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WAHLEN / HESSEN Dünne Suppe

aus DER SPIEGEL 47/1970

Heinz Herbert Karry, 50, FDP-Fraktionschef im hessischen Landtag, wehrte sich vor den Fernsehkameras gegen noch mehr Schminke: »Da sehen mich die Leute halt mit nasser Nase.«

Er selber sah sich nach der ersten Hochrechnung sogleich als Sieger: »Meine Partei wird morgen früh nur ein Problem haben: die eigene Euphorie zu überwinden.«

Als Karry seinen ersten Wahlkommentar ins Mikrophon sprach, stieg der stellvertretende CDU-Landesvorsitzende Dr. Walter Wallmann im Wiesbadener Innenministerium eine Etage höher, vom achten in den neunten Stock: ins Wahlzentrum. Der Partei-Rechtsaußen, auch er ein Sieger, verzichtete auf Euphorie und formulierte milde wie sein Chef Kiesinger: »In der Niederlage nicht untergehen, im Sieg nicht überschäumen.«

Fünf Stunden später, als alles endgültig entschieden war und Raumpfleger schon mit Staubsauger und Putzlappen die Minister-Etage wieder herrichteten, verabschiedete sich Hessens SPD-Wirtschaftsminister ("Dynamit«-) Rudi Arndt, dessen Genossen zwar ebenfalls gesiegt, aber auch gelitten hatten: »Wir gehen jetzt zum Friedhof und beerdigen die absolute Mehrheit.«

Gesiegt hatte im Hessenland keine der drei Parteien, doch viel war gewonnen. Denn die Wahl, die sozialdemokratische Alleinherrschaft bestätigen sollte ("Hessen vorn"), das Sterben der FDP einzuläuten drohte und womöglich gar eine Wachablösung am Rhein hätte bewirken können, zwingt nun wohl die Sozialdemokraten, nach Bonner Vorbild die Macht am Main mit den Freien Demokraten zu teilen, verhalf aber der FDP zu neuer Potenz (FDP-Landeschef Wolfgang Mischnick: »Die FDP steht") und verheißt mithin der bedrängten Brandt-Regierung wieder Hoffnung: SPD und FDP zusammen schafften genau 1,1 Wähler-Prozente mehr als bei den Bundestagswahlen vor einem Jahr -- obgleich die Sozialdemokraten (verglichen mit 1969) 2,3 Prozent verloren.

Dem FDP-David, auf Wahlplakaten ohne Schleuder dargestellt, half diesmal SPD-Goliath. In keinem der 55 hessischen Wahlkreise blieb am vorletzten Sonntag die FDP unter dem Ergebnis der Bundestagswahl, nur In zwei Wahlkreisen überwand sie nicht die Fünfprozent-Hürde, die zu nehmen ihr viele nicht mehr zugetraut hatten.

In einigen Wahlkreisen konnten die Freien Demokraten ihren Stimmenanteil beinahe verdoppeln, häufig verstärkt durch SPD-Anhänger, die diesmal FDP wählten, um die Bonner Koalition zu retten. So kletterten sie im Main-Taunus-Kreis-Süd von 5,4 auf 9,1 Prozent, in Darmstadt-Süd von 8,2 auf 16 Prozent. »Einen Erfolg in diesem Ausmaß«, so Mischnick, »hat keiner erwartet.«

Die SPD hingegen mußte sich -- ein Jahr nach dem Rücktritt ihres weithin als Landesvater respektierten Georg August Zinn -- mit weniger Spektakulärem begnügen. Sie gewann nur In jedem fünften Wahlkreis hinzu, und jedesmal waren es nur Bruchteile; lediglich in drei Wahlkreisen fiel mehr ab -- ein bis 2,4 Prozent.

Die Einbußen jedoch schlugen sich vor dem Komma nieder: In 19 Wahlkreisen betrug die Verlustquote zwischen ein und fünf Prozent, in 14 sogar zwischen fünf und zehn Prozent. In traditionelle Hochburgen der Roten drangen nun, wie der CDU-Landesvorsitzende, Dr. Alfred Dregger ("Wir kommen") angekündigt hatte, Schwarze ein. So gewannen die Christdemokraten -- verglichen mit den Landtagswahlen von 1966- in den drei Offenbacher Wahlkreisen (lange Jahre SPD-Bastion »Donnerkeil") jeweils rund zehn Prozent. So verlor die SPD in ihrem Musterbezirk Hanau, wo Landrat Martin Woythal das erste klassenlose Krankenhaus durchgesetzt und die meisten Versuche mit Gesamtschulen angestellt hatte, 7,9 Prozent (CDU-Gewinne: 12,6 Prozent).

Die »Belastung der Arbeitnehmer auch unter dieser Bundesregierung«, so analysierte der DGB-Landesvorsitzende Philipp Pless, und »grobe Fehler im Wahlkampf« hätten potentielle SPD-Wähler abgeschreckt, Konjunkturzuschlag und Preisentwicklung der SPD in Hessen zu schaffen gemacht. Aber auch das Streben nach »law and order«, so Jungsozialist Erich Nitzling, schlug sich in CDU-Gewinnen nieder -- vor allem in Ballungsgebieten, »wo sich Quartiere von ausländischen Arbeitnehmern herausgebildet haben. Dort hat meine Partei am meisten verloren«.

Zu nächtlicher Stunde suchte Hessens Ministerpräsident Albert Osswald seinem Parteichef, Bundeskanzler Willy Brandt, am Telephon das Debakel plausibel zu machen: »Willy, du hast ja wohl gehört, wie es hier gelaufen ist.« Wortreich erläuterte Osswald dem Regierungschef, »mindestens drei Prozent« der Abgänger seien auf das Mitleidskonto der FDP zu verbuchen: »Notopfer Hessen« -- für Bonn. Der Rest (Landesverlustquote, verglichen mit den Landtagswahlen von 1966: 5,1 Prozent) war Schweigen.

In Frankfurt, wo nach Meinung des durchgefallenen Sozialdemokraten Christian Raabe der FDP-Zuwachs »weit über das sinnvolle Maß einer Rettungsaktion« hinausging, war der Rest die Hauptsache. Dort sackten die Freien Demokraten ein, was sie Sozialdemokraten verloren: 6,8 zu 6,9 Prozent. Selbst in den Betonalleen des neu errichteten Frankfurter Trabanten »Nordweststadt«, wo neben wenigen Betuchten vor allem Betagte und Sozialmieter wohnen, hielten sich SPD-Verluste und FDP-Gewinne die Waage: 8,2 zu 8,3 Prozent.

Im umstrittenen Frankfurter Wahlkreis 39, in dessen Kernstück Westend Studenten und Gastarbeiter aus Protest gegen Spekulantentum und Mietwucher leerstehende Häuser besetzt halten, gab es bei der FDP noch mehr Stimmen und bei der SPD noch längere Gesichter (siehe Seite 49).

Hier schlug die CDU-Hausfrau und Fernseh-Mutti ("Wünsch dir was") Ruth Beckmann im Adenauer-Habit ("Das private Eigentum muß Bestandteil unserer Politik bleiben") den Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten, Karsten Voigt, der nach Marx-Muster die Überführung von privatem Grund und Boden in Gemeineigentum und mehr Mitbestimmung in Betrieben propagiert hatte (siehe Interview Seite 44). Der liberale Reformrichter Otto Pulch kassierte dabei am meisten: FDP-Aufschwung 8,4; CDU-Gewinn 3,1; SPD-Verlust 9,5 Prozent.

Ähnlich war es allenthalben. Wo die SPD sich weit links gebärdete, gewannen FDP und CDU am meisten. Wo, wie in den südhessischen Ballungsgebieten, linke Parolen vom Sozialisieren und Enteignen »zwar Furcht erregten, aber nicht wörtlich genommen wurden« (Hessens Innenminister Johannes Strelitz), wechselten zahlreiche SPD-Anhänger zu den Freien Demokraten. Wo das »Gerede wörtlich genommen wurde« (Strelitz), in den nordhessischen Bauerngebieten, liefen Freie Demokraten und selbst SPD-Anhänger gleich zur CDU über.

Die Wählerbewegung im vermeintlich roten Hessenland, das Hessens Jungsozialisten wirklich rot machen wollten, kam freilich auch der Bonner Opposition zugute. Durchschnittlicher CDU-Gewinn gegenüber den Bundestagswahlen: 1,3 Prozent -- zwei Zehntel Prozent mehr als SPD und FDP gemeinsam.

Nur in einer einzigen hessischen Gemeinde, in der SPD und FDP zugenommen haben, verloren CDU und NPD an Stimmen -- in der Opelstadt Rüsselsheim, wo, so Karsten Voigt, die Arbeiter offenbar »ummobilisiert« wurden.

Nur in zwei Wahlkreisen verloren die Christdemokarten -- zwischen 0,1 und 0,3 Prozent. In den übrigen 53 behaupteten sie sich oder gewannen hinzu -- bis zu 4,3 Prozent. Verglichen mit den Landtagswahlen von 1966, registrierten die Christdemokraten sogar überall ein Plus. In sechs Wahlkreisen holten sie sich zusätzlich fünf bis zehn Prozent, in 46 Wahlkreisen waren es zehn bis 20.

Am meisten jedoch gewannen sie in den Reservaten der Rechten. Im Wahlkreis Alsfeld/Gießen-Land-Ost. wo die Nationaldemokraten es 1966 auf zwölf Prozent Wählerstimmen gebracht hatten, stiegen die Christdemokraten -- bei gleichzeitigen SPD- und FDP-Einbußen -- von 17,3 auf 38,2 Prozent. In dem schon immer deutschtümelnden Wahlkreis Waldeck -- hier rutschte die NDP von 11,3 auf 4,7 Prozent, die FDP büßte 12,1 Prozent ein -- verzeichnete die CSU-Schwesterpartei Zuwachsrekord: 23 Prozent (1966: 17,9 Prozent Stimmenanteile, 1970: 40,9).

Auch in den anderen National-Domänen, die 1966 jeweils mehr als zehn Prozent NPD-Mitläufer zutage gebracht hatten, profitierten vorzugsweise Christdemokraten. So verhalf im Kreis Büdingen die völkische Wanderung der Union zu zusätzlichen 18,4 Prozent (CDU-Ergebnis: 37,8). Im Dillkreis waren es 17,2 Prozent (CDU-Ergebnis: 45,6), in Frankenberg/Ziegenhain, wo 1966 die NPD 8,4 Prozent erhielt, gar 20,9 Prozent (CDU-Ergebnis: 38,8 Prozent). In der Kleinstadt Grünberg, die bei den letzten Landtagswahlen mit 19,2 NPD-Anteilen allen voran gewesen war (NPD-Ergebnis 1970: 8,8 Prozent), führt nun die CDU, die ihr Potential von 21,5 auf 43,2 Prozent verdoppelte.

»Die Verluste der NDP sind identisch mit den Gewinnen der CDU«, analysierte denn auch NPD-Chef Adolf von Thadden. Die »Konsequenz der Resignation« hält er zwar für »vielleicht naheliegend«, aber doch nicht »für die richtige Reaktion«.

So erreichte die von Nationaldemokraten, BHE-Resten, FDP-Abweichlern und SPD-Überläufern aufgeblähte Christenunion am Main zwar ihr Wahlziel, das der CDU-Wahlkampfleiter und stellvertretende -Landeschef, Dr. Christian Schwarz-Schilling, anvisiert hatte: »Jedes Prozent über 35 ist ein Gewinn.« Aber die Wachablösung am Rhein, die vorrangig auf dem Programm gestanden hatte, mußte verschoben werden.

Nun bereiten sich Hessens Christdemokraten, wie CDU-Chef Dregger ankündigte, »auf die härteste Opposition vor, die es je in einem Bundesland gab«. Den auch künftig regierenden Sozialdemokraten, die jetzt mit den Freien Demokraten Koalitions-Papiere ausarbeiten und Reformeifer in den eigenen Reihen zügeln müssen (FDP-Mischnick: »Wir werden allen sozialistischen Experimenten eine klare Absage erteilen"), grault freilich einstweilen noch mehr vor dem Partner als vor dem Gegner.

Der Genosse Holger Börner, einst Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, heute Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, der zusammen mit Wiesbadener Vorstandskollegen mit der FDP über Posten und Programme verhandeln soll, weiß schon jetzt: »Wenn man in die Verhandlungen reingeht, ist es einem so, als hätte man einen Korb mit abgezogenen Handgranaten geschenkt bekommen.«

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