UNFÄLLE Dünn wie Papier
Laut ging es zu bei der Eröffnung der Badesaison im Essener Freibad Baldeneysee. Musik spielte, es gab Freibier und Würstchen - ein fröhliches Fest.
Niemand hörte, inmitten des Gewühls, die Alarmsirene. Als ein Spaziergänger am Bad vorbeikam und telephonisch meldete, es rieche »überall nach Chlor«, war es schon zu spät. Eine Gaswolke trieb durch das Gelände und hinterließ eine sieben Meter breite Schneise. Die Liegewiese sah aus wie nach einem Angriff mit Entlaubungsmitteln.
Zwei Dutzend Wochenend-Ausflügler, die sich in der Nähe vergnügten, spürten plötzlich starken Brechreiz, Kratzen im Hals und Atemnot. Die Hausfrau Gudrun Pascharat, 56, wurde von der Chlorwolke eingehüllt, wenig später war sie tot. Wie die Obduktion ergab, hatte ihr das hochgiftige Gas die Atemwege verätzt. Sie war erstickt.
Seit drei Monaten ermitteln Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft gegen den Bademeister und seine Vorgesetzten im städtischen Bäderamt wegen fahrlässiger Tötung - mit beunruhigendem Ergebnis: Mangelnde Qualifikation des Bedienungspersonals, stellten Gutachter vom Rheinisch-Westfälischen TÜV fest, sei die Ursache des Essener Chlorgas-Unglücks. Weil eine Rohrdichtung fehlerhaft installiert worden war, konnte das Gas ausströmen.
Wenige Wochen nach dem Essener Vorfall fiel im Freibad des westfälischen Städtchens Marl-Hüls die Chlor-Warnanlage aus. Als die Feuerwehr die Gasflaschen mit der lebensgefährlichen Chemikalie sicherheitshalber abtransportieren wollte, öffnete sich ein Ventil, Chlorgas entwich - zwei Polizisten, die das Badegelände absperrten, erlitten schwere Vergiftungen.
»Solche Pannen«, wiegelt Friedrich Kunze von der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen ab, »sind sehr, sehr selten.« Die Sicherheitsvorschriften für die Chloranlagen seien »optimal«.
Zweifel sind angebracht. TÜV-Prüfer in 75 nordrhein-westfälischen Schwimmbädern entdeckten Chlorgas-Leitungen »dünn wie Papier« (Diplom-Ingenieur Klaus Oberweg vom TÜV). Sowohl Unfallverhütungsvorschriften wie Sicherheitsvorkehrungen der Städte seien »völlig unzureichend«.
Die TÜV-Kontrolleure bemängeln, daß die Chloranlagen nur einmal und die dazugehörigen Warneinrichtungen lediglich zweimal pro Jahr von »Sachkundigen« geprüft werden müssen. Aber »nirgendwo«, sagt Oberweg, »ist festgelegt, wer ein Sachkundiger ist und wie er qualifiziert sein muß«. In der Regel übernehmen Bademeister die Aufsicht, die aber mit den Prüfungen vielfach überfordert sind.
Essen ist kein Einzelfall. In Bornheim bei Bonn fiel für tausend Schüler der Unterricht aus, weil im Keller eines Hallenbades nahe der Schule an einer mit Chlorgas gefüllten Flaschenbatterie ein Leck entstanden war. Im Schulzentrum Markt Indersdorf (Landkreis Dachau) wurden 20 Kinder mit Übelkeit, Halsschmerzen und tränenden Augen in Krankenhäuser gebracht. Sie hatten das Gas, das in Toiletten, Turnhalle und Unterrichtsräume eingedrungen war, minutenlang eingeatmet.
Nur »in seltensten Fällen«, so Oberweg, werden Chlorgas-Leitungen alle zwei Jahre, wie vom TÜV empfohlen, ausgetauscht. Oft herrsche totale Unkenntnis über die aggressiven Eigenschaften des Desinfektionsmittels, das Stahlleitungen binnen kurzem zersetzt.
Das stechend riechende, gelbgrüne Gas ist ein »absolutes Tötungsmittel« (Oberweg), das »schnell und umfassend« das Wasser entkeimt. Ohne Zusatz von Chlor wäre jedes Schwimmbad im Nu eine Jauche; ansteckende Krankheiten könnten sich massenhaft ausbreiten. Um so unverantwortlicher, beanstandet der TÜV, sei leichtsinniger Umgang mit den »sehr gefährlichen Chlorgas-Dosierungsanlagen« (Oberweg).
In den Unfallverhütungsvorschriften wird lediglich der Einbau von Berieselungsanlagen vorgeschrieben, die verhindern sollen, daß austretendes Gas durch den Raum treibt. TÜV-Experten empfehlen die Installation von optischen oder akustischen Warngeräten, mit denen bislang nicht alle Schwimmbäder ausgestattet sind.
Der Gebrauch des Gases, das nicht selbst die Desinfektion bewirkt, sondern erst in Reaktion mit dem Badewasser, gilt unter Fachleuten ohnehin nicht mehr als zeitgemäß. In Großbritannien etwa wird die Verwendung von Chlorgas Ende nächsten Jahres eingestellt.
So weit sind die Deutschen noch nicht. Nordrhein-Westfalens Arbeits- und Sozialminister Friedhelm Farthmann (SPD) betrachtet die Sicherheitsvorschriften als »grundsätzlich ausreichend«. Allerdings, gab er nach dem Essener Unfall zu, müßten »an das Personal höhere Anforderungen als früher gestellt werden«. Farthmann: »Der Bademeister kann das nicht mehr allein.«