.

Nachtrag. Am 20. der erste »Sprecher": Eine halbe Stunde saß ich unter fremden Augen meiner Frau gegenüber, dann wurden wir getrennt, dann wurde ich abgeführt. Dieses Zu- und Abführen ist kein »Besuch«, kein »Sprecher«, wie sie sagen. sondern eine mit Datum und Uhrzeit anberaumte Qual.

Zwei Herren sahen zu. Ich wollte sprechen, ohne Krampf und Pathos. Aber dann habe ich nur gestammelt und auf ein Zeichen gewartet, auf irgendein Wort, das alles erklärt, eine Frist, ein Datum, das Ende der Haft, irgendein Zeichen, das keiner geben konnte, Zwei Herren sahen zu.

III: Herr Fuchs, das schätze ich an Ihnen, der erste Sprecher, und ohne Tränen, Sie sind auf dem besten Wege, ein Held zu werden. Gratuliere. Auch wenn es nur Krampf war, einmal Schluchzen kostet nichts. Wir sehen nicht hin. Vielleicht hätten wir doch anordnen sollen, daß Ihr Kind mitkommt. Beruhigen Sie sich, Ihr schwächster Punkt ist die Familie, das fällt einem Blinden auf. Sind Sie froh, daß Sie Ihre Frau sehen konnten, eigentlich erteilen wir keine Besuchserlaubnis, solange kein Durchbruch erzielt wurde.

Durchbruch, ach so.

III: Stoßen Sie sich doch nicht immer an Worten. Sie wissen schon, was ich meine. Sie wissen ja selbst am besten, was Sie hier veranstalten.

2. 1. 77

»Am schönsten ist L., wenn sie zögert.« Eine Frau steht im Gang. »Am schönsten ist L ...«

Eine Frau steht im Gang und trägt eine Uniform.

» ... wenn sie zögert.«

Eine Frau steht im Gang und ist ein Posten.

»Am schönsten ist L., wenn sie zögert.« Eine Frau steht im Gang. 17. 1.

Täglich von 8-16 Uhr, abgerechnet eine Stunde Mittagessen in der Zelle, lesen sie mir meine Arbeiten vor und verlangen »Stellungnahmen«. Wie lange noch?

»Bis Sie es einsehen.«

In der Zelle geht es weiter: Dieser Mensch entpuppt sich. Anfang des Jahres wollte er mir einreden, West-Berlin sei »militärisch einverleibt« worden. das hätte ihm sein Vernehmer erzählt. Seine biographische Story enthält Widersprüche, ich frage ihn immer wieder nach bestimmten Details und entdecke Abweichungen zu früheren Schilderungen. Politisch ist er nicht zu orten: Reden über »Groß-Deutschland« wechseln mit DKP-Argumenten (er sei Mitglied gewesen), mitunter stellt er sich als Spion vor, der eine Doppelrolle spielt. Ich soll die Orientierung verlieren. Angenommen

er ist nur ein Spitzel und wird erpreßt und erstattet Bericht

angenommen, er ist ein Spitzel dann sitzt er doch auch nur in dieser Zelle

und starrt Wände an und mich dazu im Trainingsanzug

Filzlatschen an den Füßen

raucht er Zigaretten und hockt auf dem Klo

angenommen

er ist nur ein Spitzel. (Gegen Abend)

Posten: Eins und zwei, packen Sie Ihre Sachen.

(J. spricht von Entlassung>

Wir werden in eine kleine Zelle geführt (306) -- stickig, überheizt, etwa 40 Grad. J. raucht verstärkt. Atembeschwerden. Gleichgewichtsstörungen. Sie wollen »den Durchbruch erzielen«. 28. 1.

»Und weil der Mensch ein Mensch ist / Hat er Stiefel im Gesicht nicht gern / Er will unter sich keine Sklaven sehn / Und über sich keinen Herrn.« Beim leisen Absingen des Refrains öffnet der Posten die Klappe: »Hörn Se auf mit dem Gesinge.« 1.4. Den Inhaftierten ist untersagt; -- in den Verwahrräumen zu lärmen, zu pfeifen, zu klopfen, zu rufen, zu singen oder auf andere Art und Weise die Ruhe und Ordnung zu stören (aus: Anstaltsordnung)

Manchmal singe ich Lieder. Manchmal öffnet der Posten die Klappe. 12. 2.

Das Ende des Ermittlungsverfahrens ist nicht abzusehen: »Wir haben Zeit.« § 103 -- Bearbeitungsfristen im Ermittlungsverfahren

(1) Alle Ermittlungsverfahren sind innerhalb einer Frist von höchstens drei Monaten abzuschließen. Ermittlungsverfahren, in denen gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft angeordnet ist, sind besonders beschleunigt durchzuführen . (aus: Strafprozeßordnung der DDR)

»Wenn Sie nicht wollen ...« Nein, widerrufen will ich nicht. »Na, dann nicht.« § 103

(2) Der Generalstaatsanwalt setzt für die einzelnen Arten der Ermittlungsverfahren Fristen fest. Kann ausnahmsweise wegen des Umfangs der Sache oder wegen der Schwierigkeit der Ermittlungen die Frist nicht eingehalten werden, ist die Genehmigung des zuständigen Staatsanwalts zur Überschreitung der Frist einzuholen. Eine Überschreitung der Höchstfrist von drei Monaten ist nur mit Zustimmung des Staatsanwalts des Bezirkes zulässig.

An Paragraphen und besonderen Abschnitten ist kein Mangel, alles geht »mit rechten Dingen zu«. Aber ja. 16. 2.

Zehnminütiges Gespräch mit Rechtsanwalt Vogel in einem Besucherzimmer (Magdalenenstraße). Vernehmer IV ist anwesend. Gespräche »über die Sache« sind verboten. Wenn sich der Dialog Unerlaubtem nähert, unterbricht der Stasi-Überwacher. »Nicht-zur-Sache-Sprechen« ist schwer, wenn nicht gesagt wird, was »Sache« ist. Ich ziehe in Zweifel, daß die Bezeichnung »Ermittlungsverfahren« zutreffend ist und werde vom »Untersuchungsorgan« verwarnt.

§ 64 -- Rechte des Verteidigers (1) Der Verteidiger hat das Recht, -- den Beschuldigten oder den Angeklagten zu sprechen;

-- Beweisanträge zu stellen:

-- an der gerichtlichen Hauptverhandlung mitzuwirken;

-- Rechtsmittel einzulegen und im Rechtsmittelverfahren mitzuwirken;

-Vorschläge zu den gerichtlichen Entscheidungen bei der Verwirklichung der Strafen zu unterbreiten.

(2) Der Verteidiger ist nach Abschluß der Ermittlungen vor Erhebung der Anklage befugt, Einsicht in die Strafakten zu nehmen. Schon vor diesem Zeitpunkt ist ihm die Einsicht in die Strafakten zu gestatten, wenn dies ohne Gefährdung der Untersuchung geschehen kann. Unter denselben Voraussetzungen ist dem Verteidiger die Teilnahme an von ihm beantragten Beweiserhebungen im Ermittlungsverfahren zu gestatten.

(3) Der Verteidiger kann mit dem in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten und Angeklagten sprechen und mit ihm korrespondieren. Im Ermittlungsverfahren kann der Staatsanwalt hierfür Bedingungen festsetzen, damit der Zweck der Untersuchung nicht gefährdet wird. (aus: StPO der DDR)

Der Staatsanwalt hat »Bedingungen festgesetzt«, die es erlauben, zehn Minuten achselzuckend über gesundheitliche Befindlichkeiten zu plaudern. Und vielleicht noch über das Wetter.

§ 61 ... »Das Gericht, der Staatsanwalt und die Untersuchungsorgane haben das Recht auf Verteidigung zu gewährleisten ...«

IV: Selbstverständlich gewährleisten wir das Recht auf Verteidigung. Was wir im einzelnen darunter verstehen, ist unsere Sache. Hin und wieder gibt es eben gewisse Beschränkungen, um den Zweck der Untersuchung nicht zu gefährden. So ist das.

Dr. Vogel: Ich muß mich an die Auflagen des Staatsanwalts halten, sonst verliere ich mein Mandat. 17. 2.

(Stasi IV hinter dem Schreibtisch, ein zweiter Herr im Sessel)

IV: Sie hatten sich gestern beim Rechtsanwalt über die Durchführung des Ermittlungsverfahrens beschwert, an uns soll es nicht liegen (mit einer Handbewegung)... ab heute ein neuer Mann, ich hoffe, Sie werden sich vertragen.

(IV verläßt den Raum, der »neue Mann« postiert sich hinter dem Schreibtisch: ovales Gesicht, leichte Fettansätze, ansonsten schmal, kurze dünne Haare, bartlos, gepflegte, sehr glatte Haut, vom Hals her gerötet, fleckig, seine Hände sind in ständiger Bewegung.)

V: Herr Fuchs, ich erspare mir lange Vorreden. Eigentlich ist es nicht üblich, einen Vernehmerwechsel zu begründen. Ich will Ihnen nur so viel sagen: Man kann sich festfahren. Ich weiß, daß mein Vorgänger ellenlange Protokolle machen wollte und Ihnen pausenlos Ihre Texte vorgelesen hat. Ich kann mich für solche Methoden nicht begeistern. Heraus kommt dabei nichts. Die Fronten verhärten sich, das ist alles. Und noch etwas: Auch mir wäre es lieber gewesen, wenn die Diskussion zwischen uns produktiv weitergeführt worden wäre, Sie erinnern sich sicher an den »Eintopp« von Bettina Wegner im »Haus der Jungen Talente«, Herbst 74 ...

(Ja, ich erinnere mich:

Vor etwa 500 Leuten las Volker Braun zum ersten Mal aus seiner »Unvollendeten Geschichte«, Bettina Wegner sang jiddische Lieder, Biermann saß im Publikum, ich las Gedichte und einige Szenen aus dem »Mustermai«, anschließend Diskussion. Braun setzte sich zu mir: »Jetzt wird es einiges geben.«

Funktionäre des Zentralrates der FDJ« die mit finsteren Gesichtern an einem langen Tisch saßen, eröffneten die Diskussion: Wie ich dazu käme, solche Sachen zu schreiben und vorzulesen. Wie der Verlag »Neues Leben« dazu käme, Gedichte von mir zu drucken. Sie stürzten sieh nicht auf Volker Braun und seine brisante Geschichte, sondern auf mich, aus taktischen Gründen. Ihre Forderung, »so etwas zu verbieten«, empörte die Zuhörer.

Einige »Unsichtbare« saßen mit Kassettenrecordern im Saal und schnitten mit. Besonders tat sich ein kleiner, aufgeregter Mensch hervor, der, als nach 22 Uhr die Rede auf die »Könige« kam, die »auf Tribünen stehen, damit sie besser auf die anderen Menschen herabsehen können« (Mustermai), aufsprang und schrie: »Halt, das geht nicht, das ist Prag 68.«

Er wurde ausgelacht. Hüpfend. wütig, mit rotem Gesicht und eigentümlich hervortretenden Augen: »Tribünen gehören zu unserem politischen Leben, auch in der Kirche gibt es Altäre und Kanzeln Das Publikum johlte: »Was denn noch, sollen wir euch auch noch anbeten ...«

Sein Hinweis, er spräche »im Namen der Arbeiterklasse«, wurde von einem Bauarbeiter (Rupert Schröter, seit Oktober 76 in Stasi-Haft) mit souveräner Gelassenheit zurückgewiesen: »Du bist nicht die Arbeiterklasse, du bist einer von denen, die mit solchen Reden arbeitende Menschen ständig bevormunden.«

Ohne auf Zwischenrufe und Gelächter zu reagieren, kam die Antwort: »Staatliche Autorität wird es immer geben ...«

Erwiderung: »Ja, solange es den Staat gibt, und der soll in der sozialistischen Gesellschaft absterben, siehe Marx-Engels-Gesamtausgabe.«

Braun, gelassen, lächelnd: »Wenn in hundert Jahren Eltern von ihren Kindern gefragt werden, was das eigentlich war, »der Staat«, wird es ihnen sicher schwerfallen, dieses fragwürdige Ungetüm aus vergangener Zeit zu erklären.« Beifall.

Als später ein Zuhörer mit Blick auf den Funktionärstisch fragte: »Sie wollen uns wohl Angst machen?« suchte der aufgeregte kleine Staatsschützer mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger die Reihen ab: »Wer war das?« Sofort trat Stille ein, das Publikum erstarrte vor dieser Spitzelgeste. Ein junger Mann stand auf: »Ich war das (nennt seinen Namen), den können Sie aufschreiben und melden, ich habe keine Angst vor Ihnen.« Beifall, Rufe, Diskussionen bis gegen Mitternacht.

Später erfuhr ich, wer dieser wort- und gestenreiche Diskutierer war, den ich im hinteren Teil des verräucherten Saales ausmachen konnte: der Sohn des ehemaligen stellvertretenden Innenministers der DDR, Grünstein. Ende 20, Zögling einer Kadettenanstalt, abgebrochenes Filmstudium in Moskau, Student der Kulturwissenschaften in Leipzig, FDJ-Sekretär der Karl-Marx-Universität, Kulturfunktionär, Amateursänger, Militärdienst, freie Mitarbeit im Dokumentarfilmstudio Berlin, ständiger Besucher von Diskussionsrunden, intelligent, kann zwischen den Zeilen lesen und Biermannlieder singen, leicht erregbar« immer auf der Jagd nach dem kulturellen »Klassenfeind«, der ihn und die Staats-Sicherheit bedroht.)

V: ... damals ging es heiß her. Die Zeiten haben sich inzwischen etwas geändert, auch für Sie gelten andere Maßstäbe: Sie sitzen im Gefängnis, andere sind im Westen. Ich bin nicht geneigt, diese Entwicklung erfreulich zu nennen. Aber man muß von dem ausgehen, was ist. Anders geht es nicht. Ich bin nicht der einzige, der sich in Ihrem Falle kulantere Maßnahmen hätte vorstellen können. Daß Sie hier sitzen, ist sicher nicht glücklich. Andererseits gibt es Situationen, in denen Stalins harter Besen seine kathartische Wirkung haben kann.

Ach so, ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen: Im Rowohlt-Verlag ist ein Buch von Ihnen erschienen, »Gedächtnisprotokolle«, mit einem Vorwort von Biermann und einigen Pannach-Liedern. Schade. Das Buch hätte

bei uns erscheinen sollen. Und können. Mit dieser Biermann-Einstimmung geht das natürlich nicht mehr. Immerhin, es liegt ein Buch vor, das ist schon etwas. Ich weiß nicht, was andere in diesen heiligen Hallen schon zu Ihnen gesagt haben, für mich sind Sie ein Literat, das muß gesagt werden, auch wenn es schwerfällt.

Ja, dann wurde noch ein Komitee gegründet, schon im vergangenen Jahr, das nennt sich »Freiheit und Sozialismus«, wahrscheinlich in Abgrenzung zum Wahlslogan der CDU/CSU. Mitglieder unter anderem: Albertz, Böll, Frisch, Gollwitzer, Jungk, Mitscherlich, Moneta, Schily, Schneider, Schwarzer, Schwenger, Staeck, von der Vring. Klingt ganz gut, nicht?

Die »Gesellschaft für Menschenrechte« ist das nicht, auch nicht die Gruppe »13. August«. Solidarität von links mit DDR-Häftlingen, das ist neu. Auf Ihr Ermittlungsverfahren hat das natürlich keinen Einfluß, wir lassen uns nicht erpressen. Gewiß macht es einen Unterschied, ob da Böll steht oder Lieschen Müller, aber es gibt Fälle, wo man einfach nicht nachgeben darf. Nachgeben ist immer ein Zeichen von Schwäche.

Sie sagen nichts, innerlich werden Sie jetzt sicherlich triumphieren. Vielleicht fragen Sie sich auch: Warum erzählt er mir das? Aus Menschenfreundlichkeit sicher nicht. Das ist allerdings richtig. Wenn man diese Namen hört, denkt man doch bestimmt: Die müssen mich freilassen, es kann sich nur noch um Tage oder Wochen handeln. Aber was ist denn, wenn Sie dennoch in Haft bleiben, wenn Tage, Wochen und Monate in dieses geteilte Land gehen und sich nichts tut? Trotz Buch und Komitee und allem Drumherum?

Ich spiele mit offenen Karten: Dann wird sich diese ganze Sache ins Gegenteil verkehren, dann wird Ihnen vielleicht klarwerden: Sie machen Ernst, nichts hilft. Ich greife jetzt einmal vor, dabei weiß ich, daß Sie alles, was ich sage, in Zweifel ziehen werden, aber ich sage es trotzdem: Sie kommen hier nicht raus. Wir brauchen ein Exempel. Diese Nach-Biermann-Generation, zu der auch ich gehöre, braucht einen Denkzettel.

Leider fällt das Los auf Sie. Bei Pannach und Kunert sind wir noch am Überlegen, was aus den Jenaern wird, läßt sich auch noch nicht sagen. Das ist die Ironie der Geschichte, vor allem auf juristischem Gebiet: Immer trifft es einzelne stellvertretend für viele. Anders geht es nicht. Und der, den es trifft, fragt sieh verständlicherweise: Warum ausgerechnet mich?

Vielleicht sind Sie auch stärker motiviert und tragen Ihr Kreuz stolz und mit Freuden, kann sein, aber ein bißchen spielt der Zufall immer mit. Wenn Biermann nicht gefahren wäre, wer weiß, vielleicht hätte der Damm noch ein wenig gehalten. Wenn Ihr Buch früher erschienen wäre, wenn, ja, wenn ... Aber das gilt nun nicht mehr.

Sie sagen nichts, gut, dann rede ich halt, irgendwie muß die Zeit ja vergehen (sieht auf die Uhr) ... ich habe keine Lust, mich lächerlich zu machen und kleine Tricks anzuwenden, um Sie zum Sprechen zu bringen. Sie sind nicht von gestern und werden Verschiedenes durchschauen, das weiß ich.

Ich habe die Aufgabe, Ihr Verfahren weiterzuführen, dafür werde ich bezahlt. Also muß ich Sie holen und die Zeit irgendwie herumkriegen. Ich habe nicht die Absicht, mir mit Ihrem Fall einen Orden zu verdienen, es hängt auch keine Beförderung davon ab, ob Sie hier sprechen oder nicht. Wie gesagt, das ist mein Job, ich muß meine Stunden füllen.

Vorhin sprach ich vom »Eintopp«, wir könnten ja unsere Diskussion fortsetzen, vielleicht kommen wir zu einem guten Ende. Könnte ja immerhin möglich sein. Aber ich sehe schon, Ihr Schweigen deutet darauf hin, daß Sie das Auftauchen meiner Person als feindlichen Akt werten.

Ich bin jetzt der wievielte Vernehmer? Der fünfte? (Lacht) Sie kennen ja bald die ganze Abteilung. Jeder will mal sein Glück versuchen, denken Sie sicher, andererseits könnte es auch psychologische Raffinesse sein: Ein häufiger Wechsel verhindert, daß Sie sich auf eine Person einstellen können. Sich ständig neu orientieren zu müssen, das kostet Kraft. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß »Orientierungsreaktionen«, psychoenergetisch betrachtet, viel schlucken.

Sei"s wie es sei. Entweder wir kommen ins Gespräch oder nicht. Wenn Sie schweigen, ist das Ihre Angelegenheit. Ich werde Sie jedenfalls täglich holen. Punk« acht Uhr. Macht habe ich, jedenfalls hier. (Lacht hüstelnd, nicht ohne Selbstironie).

Und ich rechne damit, da bin ich ganz ehrlich, daß Sie durchaus geneigt sind, Leuten wie uns zu beweisen, daß wir zwar Menschen ins Gefängnis bringen und beliebig oft in Zimmer dieser Art holen können, aber ansonsten auch unsere Grenzen haben, vor allem dann, wenn es um die besseren Argumente geht. Und wenn ich es richtig sehe, haben Sie doch wohl die besseren Argumente.

Ich mache mir da gar nichts vor: Wenn es zu einem Meinungsstreit zwischen uns kommen sollte, ist meine Position von Anfang an mit einem Minus behaftet: Wer die besseren Argumente hat, kann seinen Gegner öffentlich zur Rede stellen, er muß ihn nicht verhaften und in Hinterzimmer verfrachten. Darin liegt Ihr großes Plus. Ganz klar. Nur: Ich habe Sie nicht verhaftet.

Und wenn Sie an den »Eintopp« denken: Ziehen Sie keine falschen Schlüsse -.- auch unsereiner muß nicht jeden Tag in Form sein, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Hier geht manches besser. Andererseits: Wenn ich jetzt eine schlaue Rede gehalten habe, will das auch noch nichts besagen: Ich hatte ja Zeit, mich vorzubereiten, Sie sind schon drei Monate hier, wir kennen Ihre Verhaltensweisen, konnten Sie ausgiebig studieren ... Herbst 74, jetzt haben wir 77, wie gesagt, wenn einem da nichts einfällt ...

Sie sehen, ich spiele mit offenen Karten ... »Das ist seine Taktik«, werden Sie sagen. Ja, stimmt, das ist meine Taktik. Also gut, verdauen Sie erst einmal, ich lasse Sie jetzt in Ihre Zelle zurückbringen, morgen acht Uhr, wie gesagt. Sie haben die Wahl: Dialog, ja, nein. Wenn man spricht, vergeht die Zeit schneller. Überlegen Sie sich"s. In der Zelle.

J: Na, was Neues?

(Ich antworte ausweichend, er bohrt so lange, bis ich ihm sage, daß ich einen neuen Vernehmer habe -- was er offensichtlich längst weiß -- meine wortkargen Äußerungen verärgern ihn -- er liegt auf der Pritsche, atmet schwer und will Einzelheiten erfahren, vor allem, wie ich den netten Mann einschätze. Ob ich ihn kenne, fragt er nicht, möchte es aber gerne wissen. Seine Fragen zielen in diese Richtung. Ich lese. Anna Seghers: »Die Toten bleiben jung«.) 18. 2.

V: Nun, Gespräch oder Monolog, wie steht es, wenn die Frage erlaubt ist?

Mir wurde vor einigen Wochen von einem anderen Herrn mitgeteilt, die Staatssicherheit führe keine Gespräche mit mir, sondern mache Vernehmungen. Warum soll ich mich auf Ihren Plauderton einlassen? Die vorgeschriebene Frist für ein Ermittlungsverfahren ist abgelaufen. Machen Sie einen Prozeß, oder lassen Sie mich frei.

V: Ach nein, nicht so hastig. Ihr Fall ist kompliziert, drei Monate reichen nicht aus. Ein Zettel genügt, und der Staatsanwalt stimmt einer Verlängerung zu. Wir haben halt die Macht. Wer wir?

V: Der Staat, das Ministerium für Staatssicherheit, das Untersuchungsorgan, in diesem Falle: ich. Sie sind der Staat.

V (lächelnd): »Der Staat -- das sind wir«, eine Losung aus der guten alten Ulbricht-Zeit. Aber Fakt ist: Ich sitze hier nicht als irgendein Diskussionspartner, sondern als Angehöriger eines Ministeriums, insofern gehöre ich zum »Staat«, das alte Problem von Staat und Gesellschaft wollen wir hier lieber nicht aufwärmen. Widersprüche existieren da genug. »Den Staat« gibt es nicht, also muß es welche geben, die sich identifizieren. Und da es mit dem Absterben des Staates offensichtlich nicht so eilig ist, können wir guten Mutes in die Zukunft sehen. Natürlich müssen wir aufpassen, vor allem auf Leute wie Sie.

Fühlen Sie sich bedroht?

V: Bedroht ist nicht das richtige Wort, aber Sie wissen selbst, daß etwas in Bewegung geraten ist. Noch seid ihr nicht ganz durch. In der CSSR hat es geklappt '68. Wie es ausgegangen ist, wissen wir. Natürlich sind Panzer kein Argument, aber Argumente kommen gegen Panzer nicht an. Wir sind gewarnt. Wir wissen jetzt. wie es losgeht. Und weil wir das wissen, sitzen Sie zum Beispiel hier. Ob unsere Maßnahmen politische Entwicklungen aufhalten können, wissen wir nicht. Ich weiß nur eins: Freiwillig geben wir keine Position auf.

Wer ist das: wir?

V: Danach fragten Sie mich schon vorhin. Sicher spielen Sie darauf an, daß die Staatssicherheit der Staat im Staate ist. Ich könnte Ihnen mit Phrasen antworten, könnte zum Beispiel sagen: die Partei und so weiter, aber ich habe keine Lust, den Naiven zu spielen. Sie gehen ohnehin von den oberen Zehntausend aus, die alle anderen bevormunden. Ob es wirklich so ist, weiß ich nicht, aber daß wir von vielen als »Establishment« betrachtet werden, ist bekannt. Aber was soll"s, Worte hin, Worte her, man muß von dem ausgehen, was ist, und momentan steht es doch so: Entweder Sie an der Laterne oder wir, bildlich gesprochen (demontiert einen Kugelschreiber, setzt ihn wieder zusammen, sein Gesicht ist leicht gerötet).

Daß für mich bereits ein Laternenplatz vorgesehen ist, wußte ich nicht.

V: Nehmen Sie es nicht so wörtlich ...

Ich nehme es ganz gerne einmal wörtlich. Sie denken an Laternen, ich nicht. Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich dieses geheime Haus zur Besichtigung freigeben, jeder könnte sich dann davon überzeugen, daß sich Zellen und Hinterzimmer vielleicht doch nicht so gut für den Aufenthalt von Menschen eignen, wie das von Polizei und Geheimdienst angenommen wird.

Und Sie würde ich in einen Betrieb führen, dort könnten Sie in einer Arbeiterversammlung berichten, welch interessante Tätigkeit Sie ausgeübt haben, mit welchen Methoden und so weiter, und dann würde ich die Kollegen bitten, Ihnen sehr freundlich Ihren neuen Arbeitsbereich in einer großen, übersichtlichen Werkhalle zu erklären. Von Laternen kann keine Rede sein, jedenfalls nicht in meinen Zukunftsvorstellungen. Ihre Angst ist unbegründet, ich kann Sie beruhigen, »wir glauben nicht an Pistolen«, heißt es bei Pannach, auch nicht an Laternen.

V: So, so, na ja, schön, daß Sie Ihren Humor noch nicht verloren haben, Sie sind jetzt drei Monate hier, warten wir es ab, noch haben Sie nicht alles kennengelernt, nach sechs Monaten gibt es zum Beispiel meist eine interessante psychische Veränderung, Sie werden sehen. (Sein Gesicht hat sich grimassenartig verändert, die Stimme verrät eine gekränkte Weinerlichkeit, die sich aggressiv gebärdet.)

Ich dachte, Sie wollten mit mir philosophische Gespräche führen, vielleicht ist es doch besser, wir lassen es sein.

V: Werden Sie nicht ironisch, Herr Fuchs, Sie haben den Boden einer sachlichen Diskussion verlassen (lehnt sich zurück, bereut offensichtlich sein eigenes Verhalten). Ach so, nach dem Westen wollen Sie nicht? Ich weiß, ich weiß, jetzt kommt das große DDR-Bekenntnis und vielleicht noch der Biermann-Hinweis. daß wir selber gehen sollen. Mich beschäftigt dabei etwas anderes. lm Strafvollzug werden Sie mit solchen Ansichten mächtige Schwierigkeiten bekommen, die anderen Gefangenen machen Sie einfach fertig, »Zonis« sind dort nicht gern gesehen, da brauchen wir gar nichts zu tun. Die Zeiten der illegalen kommunistischen Zellen sind vorbei ...

Sie produzieren also Antikommunismus ...

V (lächelnd): ... Darauf habe ich gewartet. Das mußte kommen. Vielleicht werden auch Sie nach zehn Jahren Bautzen und erfolgter Ausweisung NPD wählen, wer weiß, Aber wie auch immer: Probleme wird es auf jeden Fall geben. Se oder so. Rechte sind Ihnen lieber ...

V: Was heißt lieber, aber da weiß man wenigstens, woran man ist. Wer uns von rechts angreift -- wie er dahin gekommen ist, wollen wir einmal dahingestellt sein lassen -, kommt logischerweise nicht von links. Er macht uns keine Position streitig. Sie wissen doch, wo unsere neuralgischen Punkte liegen ... Sie sehen mich so an. wundem Sie sich, daß sich unsereiner auch seine Gedanken macht? Warum soll ich mit meiner Meinung hinter dem Berg halten? Ich kann mir"s leisten. Außerdem: Was wissen Sie denn -- alles, was ich Ihnen sage, kann Taktik sein. Also, was soll's.

(Sieht sich befriedigt und betont gelangweilt um, er ist eitel.) 20. 2.

Die Atmosphäre in der Zelle wird unerträglich. J. ereifert sich jetzt schon, wenn ich hin und wieder halbe Melodien summe. »Mit diesem Geleier kannst du keinen hinterm Ofen vorlocken.« Ich vermeide jeden Gefühlsausbruch. Lesen, »Tisch-Notizen«, belanglose Gespräche, versuchsweise freundlich.

22. 2.

(Gegen 8 Uhr, der »Läufer« hat mich in das Vernehmerzimmer geführt, ich nehme Platz, V sitzt hinter dem Schreibtisch und liest angestrengt in einem Buch.)

Er sagt nicht: »Guten Morgen.« Er fragt nicht: »Gut geschlafen?« Er liest. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Stunde. Du sagst nicht: »Guten Morgen.« Du fragst nicht: »Was soll denn das?« Du schweigst. Fünf Minuten, Zehn Minuten, eine Stunde. Entspannen, autogenes Training, »Droschken-Kutscherhaltung« einnehmen, Strategien durchkreuzen, Schweigen.

Der Vernehmer rechnet damit, daß dir »der Kragen platzt«, daß er von dir aufgefordert wird, sich zu erklären. Seine Passivität soll deine Defensivhaltung durchbrechen. Als er sich am 17. zum erstenmal zeigte, rechnete er wahrscheinlich mit lautstarken Reaktionen, mit Empörung, zumindest versprach er sich einen verbalen Schlagabtausch ähnlich der »Eintopp«-Diskussion. Dein Schweigen am ersten Tag enttäuschte seine Erwartungen. Die dann folgenden Gespräche verliefen offensichtlich auch nicht wunschgemäß. Seine heutige Strategie: Warum soll ich sprechen und als Unterhalter fungieren, ich lese ein Buch, ignoriere ihn, dann wird er schon munter werden.

(Gegen 10 Uhr legt er seine Lektüre beiseite.)

V: So, beginnen wir mit der heutigen Vernehmung, Herr Fuchs, Sie können Ihre Entspannungsversuche jetzt beenden. Die Vernehmung zur Person steht noch aus, die Täterpersönlichkeit muß in jedem Verfahren gründlich erfaßt werden. Erste Frage, schriftlich formuliert: Schildern Sie Ihren persönlichen Werdegang, Elternhaus, Schule und so weiter.

Schweigen.

V: Wie soll ich das verstehen, jetzt sagen Sie wohl gar nichts mehr? Schweigen.

Er gerät in Verwirrung, greift zu seinem Buch, legt es beiseite, wiederholt die Protokollfrage. Dann der rettende Einfall:

V: Ich stelle Ihnen jetzt Fragen und warte jeweils zehn Minuten. Wenn Sie nicht antworten, vermerke ich das im Protokoll. Ihr provokatorisches Verhalten muß dokumentiert werden. (Gegen Mittag) ... das halten Sie ohnehin nicht lange durch. Ich lasse Sie täglich holen, unabhängig davon, ob Sie reden oder nicht.

Bis zum 10. 5. 77 breche ich jegliche Kommunikation mit den Vernehmern ab. Ich arbeite, konzentriere mich auf das »Beschreiben der Tischplatte«. Dabei geht es nicht darum, sichtbare Schriftspuren zu hinterlassen, sondern über diese Art des »simulierten Schreibens« zu erreichen, daß Gedanken zu Ende gedacht, Gefühle beschrieben werden, Gehörtes notiert wird. Auch wenn es nicht schwarz auf weiß nachzulesen ist (in der Zelle schreibe ich mittlerweile mit Silberpapierstiften auf den Kunststoffbelag der Tischplatte), was da formuliert wird: »Im Kopf« steht es. Zumindest zu einem großen Teil. Ich reproduziere auch Gedichte, stelle kleine Anthologien zusammen. aktualisiere bisher Geschriebenes. Mitunter singe ich leise.

Ich werde fast täglich von 8- 15/16 Uhr geholt -- die Wochenenden ausgenommen. Auch zu Ostern. Mein »Zellengenosse« zielt zunehmend auf Konfrontation. Am 17. 3. gibt er vor, einen »Sprecher« mit seinem »Bayer-Konzern-Onkel« (existiert nicht) gehabt zu haben; dieser hätte ihm geraten, »alles auf den Tisch zu legen«, da eine Amnestie bevorstände: »Aber nur für die Untersuchungsgefangenen« deren Verfahren abgeschlossen ist.« 31. 3.

V: Manche sind eben korrupt, das ist eine menschliche Eigenschaft, wer sie hat, hat sie. Mit wem liegen Sie zusammen? (Anschließend Detailinformationen über mein Zellenverhalten)... Ihr Ermittlungsverfahren kommt jetzt in eine entscheidende Phase, Sie spüren das sicher selbst. Einmal läuft der Eimer auch bei Ihnen über.

In der Zelle teilt mir J. mit, was mein Vernehmer zu mir sagte. Wörtlich.

J: Ich weiß alles, du mußt zu einem Gentlemen"s Agreement kommen, sonst machen sie dich fertig. (Abbruch der Kommunikation. Ich lese.) 1. 4.

J: Jetzt reicht mir"s. Ich gebe dir noch drei Tage, wenn du dann nicht aus dieser Zelle verschwunden bist, müssen sie dich raustragen. Im übrigen bist du egoistisch. Denk auch mal an deine Frau. Wenn eine Amnestie kommt, vielleicht nach Ostern, und du kommst nicht mit raus, wird sie wahnsinnig. Du bist vielleicht ein Idiot.

Wenn ich auf der Pritsche liege, läuft er stundenlang auf und ab (Pritschenabstand etwa 70 cm>, schlägt im Vorbeigehen rhythmisch auf die Tischplatte, pfeift und trällert (falsch, karikierend) die Lieder, die ich mitunter gesungen habe (u. a. »Und weil der Mensch ein Mensch ist«, »Die erste Liebe"). Nachts verursacht er laute Geräusche, läßt den Wasserhahn tropfen; wenn ich ihn abdrehe« bringt er ihn erneut zum Tropfen ... seine Prügelfristen verlängert er in kleinen Intervallen. Keine Kommunikation.

Beobachtung: Der Vernehmer kann das Klingeln des Telephons selbst auslösen und Gespräche fingieren. Nach meinen Beobachtungen muß sich der Auslöser auf der rechten Schreibtischseite befinden. Wenn ich mich von Zeit zu Zeit entspannen will (autogenes Training), klingelt V im Abstand von etwa fünf Minuten, hebt den Hörer ab und gibt mitunter dunkle Andeutungen von sich, zum Beispiel am 25. 3. vormittags: »Wo? in Reichenbach? (Wohnort meiner Eltern), liegt das nicht im Vogtland. ja, verhaftet, mußte denn das sein? Ach so, ja, schön, also bis nachher.«

Wenn V sich selbst anruft, lacht er meist zu Anfang oder am Schluß in sehr charakteristischer, gekünstelter Weise. Dieses Telephon läßt sich in vielfältiger Weise ge- und mißbrauchen: Der »Beschuldigte« hört mit, er sitzt im selben Raum und hungert nach Informationen. Ihm können auf diesem grotesken Wege gezielt Informationen vermittelt werden -- Andeutungen, Falschmeldungen u. ä. Wenn das Verhör einen für den Vernehmer unangenehmen Verlauf nimmt, kann er außerdem Dialoge abbrechen, »aussteigen«, Zeit gewinnen, »telephonisch« neue Akzente setzen, indem er sich selbst »anruft«.

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