FRANKREICH Echte Gefahr
Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft«, verkündete die anarchistische Bewegung »Autonome«, »und das ist die der Plünderung und der Zerstörung.« Dann handelten sie danach.
In Paris verwickelten sie die Bereitschaftspolizei in Straßenkämpfe, prügelten sich aber auch mit Gewerkschaftern. Sie errichteten Barrikaden auf den Boulevards und steckten Luxus-Läden in Brand. Pur eine »echte Gefahr« hält »Le Monde« die Terrorgruppe. in der viele Franzosen eine Art französischer Baader-Meinhof-Bande sehen.
Ob beim Aufmarsch lothringischer Stahlarbeiter in der Hauptstadt am 23. März, bei Protest-Aktionen gegen die Auslieferung des ehemaligen BM-Anwalts Klaus Croissant oder den Bau eines Atomkraftwerks bei Malville -immer sind die Autonomen dabei, stören, prügeln und zerschlagen.
»Le casseurs« -- die Zerstörer -- werden sie genannt. Mit Eisenstangen bewaffnet, die Köpfe durch Motorradhelme geschützt oder die Gesichter durch Tücher verhüllt, suchen sie die Konfrontation, wo immer die sich bietet. »Wir haben die Schnauze voll von freundlichen Demonstrationen, bei denen sich nichts ereignet«, erklären sie.
Statt dessen propagieren sie den »Krieg gegen das Kapital«, ein »Ende der Lohnknechtschaft«, den Nulltarif, überhaupt die Zerstörung der Strukturen und der Apparate -- kurz eine »gesellschaftliche Revolution, die die alte Welt wegfegt« -- so ein Flugblatt.
Es blieb nicht nur bei Flugblattaktionen: Auf das Konto der Autonomen gehen eingeschlagene Schaufensterscheiben, die Zerstörung von 1500 Parkuhren und die Mißhandlung eines Staatsanwaltes, den sie fesselten und dessen Wohnung sie total verwüsteten.
Wie viele Autonome es gibt, ist ungewiß. Nach Schätzungen der Polizei »könnten es mehrere hundert, aber auch mehrere tausend sein«. Die Renseignements généraux, Frankreichs Polit-Fahnder, vermuten Kontakte zur Rote Armee Fraktion«. Deshalb wurde, berichtete »Paris-Match«, eine .eindrucksvolle Anzahl von Telephon-Abhörgenehmigungen erteilt«.
Bomben könnten die Extremisten möglicherweise auch schon. Bei einer Fahndung entdeckten die Beamten bei einem Autonomen zwei Kilo Sprengstoff und einen Kanister mit Schwefelsäure. In den Schließfächern am Pariser Ostbahnhof lagerten die Radikalen im März Molotow-Cocktails. Im Oktober letzten Jahres besetzten sie die Redaktion der linken »Libération« und forderten eine Sondernummer mit Propaganda für die RAF.
Gymnasiasten und Arbeitslose, Studenten und Fremdarbeiter sind unter den Autonomen. Abtrünnige maoistischer oder anarchistischer Gruppen wie des » Parti communiste marxisteléniniste de France« oder der »Union anarcho-syndicaliste« vereinen sich in der Bewegung, die weder Chefs noch hierarchische Strukturen hat, sondern ihre Aktionen in der sogenannten Generalversammlung festlegt. Die findet in Paris meist in den Universitäten Jussieu oder Tolbiac statt.
Der politische Standort der Autonomen liegt irgendwo zwischen Marxismus und Anarchismus. Polit-Denker wie Marcuse und Mandel lehnen sie ab. Ihre utopischen Philosophen und ihre Zerstörungswut werden sowohl von Trotzkisten wie auch den klassischen Kommunisten angeprangert. Das KP-Parteiblatt »l'Humanité« fühlt sich eher an faschistische Schlägertrupps der Vergangenheit erinnert: »In Italien waren die Hemden schwarz, in Deutschland braun.«
Die Gewerkschaften sehen in den »casseurs« schlicht Provokateure, die den konservativen Machthabern Argumente liefern, Arbeiter-Umzüge zum ersten Mai zu verbieten. Bei der März-Demonstration der Stahlwerker überwältigten Gewerkschafter tatsächlich einen vermeintlichen Autonomen, der sich beim Angriff auf die Bereitschaftspolizei hervorgetan haben soll -- es war ein Polizeibeamter im Autonomen-Dress.
Bisher jedoch gelang es den Fahndern kaum, die etwa 25 Mitglieder zählenden Autonomen Zellen zu infiltrieren.
Gelegentlich dringen die Beamten in Autonomen-Versammlungen ein und notieren die Personalien. Steht dann in Paris eine Kundgebung an, werden die vom Erkennungsdienst erfaßten Kämpfer -- wie auch am 23. März bei der Stahlarbeiter-Demonstration -- am Morgen vorübergehend festgenommen. Für sie kämpften dann der Polizei unbekannte Genossen.
Selbst Freiheitsstrafen schreckten die Radikalen nicht. Erst Anfang voriger Woche verurteilte ein Gericht mehrere »casseurs« zu Gefängnisstrafen zwischen zehn und 36 Monaten. Auf einen anderen Angeklagten wartet das Schwurgericht, weil er zwei Polizeibeamte schwer verletzt haben soll. Höchststrafe: zehn Jahre Zuchthaus.