ITALIEN / REGIONEN Dynamit im Stiefel
Der Provinzkrieg kostete bisher drei Menschen das Leben, Hunderte wurden verletzt. »Hauptstadt oder Tod« hieß die Parole beim Sturm auf das Polizeipräsidium von Reggio di Calabria.
Denn nicht Kalabriens größte Stadt (160 000 Einwohner) Reggio sollte Regierungssitz der neugeschaffenen Region Kalabrien werden, sondern das nur halb so große Catanzaro. Der Hauptstadt-Rang jedoch verhieß Prestige-Gewinn und wirtschaftlichen Aufschwung. Im rückständigen Süden Italiens geriet der Kampf um die Regional-Hauptstadt daher zum Bürgerkrieg.
In Reggio, an der Straße von Messina, wurden seit Mitte Juli Generalstreiks ausgerufen, Barrikaden errichtet, Eisenbahnanlagen zerstört, Autos angezündet -- vor allem Autos mit dem Nummernschild des feindlichen Catanzaro.
Das Arbeiterviertel Sbarre erklärte sich zur »autonomen Republik« und erhob einen Naturalzoll von zwei Litern Sprit pro Kraftwagen -- die Rebellen brauchten das Benzin zum Basteln von Brandbomben. Schlachtruf: »Die Stunde der Pflastersteine ist vorüber, die Stunde der Waffen ist da.«
Italiens Ministerpräsident Emilio Colombo warf 5000 Soldaten und Carabinieri in die Frontstadt. Am 16. Oktober rief er die Bürger-Krieger auf, der »absurden Gewalt« abzuschwören und »zur Vernunft zurückzukehren«.
Doch gleichzeitig gab Colombo in der Sache nach: Die Frage, ob Reggio oder Catanzaro zur Regionshauptstadt aufsteigt, soll neu entschieden werden -- vom italienischen Parlament.
Colombo kennt auch die tiefere Ursache des kalabrischen Zorns -- die wirtschaftliche Rückständigkeit der Region. Er verkündete ein Entwicklungsprogramm, das für Kalabrien über 15 000 neue Arbeitsplätze vorsieht. Der Staatskonzern IRI (Istituto Ricostruzlone Industriale) soll in Kalabrien Italiens fünftes Mammut-Stahlwerk bauen.
Dies Versprechen besänftigte zunächst die Gemüter der Rebellen. Dafür verprellten Roms Reglerende aber nun andere Südstaatler:
* In der Konkurrenz-Stadt Catanzaro demonstrierten Bürger. und Studenten gegen Reggio und gegen Rom; vergangene Woche wurden nahe Catanzaro Bombenanschläge auf eine Bahnlinie und ein Büro der Colombo-Partei, der Democrazia Cristiana, verübt.
* In Palermo trat die sizilianische Regionalregierung zurück -- aus Protest gegen die Vergabe des IRI-Stahlwerks nach Kalabrien; die Sizilianer behaupten, der Hüttenkomplex (Bauvolumen: 860 Millionen Mark) sei Ihnen bereits versprochen worden.
Sizilien ist noch ärmer dran als das arme Kalabrien: Der Anteil der Industrie-Beschäftigten an der Bevölkerung (in ganz Italien: 12,3 Prozent) beträgt in Süditalien zehn Prozent, in der sizilianischen Inselregion aber nur 8,8 Prozent. Auf Sizilien fehlen über 300 000 Arbeitsplätze. Jahr für Jahr verlassen Zehntausende die Insel, um sich auf dem italienischen Festland oder als Gastarbeiter bei bundesdeutschen und schweizerischen Brotherren zu verdingen.
Palermos Wirtschaftsplaner werben mit nur mäßigem Erfolg um private und öffentliche Industrie-Investitionen. Die Westsizilianer, voran die Geschädigten des schweren Erdbebens von 1968, üben wachsenden Druck aus, um Struktur-Reformen zu erzwingen. Eine ihrer Parolen: »Basta emigrazione« (Schluß mit der Auswanderung). Sie wünschen Arbeitsplätze, und zwar in der Heimat.
Eben dies verlangen auch die Kalabresen. Durch forcierte Industrialisierung und krisenfeste Jobs soll das Wohlstands-Defizit des Südens gegenüber dem italienischen Norden abgebaut werden.
Der südlichste Teil der neuen Region Kalabrien, die Provinz Reggio, ist die viertärmste unter den 93 italienischen Provinzen. Das Jahreseinkommen pro Kopf beträgt nur 365 000 Lire (2100 Mark). In den letzten 20 Jahren zog ein Viertel der Bewohner nach Norden oder wanderte aus.
Bisher rangelte Reggio meist erfolglos mit seinen Nachbarprovinzen und -städten um Investitions-Projekte: Ein Großflughafen (Kostenvoranschlag: 30 Milliarden Lire) wird in der Provinz von Catanzaro gebaut -- der bestehende Flugplatz von Reggio hingegen erhält noch nicht einmal die nötigste moderne Ausrüstung. Die geplante kalabresische Universität kommt nach Cosenza, nicht nach Reggio, der Stadt an der Spitze des italienischen Stiefeis.
Den Reggianern fehlt, was im Gestrüpp der politischen Speziwirtschaft Italiens am wichtigsten zu sein scheint: ein mächtiger Fürsprecher in Rom. »Wir haben keine Heiligen im Paradies«, klagt Bürgermeister Piero Battaglia.
Cosenza und Catanzaro jedoch haben Heilige in Rom: den sozialistischen Parteichef Giacomo Mancini und den christdemokratischen Erziehungsminister Riccardo Misasi, dem enge Kontakte zur Mafia vorgeworfen werden.
Reggio hat nur seine Rebellen. Neofaschisten und Linksradikale versuchen, die Krise in der »Dynamit-Region« (so die Zeitung »11 Messagero") zur Staatskrise voranzutreiben.
»Wir holen nur Atem«, drohte ein Student der Rechte, Mitglied eines Kampf-Kommandos in Reggio, »dies wird das Vietnam Europas.«