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»Dumm, primitiv und stümperhaft«?

War der Massenmord von Braunschweig ein bis ins letzte ausgeklügeltes Unternehmen, war bei dem Überfall am 19. Januar von vornherein der Tod der Opfer einkalkuliert? Oder war es Mord aus Panik, weil sich die Verbrecher erkannt glaubten? Der Freiburger Kriminologie-Professor und Jurist Wolf Middendorff deutet Tat und Tätertyp.
aus DER SPIEGEL 6/1977

SPIEGEL: Wie kein anderes Verbrechen der letzten Jahre hat der Mord an dem Braunschweiger Bankdirektor Wolfgang Kraemer, seiner Frau und seinen Kindern Emotionen geweckt. Sogar über die Todesstrafe wird wieder geredet. Ist der fünffache Mord für die Kriminologie ein Fall ohne Parallele?

MIDDENDORFF: Das kann man so nicht sagen. Es gab schon eine Reihe von Massenmorden, beispielsweise aus sexuellen Gründen oder als Ritualmord. Oder aus religiösen oder politischen Motiven. Und es gibt schließlich auch die Massentötung als Beziehungstat, wenn etwa ein verzweifelter Vater seine ganze Familie auslöscht.

SPIEGEL: Die Braunschweiger Morde sind mit so motivierten Taten kaum zu vergleichen.

MIDDENDORFF: Sicher nicht. Aber es gab Anfang der siebziger Jahre einen ähnlichen amerikanischen Fall: Kidnapper zwangen einen Direktor -- dem sie eine Sprengladung um den Bauch gebunden hatten -- Geld aus der eigenen Bank zu beschaffen. Als sie es hatten, brachten sie ihn und seine gesamte Familie um.

SPIEGEL: Deutet, was die Bundesrepublik betrifft, das Verbrechen von Braunschweig auf eine neue Tendenz bei Mord und Totschlag -- mit nie gekannter Intensität?

MIDDENDORFF: Das ist für uns zumindest eine neue Situation, insofern als hier ein Bankraub, also eine Bereicherungstat, bei der in der Regel nicht getötet wird, in einen Massenmord mündet. Denn im Grunde war dies ja ein Bankraub; nur hatte sich der Schauplatz verlagert, von der Schalterhalle in die Wohnung des Direktors.

SPIEGEL: Man muß davon ausgehen, daß die Erpressung des Bankdirektors Kraemer -- wie bei solchen Unternehmungen üblich -- sorgfältig geplant war, daß die Täter die Örtlichkeiten ausgekundschaftet, sich über die Gewohnheiten ihrer Opfer gründlich informiert und daß sie auch bedacht haben, wie sie mit Unvorhergesehenem fertig würden. Wie kann ein nüchtern geplantes Unternehmen so ins Irrationale abkippen?

MIDDENDORFF: Über die Planung wissen wir noch nicht genug. Aber es gibt auch bei durchkalkulierten Verbrechen immer noch Spontaneität, den Fall von Kidnapping beispielsweise, bei dem der Tatvorsatz gegeben ist und dann irgendein Kind aus einem spontanen Entschluß heraus gegriffen wird.

SPIEGEL: Schwer zu glauben, daß die Mörder von Braunschweig so ganz willkürlich gehandelt haben.

MIDDENDORFF: Es kann aber durchaus sein, daß diese Tat eben doch nicht so hundertprozentig geplant war, wie der oder die Täter meinten, daß Überraschungen aufgetreten sind, daß die Täter etwa doch nicht genau gewußt haben, wie groß die Familie war. Es kann durchaus sein, daß sie doch stümperhaft und ohne ausreichend genaue Kenntnisse zu Werke gegangen sind, daß es vön Anfang an doch eine dumme und primitive Tatplanung gewesen ist.

SPIEGEL: Damit wäre auch das Risiko für Kraemer und seine Familie von Anfang an unkalkulierbar gewesen?

MIDDENDORFF: Ausgehend von dem vermutlichen Ziel der Täter, Geld zu erpressen, also davon ausgehend, daß sie Vermögenstäter waren, haben sie vielleicht zunächst Gewalt, also die Tötung der Opfer, nicht eingeplant. Aber man weiß eben noch nicht, was in dem Hause passiert ist. Möglicherweise fühlten sie sich erkannt, befürchteten, von den Opfern später identifiziert zu werden.

SPIEGEL: Also Mord aus Panik? Mord, weil sich das scheinbar todsichere Tatkonzept als brüchig erwies?

MIDDENDORFF: Das ist dann ein Deckungsmord -- die Vernichtung von Zeugen -- oder ein, man mag es so nennen, Panikmord. So wäre es zu erklären, daß alle umgebracht wurden. Denn es wäre ja nicht konsequent, nur einen oder zwei zu töten.

SPIEGEL: Auch den sechsjährigen Jungen?

MIDDENDORFF: Kinder in diesem Alter haben schon durchaus brauchbare Aussagen für die Polizei geliefert.

SPIEGEL: Welcher Tätertyp ist zu solchem Wahnsinn fähig, womöglich sogar in der Gruppe?

MIDDENDORFF: Berufsverbrecher, Profis waren es sicher nicht. Als Profi würde man der Typ bezeichnen, der seinen Lebensunterhalt mit Straftaten bestreitet, der nüchtern -- so meint er jedenfalls -- seine Chancen abwägt, der es vermeidet zu töten, weil er weiß, daß dann die Strafe schwerer ausfällt, und der sehr sorgfältig seine Taten zu planen und auszuführen versucht.

SPIEGEL: Dann waren es in Braunschweig nach Ihrer Einschätzung Laien?

MIDDENDORFF: Wir wissen einstweilen noch zu wenig. Man könnte höchstens vom Bankräuber-Typ ausgehen. Das sind meist Menschen, die in wirtschaftlicher und finanzieller Not sind, die sehr schnell den Coup ihres Lebens landen wollen, etwas von Spielernaturen in sich haben, und die auf diese Weise nun ganz plötzlich ihr Glück, ihr sogenanntes machen wollen.

SPIEGEL: Und noch nie kriminell aufgefallen sind?

MIDDENDORFF: Sie können durchaus schon aufgefallen sein. Wir wissen beispielsweise, daß zwei Drittel der Bankräuber vorbestraft sind, allerdings als Kleinkriminelle mit Vermögensdelikten, insbesondere Diebstahl. Sie sind eben keine Profis.

SPIEGEL: Sie sagen, der Profi vermeidet zu töten. Aber ist der Braunschweiger Fall nicht doch der Beginn einer gefährlichen Entwicklung. Einerseits werden Schutzmaßnahmen der Banken, werden auch die Ermittlungsmethoden immer perfekter. Die Aufklärungsquote bei Kapitalverbrechen ist groß -- die Mißerfolge in den Fällen Snoek oder Oetker ändern daran nichts. Andererseits hat dies zur Folge, daß der Straftäter sich immer mehr bemüht, jedes Risiko auszuschalten -- bis hin zum Massenmord.

MIDDENDORFF: Die Strangulierung mit Bindfaden spricht in der Tat dafür, daß jedes Risiko ausgeschaltet werden sollte, dies erklärt die erbarmungslose Grausamkeit. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung einer lebenslangen Freiheitsstrafe für Geiselnahme verständlich, aber nicht unbedingt richtig. Man kann geltend machen, daß im Gegenteil in der Strafdrohung an den Täter noch ein Appell enthalten sein müsse, es nicht zum allerletzten kommen zu lassen. Es gebietet die Vernunft, ihn nicht in eine, wie er meint, aussichtslose Lage zu bringen.

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