Tito Dunkle Geschichte
Vom slowenischen Großvater hat er die Statur und die Neigung, anderen Leuten Streiche zu spielen. Als Kind bekam er vom Dorfpfarrer eine Ohrfeige, und während der Schlosser-Lehre las er »Die Abenteuer des Sherlock Holmes«
Später, als Werksfahrer der Firma Daimler in Wien, »lernte er die vornehmen Balltänze. Dann kam der Weltkrieg, und er mußte als Zugführer der k.u.k -Armee an die Karpatenfront. Als Kriegsgefangener in Sibirien ·half er einem Kirgisen, »eine Frau einem Nachbarstamm zu entführen«, denn er verfügte über »eine flexible und kämpferische Mentalität«.
So konnte er dann, in die Heimat zurückgekehrt, kroatischen Bauern und später seinen Biographen jene »seltsamen Geschichten« erzählen, die jetzt auch deutschen Lesern bekanntgemacht werden sollen -- gerade zur rechten Zeit, denn Jugoslawiens Marschall Josip Broz Tito wird am 7. Mai achtzig Jahre alt.
Die verschlungene, in manchen Teilen noch immer dunkle Geschichte des Bauernjungen aus dem kroatischen Kumrovec, Partisanen und Staatspräsidenten, der selber nie eine Autobiographie schrieb, hat die Londoner Universitätsdozentin Phyllis Auty, 62, nacherzählt.*
* Phyllis Auty: Tito. C. Bertelsmann Verlag, Gutersloh; 383 Seiten; 26 Mark.
Die Balkan-Expertin war im Zweiten Weltkrieg beim »Political Intelligence Department« des britischen Außenministeriums beschäftigt und bereiste in Diensten einer internationalen Hilfsorganisation das zerstörte Nachkriegs-Jugoslawien. Für ihr Buch -- die erste Tito-Biographie westlicher Geschichtsschreibung -- forschte sie in jugoslawischen Archiven, befragte ehemalige Partisanen und deren britische Helfer aus der Widerstandszeit. Tito selbst gewährte ihr zwei Interviews.
Die britische Historikerin war sich der Schwierigkeiten ihres Vorhabens durchaus bewußt. »Manchmal«, so gesteht sie, »ist es nicht leicht, zwischen Tito als realem Menschen und Tito als mythischem Helden zu unterscheiden.« Im Zweifelsfall entschied sie sich für den Helden. So führt denn das Buch der Britin die Tradition der jugoslawischen Tito-Literatur fort.
Wie in dem Standard-Werk der Belgrader Heldengeschichtsschreibung, dem Tito-Buch des einstigen Leibbiographen Vladimir Dedijer, ist Tito auch in der Biographie Phyllis Autys »offen und furchtlos«, »energisch und methodisch« und die »hervorragendste Persönlichkeit, die der europäische Kommunismus außerhalb der Sowjet-Union hervorgebracht hat«, während seine Gegner und Opfer ausnahmslos finstere Gesellen sind.
Tito wurde »in seiner Heimat das verehrte Symbol der Einheit«, und bei diesem Werdegang war, wie Phyllis Auty mitteilt, immer wieder eine gute Portion Glück im Spiel. Als der österreichisch-ungarische Unteroffizier Josip Broz 1914 wegen »defätistischer Äußerungen« auf der Festung Peterwardein eingesperrt war, sei er »nach einigen Tagen wieder« entlassen worden, »da sein Fall für ein Militärgericht zu unbedeutend war --
In Wahrheit aber, das steht sogar in jugoslawischen Zeitungen, wurde Tito damals freigelassen, weil eine Zeugin beschwor, er habe derartige Äußerungen überhaupt nie gemacht. Titos angeblicher Insurrektionsakt war nur die Erfindung eines »exzentrischen und despotischen Korporals«.
Der Unteroffizier Broz geriet in Kriegsgefangenschaft, wurde von den russischen Revolutionären befreit, flüchtete vor den Weißgardisten in die Steppe und heiratete -- merkwürdig genug -- mitten während des Bürgerkrieges in der orthodoxen Kirche von Bogoljuboisko die Russin Pelageja Beloussowa.
Im Dezember 1919 oder Januar 1920 wurde Josip Broz, wie der 1954 verstorbene jugoslawische Generaloberst Dimitrije Georgijevic berichtete, in die KP aufgenommen: »Tito lebte damals in Atamanski Chutor.« Erst im Herbst 1920 traf er wieder in Jugoslawien ein und führte dann viereinhalb Jahre als »gewöhnlicher Familienvater« bei einem »gutherzigen Juden« ein »häusliches Leben«. Deshalb, so Phyllis Auty, hatte Josip Broz auch »das Glück, nie in die frühe Phase der Kontroversen hineingezogen zu werden«, die damals die Arbeit der KP Jugoslawiens paralysierten, denn »nur wenige Beteiligte überlebten«.
So vernebelt die neue Tito-Biographie die schlichte Tatsache, daß Tito weder an der Sozialistischen Oktoberrevolution noch am Aufbau der KP Jugoslawiens beteiligt gewesen war und erst im Alter von 36 Jahren überhaupt in die Politik eintrat.
Im September 1925 fand Tito Arbeit bei einer heute nach ihm benannten Werft in Kraljevica an der Adriaküste. »Er gehörte«, so Phyllis Auty, »einer etwa zwölf Mitglieder starken Parteizelle an, die ihre politischen Geheimtreffen in Privatwohnungen abhielt. Seine Aufgabe bestand darin, nun im Auftrage der Partei unter den Arbeitern Streiks zu organisieren.« Die Arbeitskollegen ermunterte er, sich bei ihm Bücher auszuleihen: nämlich solche von Jack London, Gorkis »Mutter« und »Werke über den Sozialismus«.
Fabijan Polic hingegen, ein überlebender Arbeitskollege des Josip Broz von damals, erinnerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg an etwas anderes: Wohl habe man sich an schönen Abenden mit Broz in einem Kiefernhain getroffen, um dort zu musizieren, denn »er hatte eine gute Stimme«, aber das Interesse des jungen Broz galt eher den Etüden von Chopin und Robert Schumann als der »Internationale«.
Wegen der Bücher allerdings habe sogar ein Strafprozeß stattgefunden. Doch nicht Josip Broz, sondern ein anderer Werftarbeiter erhielt die Höchststrafe: Broz wurde vom Richter Stjepan Bakaric, dem Vater seines heutigen kroatischen Vertrauten Dr. Vladimir Bakaric, mit Suppe aus dessen Küche versorgt und mußte von verhängten sieben nur zweieinhalb Monate in Ogulin absitzen, denn die inkriminierte Literatur konnte man in jedem Buchinden kaufen.
Heute ist das Gefängnis von Ogulin eines von vielen Tito-Museen, aber unter rund 400 Dokumenten und Exponaten sind nur zwei mit dem Arbeiter-Helden in Verbindung zu bringen: ein eiserner Ofen, an dem er sich gewärmt, und ein Bett, in dem er geschlafen haben soll. »Die Gerichtsdokumente«, so schrieb der Zagreber »Vjesnik« nach dem Zweiten Weltkrieg, »die mit dem Prozeß gegen Josip Broz und sieben junge Arbeiter zusammenhängen. wurden unter unerklärlichen Umständen nach dem Kriege verbrannt.«
Tatsächlich beruht nahezu alles, was über diese entscheidende Zeit der Tito-Geschichte bekannt ist, auf Titos eigenen Angaben oder den Ausschmückungen seiner Hausbiographen. »Als ich mit diesem Buch begann«, gesteht Phyllis Auty denn auch in der englischen Fassung ihrer Arbeit, »kontaktierte ich in Jugoslawien Leute, die Zugang zu Material über Titos Leben haben. Sie sagten mir: Wir alle müssen auf Dedijers Buch aufbauen. Ich fand heraus, daß dieses wahr ist.«
Daran glauben jedoch nicht einmal mehr Jugoslawiens Historiker. So veröffentlichte im Mai des letzten Jahres die Wochenzeitschrift »Nin« eine Dedijer-Kritik, in der es unter anderem hieß: »Wie Dedijer selbst später bemerkte, war das Ziel seines Buches, im Westen für Marschall Tito Propaganda zu machen.« Man müsse zugeben, daß die jugoslawische Zeitgeschichtsforschung sich nicht »auf angemessenem Niveau« befinde.
Die Wahrheit freilich, vor allem die Wahrheit über Titos kometenhaften Aufstieg in den dreißiger Jahren, erfährt man auch in Autys Tito-Buch noch nicht; und tatsächlich haben es die Historiker mit dieser Zeit besonders schwer, solange Moskau sich nicht entschließt, die einschlägigen Dokumente der Kommunistischen Internationale (Komintern) herauszurücken.
Dabei gibt es immerhin einen wichtigen Schlüssel für Titos Sprung nach vorn: Als Josip Broz nach beiläufigen Kontakten mit Gewerkschaftsführern in Belgrad 1928 nach Zagreb zurückkehrte und dort in der Metallarbeitergewerkschaft aktiv wurde, setzte er im Hinterzimmer einer Vorortskneipe mit knapp zwei Dutzend Anhängern und gegen den Widerstand der Zagreber KP-Führung einen Brief an die Moskauer Komintern durch, in dem Moskau unverhüllt zur Intervention gegen die jugoslawische Parteiführung aufgefordert wurde.
Auch Phyllis Auty fällt das auf, und sie fragt sich, »welche Gründe er hatte,
* Mit dem Altkommunisten Mosa Pijzde (r.) im Gefängnis von Lepoglava etwa 1930.
sich in diesem Stadium an die Komintern zu wenden: Dachte er überhaupt nicht an seine Karriere, oder wollte er in Moskau die Aufmerksamkeit auf sich lenken?« Sicher ist, daß der bis dahin kaum bekannte, inzwischen 36jährige Josip Broz seine politische Karriere eben damit erst eigentlich begann, daß er Moskau um brüderliche Hilfe gegen die legal gewählte Parteiführung Jugoslawiens bat.
Für die britische Geschichtsschreiberin bleibt sein Aufstieg vom Gewerkschaftsekretär zum Marschall Jugoslawiens ein Mysterium, das nicht mit massiver Moskauer Hilfe, sondern immer wieder mit seinem ganz erstaunlichen Glück zu erklären ist.
1928 wurde Tito in Zagreb zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, und das »bewahrte ihn vor den brutalen und in mehreren Fällen tödlichen Maßnahmen gegen Kommunisten in der Zeit von 1929 bis 1932 in Jugoslawien und auch vor der noch grausameren Ausrottung. die Stalin gegen jugoslawische und andere Kommunisten in den dreißiger Jahren in Rußland betrieb«.
Tito konnte sich während der Haftzeit recht frei bewegen und erzählte später, er hätte sogar fliehen können. Doch »er hat es klugerweise bleiben lassen, da zu dieser Zeit die Lebensbedingungen der Kommunisten außerhalb des Gefängnisses schlechter waren als innerhalb« (Auty).
Doch aus Parteidokumenten geht hervor, daß der erste auf Titos Bittbrief hin von der Komintern eingesetzte Generalsekretär der KP Jugoslawiens, Djuro Djakovic, den Befehl zur gewaltsamen Befreiung Titos aus dem Gefängnis gegeben hat. Nur, das Unternehmen scheiterte. Und just zu Beginn der großen Stalinschen Säuberung saß der künftige KP-Chef Jugoslawiens nicht hinter sicheren Gefängnismauern, sondern kam gerade in Moskau an.
Fast alle nach Rußland emigrierten jugoslawischen Kommunisten fielen dem Terror des Kreml-Diktators zum opfer. Auch Tito wurde, so sagt er, vor eine Untersuchungskommission gestellt. Aber er kam davon und wurde sogar zum Liquidator des Restes der jugoslawischen Parteiführung in Jugoslawien selbst befördert.
Dieses alles, meint Phyllis Auty, sei Tito nur deshalb gelungen, »weil er die Fähigkeit hatte, unauffällig in seiner Umgebung aufzugehen«; außerdem hatte er »im Gegensatz zu anderen Neuankömmlingen in Moskau kaum Sprachschwierigkeiten«. Aber liquidiert wurden auch jene sprachkundigen Genossen, mit denen zusammen er zeitweise an der Übersetzung der »Geschichte der KPdSU« ins Serbokroatische arbeitete.
Titos Stunde kam, als schließlich auch Milan Gorkic, sein Vorläufer im Generalsekretariat der jugoslawischen KP, verschwand. Phyllis Auty verheimlicht auch nicht, daß von Titos Feinden »angedeutet worden ist, daß er sich selbst rettete, indem er seine Freunde und Genossen verriet«. Aber das stehe »völlig im Gegensatz zu all dem, was wir über Titos Charakter wissen«. Wie die offiziellen Belgrader Biographen hält sie ihn für ein potentielles Opfer der Stalinschen Säuberungen, das aber immer wieder aus lauter Glück davongekommen sei.
Mitte 1937 bekam Tito -- er war inzwischen von der Komintern nach Paris geschickt worden -- eine Aufforderung, sich in Moskau zu melden. Sobald er das russische Visum erhalten hatte, reiste er. Es war genau die Zeit der Stalinschen Kampagne gegen das »Spionagenest der Komintern«, zu dem Tito selbst gehörte. Wie das alles gutgehen konnte, ist noch immer ungeklärt.
Immerhin, eine Lösung des Rätsels wird dann doch von Phyllis Auty angedeutet: Tito trägt nämlich noch heute jenen Diamantring, den er vom Honorar für die Übersetzung der Geschichte der KPdSU gekauft hat, und die Historikerin fragt sich: »Ist auch dies ein Symbol des Erfolges? Ein Talisman gegen Unglück?«
Irgendwie so muß es wohl gewesen sein.