RENTENREFORM Dynamik oder Dynamit?
Bundesarbeitsminister Anton Storch saß
wieder nicht auf der Regierungsbank, als sich der Bundestag am Mittwoch letzter Woche gleich mit drei Gesetzentwürfen - der CDU, der SPD und der FDP - befassen mußte, die alle drei den Sozialrentnern der Bundesrepublik mit einem Überbrückungsgeld über die Zeit hinweghelfen sollen, die wohl noch vergehen wird, ehe die große Rentenreform in Kraft tritt. Dieses überbrückungsgeld-Gesetz ist fällig, weil die einschlägigen Vorschriften über Renten-Sonderzulagen nur bis zum 30. November gelten.
Das soziale Reformwerk des Ministers Storch befindet sich überdies in einem Zustand, der von den Parlamentariern in der letzten Woche »äußerst mißlich« und gar »chaotisch« genannt wurde. Tatsächlich bewahren nur die Angst vor einer neuerlichen Koalitionsblamage und das Machtwort des Kanzlers Konrad Adenauer den Arbeitsminister vorerst noch davor, seinen Renten-Entwurf wieder zurückziehen zu müssen. Dieser Storch-Entwurf für die »Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten« soll in Zukunft die Invaliden- und Angestelltenrenten den Schwankungen des Preis- beziehungsweise Lohnniveaus »dynamisch« anpassen*.
Schon im Juni, bei der ersten Lesung des Entwurfs im Bundestagsplenum, waren Zweifel laut geworden, ob Storchs versicherungsmathematische Grundlagen wohl solide genug seien.
Der sozialdemokratische Sozialpolitiker Professor Schellenberg sagte damals dem Minister Storch auf den Kopf zu: »Es kann nicht stimmen, daß Sie Tausende von Modellfällen durchgerechnet haben. Dazu sind die Grundlagen des Gesetzes viel zu schlecht und unausgegoren. Wer Tausende von Fällen durchgerechnet hätte, der wäre auf Probleme gestoßen, von denen Sie vielleicht noch nichts wissen.«
Die Einwände gegen den Entwurf kamen zu dieser Zeit ausschließlich von der Opposition, der es vor allem darum ging, ihren eigenen, noch großzügigeren Renten-Entwurf durchzupauken. Mittlerweile aber sind die Kritiker der dynamischen Rente auf breiter Front mobil geworden. Ihr Wortführer ist nicht mehr ein Vertreter der Opposition - auch nicht ein Vertreter der Lebensversicherungsgesellschaften, die um ihre eigenen Versicherungsgeschäfte bangen -, sondern Anton Storchs zahlengewandter Kabinettskollege Fritz Schäffer.
Der Bundesfinanzminister bezweifelte von Anfang an, daß die für den kommenden Wahlkampf als Attraktion geplante »inflationsgesicherte Rente« so billig zu haben sein wird, wie Storch es den Bundeskanzler glauben machen wollte. Der Argwohn Schäffers wurde noch gestärkt, als einige Versicherungsanstalten das Rentenschema des Arbeitsministers gründlich durchrechneten.
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin zum Beispiel rechnete an Hand der neuen Rentenanpassungs -Formel und ihrer eigenen Rentenbestände einige praktische Beispiele durch. Dabei stellte sich heraus, daß Anton Storchs dynamische Rente nicht nur Dynamik, sondern auch eine gute Portion Dynamit enthält. Für einen großen Teil der bislang schon niedrigen Renten würden sich nämlich durch die Reform nicht höhere, sondern noch niedrigere Rentensätze ergeben. Die Landesversicherungsanstalt Hannover kam zu ähnlichen Ergebnissen. Sie rechnete aus, daß beispielsweise eine kleine Rente von bisher 62,30 Mark nach der Reform auf genau 36,80 Mark zusammenschrumpfen würde. Für bisher schon hohe Rentensätze dagegen ergaben sich phantastische Steigerungen, die sich insgesamt zu Milliardenbeträgen aufsummen müßten.
Um Klarheit zu gewinnen, machte sich Finanzminister Schäffer von den Überredungsversuchen des Ministers Storch frei und ging seine eigenen Wege. Er beauftragte den unabhängigen Versicherungsmathematiker Dr. Georg Heubeck, die Zahlen zu überprüfen, die dem Storch-Entwurf zugrunde liegen, und ihm über die Berechnungsgrundlagen und die finanziellen Auswirkungen der Reform ein Gutachten anzufertigen.
Der Mathematiker Heubeck tat das, was jede private Versicherungsgesellschaft tun muß, ehe ihr das Bundesaufsichtsamt einen neuen Lebensversicherungstarif genehmigt: Er rechnete Zehntausende von Beispielen durch.
Sein Gutachten bestätigte Schäffers schlimmste Befürchtungen. Nach Heubecks versicherungsmathematischen Exempeln würde die Renten-Reform schon in den ersten Jahren einige Milliarden Mark mehr kosten, als die Regierungsvorlage vorsieht. Darüber hinaus würde ihr sozialpolitischer Effekt in vielen Fällen gleich Null sein. Heubeck errechnete, daß 1,4 Millionen Rentner überhaupt keinen Nutzen von der Reform haben und nur durch die sogenannte Besitzstandsklausel des Reform-Entwurfs vor einer Verschlechterung bewahrt bleiben würden.
Heubeck bestätigte, daß der versicherungsmathematische Teil des Rentengesetzes offenbar unrichtig ist und von viel zu optimistischen Schätzungen ausgeht. Als Ursache der Fehlkalkulationen ermittelte Heubeck, die Berechnungen des Arbeitsministeriums seien zu sehr von den gegenwärtigen Verhältnissen ausgegangen; sie seien statisch angelegt, ohne die wahrscheinliche Entwicklung zu berücksichtigen.
Dieses Argument gilt vornehmlich für die Schätzungen der Lebenserwartung. Storchs Arbeitsministerium hatte sich anscheinend nicht einmal die Mühe gemacht, die Erfahrungen der letzten Jahre auszuwerten. Es hatte angenommen, die Zahl der Rentner werde bis zum Jahre 1976 um 25 Prozent zunehmen. Daß diese Schätzung fehlerhaft war, bewies bereits eine Nachprüfung der tatsächlichen Zunahme in den Jahren 1953 bis 1955.
Nach Anton Storchs Rechnung hätte die Zahl der Rentner um rund 250 000 ansteigen müssen. In Wirklichkeit aber verzeichneten die Invaliden- und die Angestelltenversicherung in dieser Frist 600 000 Zugänge. Die Lebensdauer der Rentner war länger, als vorausberechnet worden war. Außerdem wurden die Rentenleistungen in der Mehrzahl der Fälle früher fällig als in den Jahren vorher.
Längere Lebensdauer und frühzeitige Fälligkeit der Renten sind nun aber gleichbedeutend mit einer längeren Rentenleistungs-Dauer. Der Versicherungsmathematiker Dr. Heubeck kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis: »Es ist deshalb nicht vertretbar, Vorausberechnungen für die künftigen Jahrzehnte mit den Sterbenswahrscheinlichkeiten der Vergangenheit durchzuführen, wie das im Teil C des Regierungsentwurfs geschehen ist.«
Wegen dieser und anderer Fehlerquellen sind Storchs Ansätze für den Gesamtbetrag, der pro Jahr benötigt wird, zu niedrig. Die Unterschiede zwischen dem Storch-Entwurf und den Zahlen des Heubeck-Gutachtens für das Bundesfinanzministerium gehen in die Milliarden. Nach der Neuordnung der Renten wird der Gesamtaufwand betragen:
- 1957: laut Gutachten 12,90 Milliarden
Mark, laut Regierungsvorlage nur 12,56 Milliarden Mark.
- 1960: laut Gutachten 14,90 Milliarden Mark, laut Regierungsvorlage nur 13,47 Milliarden Mark.
- 1966: laut Gutachten 19,33 Milliarden
Mark, laut Regierungsvorlage nur 16,40 Milliarden Mark.
- 1976: laut Gutachten 28,62 Milliarden
Mark, laut Regierungsvorlage nur 21,96 Milliarden Mark.
Mathematiker Heubeck errechnete also Belastungen, die schon im Jahre 1960 um 11 Prozent, im Jahre 1976 um 30 Prozent und im Jahre 1986 um nicht weniger als 42 Prozent über den Summen liegen, die Bundesarbeitsminister Storch als jährliche Gesamtkosten veranschlagt hat. Zwangsläufig fielen damit auch Storchs optimistische Ansätze für die relativ niedrigen Beitragssätze in sich zusammen, die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern für die neue Rentenversicherung zu zahlen sind.
Der Storch-Entwurf sieht als Beitragssatz 14 Prozent des Arbeitseinkommens vor. Nach Heubeck aber müßten die Sozialpartner künftig bis zu 30 Prozent des Arbeitseinkommens zahlen - mehr als das Doppelte dessen, was Anton Storchs Ministerium als Beitragssatz prophezeite.
Heubecks Berechnungen bestätigten auch die groteske soziale Verzerrung der Renten, die durch die Reform verursacht werden würde. Niedrige Altersrenten von bisher 73 Mark monatlich würden durch das soziale Mammut-Unternehmen Anton Storchs nur auf 75 Mark erhöht, hohe und höchste Renten dagegen unverhältnismäßig begünstigt werden. Nach den neuesten Prüfungsergebnissen würde beispielsweise eine Witwenrente von 203 Mark monatlich auf künftig 638 Mark, eine Altersrente von bisher 297 Mark monatlich auf 747 Mark ansteigen.
Gutachten unterdrückt
Schäffer wollte ganz sicher gehen. Sein Ministerialrat Dr. Elsholz lud die Versicherungsmathematiker Sachs, Fischer, Giese und Rocktäschl ins Finanzministerium und bat sie um ihr Urteil über das Heubeck-Gutachten. Die vier Mathematiker bestätigten, daß sich Heubecks Zahlen - bis auf einige noch ungeprüfte Details - mit ihren eigenen Resultaten decken.
Daraufhin legte Bundesfinanzminister Schäffer dem Kabinett ein Memorandum vor, in dem er seine Bedenken gegen den Entwurf seines Kollegen Storch mit dem Zahlenmaterial des Dr. Heubeck untermauerte.
Schäffer schlug vor, das Kabinett solle auf Grund des Heubeck-Gutachtens beschließen, »die Beratungen über die Drucksache 2437, die Rentenreform, einzustellen«. Statt dessen solle man am 1. Januar ein Gesetz über einmalige Rentenzulagen in Kraft treten lassen. Um endgültig Klarheit über die Finanzierungsgrundlagen herbeizuführen, sollten schließlich »die beteiligten Minister eine Einigung über diese Grundsatzfragen anstreben«.
Das politische Wunschbild einer großen Rentenreform Ist jedoch auch durch Schäffers mathematisch gesicherten Angriff nicht so schnell zu zerstören. Damit die Regierung nicht vor aller Welt eingestehen muß, daß Anton Storchs Reformwerk brüchig ist, darf das Heubeck-Gutachten nicht veröffentlicht werden. Auch Schäffers Antrag im Kabinett, die Rentenvorlage des Arbeitsministers als unzureichend zurückzuziehen, wurde vom Kanzler abgelehnt.
Trotzdem will der Bundesfinanzminister den Versuch nicht aufgeben, das Riesenprojekt eines westdeutschen Rentnerstaates, das zu allem Überfluß mit einem leistungstötenden und die deutsche Währung gefährdenden Index-Mechanismus gekoppelt sein soll, den ehernen Gesetzen von Soll und Haben näherzubringen. Am 15. Oktober reichte Fritz Schäffer im Kabinett eine zweite Vorlage ein. Sie bricht radikal mit der bisher propagierten Indexrechnung und will bei dem jetzt üblichen System der Berechnung von Beiträgen und Renten bleiben.
Neun Wochen vor dem 1. Januar 1957, dem Tage, an dem die Rentenreform Wirklichkeit werden soll, haben die Argumente einander eingeholt. Die Debatte beginnt praktisch wieder von vorn.
Regierungsparteien und Opposition forderten deshalb am vergangenen Mittwoch die Regierung auf, das im Auftrage des Finanzministeriums verfertigte Gutachten des Versicherungsmathematikers Heubeck über den Storch-Entwurf nicht mehr geheimzuhalten, sondern es dem federführenden Sozialpolitischen Ausschuß des Bundestages zugänglich zu machen.
Nach dem Regierungsentwurf sollen grundsätzlich alle Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf die Höhe Ihres Einkommens, versicherungspflichtig sein. Die Rente soll nach dem Regierungsentwurf in Abständen dem Lohnniveau nach einem Index angeglichen werden.
Rentenreform-Planer Storch: Stimmen die Zahlen nicht? Rentenreform-Gegner Schäffer
Kontroll-Auftrag an Mathematiker