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Ehe der Zukunft: Das freischwebende Paar

Ehe und Familie werden durch die »zweite sexuelle Revolution« bedroht; die Frauen, in alter Zeit nach Arbeitskraft für die Ehe ausgesucht, später Symbolfigur gemütvoller Häuslichkeit, arbeiten heute an der »Zerstörung des Nestes« -- Thesen des Historikers Edward Shorter. Seine Prognose: »Die Kernfamille zerfällt.«
aus DER SPIEGEL 10/1978

Eltern, die sich gelegentlich beim Frühstück sehen; Väter, die es mit fremden Müttern haben; Kinder, die überall zu Hause sind, nur nicht zu Hause: amtlich noch immer Familie geheißen, aber in Wahrheit, je nach dem, eine Gemeinschaft in Einsamkeit oder lockere Gesellschaft mit beschränkter Haftung.

Vertraute Runde um den Sonntagsbraten, unterm Tannenbaum die alten Lieder und für den kranken Opa nebenan eine Wärmflasche: Familie früher, ein gewachsenes Ganzes, in dem Freude zusammen erlebt, Leid miteinander gelitten und gelindert wurde.

Ob es wirklich so ist, so war, wie die Klischees es aussehen lassen, statt des verlorenen Glücks vergangener Tage die kaputte Familie gleichsam als Wesensmerkmal der neuen Gesellschaft, das untersuchte in umfänglicher Arbeit der kanadische Professor Edward Shorter. Seine Studie über die Herkunft und Entwicklung der abendländischen Kleinfamilie korrigierte manches überlieferte Bild.

Aus Tausenden von Dokumenten, etwa über »Die Noth im Spessart«, »Amour illégitime« im Nantes des 18. Jahrhunderts oder das Bettfreien in Schweden, fügte der Forscher ein Puzzle vom Familienleben der einfachen Leute. Sie hinterließen zwar, anders als die geschwätzige Minderheit der Aristokraten, keine breite Schriftspur. Aber Landärzte und Dorfschullehrer, Beamte und Kleriker zeichneten auf, was das Volk tat und dachte -- ein historischer Schatz in Provinzarchiven, den zu heben die Sozialgeschichtler erst in den siebziger Jahren begannen.

Und wenn er historisch keine Gewißheit gewinnen konnte, füllte Shorter die Lücken mit kühnen Spekulationen auf. Aus kanadischer Fernsicht erlaubte sich der Professor, an den gewohnten Grenzen europäischer Geistes- und Staatenwelt vorbei auf die »westliche Gesellschaft als ganze« zu zielen.

Kernstück seiner Geschichte der Familie ist eine Chronik der Gefühle*: die Familie vor allem als »Bewußtseinszustand«, der von der Mehrheit geteilt wurde, während sich eine »Minderheit auf Zehenspitzen durch das ganze Spektrum« zwischen Tradition und Erneuerung bewegte.

In der traditionellen Gesellschaft bestimmte eine nach gegenwärtigen Vorstellungen kaum nachvollziehbare Lieblosigkeit die Beziehungen zur Brut wie im Bett. Als »Schlüssel« für das Innenleben der Familie betrachtet Shorter die Brautwerbung. Bis Ende des 18. Jahrhunderts fanden sich die Paare, ohne daß Emotionen die Erwägungen wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit störten, unter dem Druck einer festgefügten dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft, die mit ihren Erwartungen und ihrer Tyrannei der Blicke das Schicksal einzelner zu einer Angelegenheit aller machte.

Überwacht von den alten Frauen in den Spinnstuben, auf den Festen kontrolliert von dem Kollektiv der Gleichaltrigen (soziologisch heute peer group

* Edward Shorter: »Die Geburt der modernen Familie«. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg; 367 Seiten; 29,80 Mark.

genannt), ging das Anbändeln nach allen Regeln des Anstands. Un.d selbst bei dem in Schweden, an den deutschen Küsten und in den Alpentälern üblichen »Bettfreien« -- bei dem sich ein Paar nebeneinander legen und bereden durfte -- ward zugesehen, daß keine genitale Berührung stattfand, der Junge also starr und steif die Nacht über neben dem Mädchen im Bette lag.

Ausgesucht wurden Bräute wie die Ochsen auf dem Viehmarkt, nach Größe und Stärke. Eine schöne Figur und feine Gesichtszüge zählten nicht, wohl aber waren Krampfadern von Belang, denn die minderten die Arbeitsfähigkeit. Späte Mädchen waren, weil sie wahrscheinlich ihre häuslichen Fertigkeiten verbessert und überdies Spargroschen angesammelt hatten, derart begehrt, daß ein Viertel der Bräute im Ancien regime Frankreichs fünf und mehr Jahre älter als der Bräutigam war.

Ob überhaupt eine Verbindung zustande kam, entschieden letztlich die Eltern unter Berücksichtigung der Besitzverhältnisse. Liebe und Leidenschaft spielten keine Rolle, es wäre den Paaren kaum eingefallen zu fragen, ob sie glücklich sind.

Erst das Zeitalter der Romantik beschwor eine neue Vorstellung vom menschlichen Glück. Die »Stimme des Herzens«, die so schön schaurige Phrase, übertönte das Stimmengewirr der hereinredenden Sozietät. Die nahezu gleichaltrige, nur wenig jüngere Braut wurde zum Ideal, das noch heute gilt -die Altersunterschiede sanken im 19. Jahrhundert drastisch.

Von den vielen Mitgliedern der alten Gesellschaft, die Ehen nicht nur genehmigen mußte, sondern auch verhindern konnte, blieben die Eltern die letzten, die die Jungen bis weit ins 20. Jahrhundert beeinflußten. War es vor kurzem noch typischer Eltern-Ehrgeiz, daß Handwerker-Kinder Handwerker heirateten, Kleinbauerssöhne Land freiten und Weinhändlers Töchter im gleichen Gewerbe weggingen, so dürfte es, meint Shorter, »wahrscheinlich zu den geringeren Sorgen eines IBM-Angestellten gehören«, daß seine Abkömmlinge die Abkömmlinge von anderen Computer-Fachleuten ehelichen.

Die gefühligen Wogen der Romantik berührten auch zum erstenmal die starren Geschlechterrollen. Im emotionslosen Klima der »schlimmen alten Zeit« (Shorter) galt die Frau nicht nur als Besitz, sondern im Vergleich zu den Tieren sogar als Eigentum minderen Wertes -- wie allerlei Bauernregeln belegen: »Reich ist der Mann, dessen Frau tot und dessen Pferd am Lehen ist«; oder: »Zwei schöne Tage hat der Mann auf Erden: Wenn er seine Frau nimmt und wenn er sie begräbt.« Denn eine neue Frau brachte neuen Besitz.

Zahlreiche Bräuche ritualisierten die Unterordnung der Frau, die der Mann hie hinter sich gehen, da hinter seinem Stuhl bei den Mahlzeiten stehen ließ und oftmals Fremden gegenüber nur nach einer einleitenden Entschuldigungsfloskel erwähnte. Vor 1800 herrschten derlei demütigende Sitten praktisch überall.

Wenngleich Frauen, im Gegensatz zu den in der Außenwelt ackernden Männern, sozial in der »schwarzen Nacht häuslicher Passivität« (Shorter) dahindämmerten, hatten sie in ihrem genau festgelegten Arbeitsbereich so etwas wie Allmacht. Da durften Männer nicht reinreden oder gar mittun; leisteten sie Frauenarbeit, galt das als »Unordnung« im Haus, die von der Gemeinschaft hei sogenannten »Haberfeldtreiben« durch Katzenmusik mit scheppernden Kesseln, Pfeifen und Schellen geahndet wurde. Und je höher die Frau vom Mann geschätzt wurde, desto geringer wurde ihr Einfluß im häuslichen Bereich.

Die einstmals unangefochtene Beschließerin der Vorratskammer, die Herrin des Kornspeichers, hatte sich nun zu besprechen mit dem Mann. Auf den Höfen wie im Handwerk, wo einst der Segen über dem Sich-Regen in der gemeinschaftlichen, wenn auch penibel zwischen den Geschlechtern aufgeteilten Güter-Erzeugung hing, kam es zu einer andern Arbeitsteilung, kümmerte sich nun der Mann mehr um die Produktion und die Frau mehr um die Reproduktion: Das Zeitalter der Kinder zog auf.

Mit dem Gefühl der Gatten füreinander verschwand die Gleichgültigkeit der Mütter, wie sie sich in der alten Gesellschaft nicht nur im Brauchtum offenbart hatte: Ärzte beklagten, daß die Säuglinge oft stundenlang schreiend in ihren Exkrementen liegen gelassen wurden, daß sie durch Wickelbänder zu bewegungsunfähigen Bündeln verschnürt oder durch brachiales Wiegen zur Ohnmacht gewackelt wurden, daß viele Kleinkinder, weil unbeaufsichtigt« ins Feuer fielen oder von den Schweinen gefressen wurden.

Diese Nachlässigkeit war vor allem die Folge des täglichen Existenzkampfes, der ohne erhebliche Mitarbeit der Mütter nicht zu bestehen war. Und wenn Kinder starben, dann »freuen sich die Leute und sagen. sie sind gut aufgehoben«, so ein Bericht aus dem bayrischen Haida von 1801. Es starb damals eins von drei Kindern im ersten Lebensjahr, nur eines von zweien wurde 21, und bei soviel Flüchtigkeit ins Jenseits schienen Empfindungen nicht angebracht.

Daß heute der Tod eines kleinen Kindes als besonders schmerzliches Familienunglück betrachtet wird, verdeutlicht die Bewußtseinsveränderung, die sich in relativ kurzer Zeitspanne vollzog. Das Wohlergehen der Kinder wurde freilich zuerst nur der Mittelschicht wichtig, das breite Volk entdeckte Emotionen für seine Abkömmlinge mit zeitlicher Verzögerung, aber spätestens bis zu Beginn dieses Jahrhunderts.

Historiker Shorter erklärt sich den Umschwung damit, daß die romantischen Gefühle der liebenden Eltern kaum die ersten Ehejahre überlebten und deshalb auf etwas drittes, das Kind, übertragen wurden: Die Kernfamilie nahm ihre Gestalt über das innige Mutter-Kind-Verhältnis an, in das nur der Vater einbezogen wurde.

Deshalb, meint der Forscher, kappte nun das typische Paar seine Verbindungen zur Stammesfamilie, die früher ein Dutzend und mehr Menschen unter einem Dach oder gar in einem einzigen, selten gesäuberten, spinnwebigen Raum zu einem lärmigen Leben vereint und unter aller Augen gegessen, gefeiert, gezeugt und geschlafen hatte. Erst mit dieser Isolation kam .es dahin: sich ein »Nest« zu bauen, sich von der Sippschaft wie von der ganzen Gemeinschaft abzusondern.

Immer höhere Mauern bekam fortan die Häuslichkeit. Hinter ihnen fand der Mann, zunehmend in Konkurrenzkampf verwickelt, abendliche Zuflucht, hinter ihnen kultivierte die Frau den Sinn für Sauberkeit und Gemütlichkeit, hinter ihnen wurden die elterlichen Wertvorstellungen den Kindern vermittelt -- und hinter ihnen entwickelten sich auch die pathologischen Formen des Zusammenlebens.

Zwar hat die moderne Familie, deren Gestalt erst um die Jahrhundertwende vollendet war, Unantastbarkeit ihrer Privatsphäre gewonnen, als Kehrseite der Intimität aber betrachtet Shorter die »gesellschaftliche Isolation« der Kleinfamilie, die kaum auf Nachbarschaft hält und Besuch vorwiegend von Verwandten empfängt.

Das einsame Leben in den modernen Appartementhäusern, wo es sich nach einem abgelebten Familienleben im Alter hilflos sterben läßt für ein Begräbnis in aller Stille, hebt sich kraß ab gegen das enge Geflecht der Wechselbeziehungen in den Gemeinschaften der alten Gesellschaft, die an allem und jedem Anteil nahm, die den alltäglichen Kleinigkeiten große Bedeutung beimaß, die Absonderung nicht duldete und Einsamkeit nicht kannte und die sich, bei aller Lebensbeschwernis, auf einem Zyklus von Festen vergnügte.

Ihren Preis hatte allerdings, wie Shorter erkannt hat, auch diese Durchlässigkeit der früheren Sozialität: streng reglementierte Sexualität. Nichts rangierte in der traditionellen Welt höher als die Treue zur Gemeinschaft und die Unterordnung persönlicher Wünsche unter die festen, aber auch Schutz gewährenden Regeln des Kollektivs.

»Aus diesem Grunde«, so Shorter, »kämpfte die traditionelle Welt für die lebenslange Monogamie und für die Herrschaft der rationalen Kalkulation des objektiven Familieninteresses über die sexuelle Leidenschaft, die als irrationales Element gefürchtet wurde und von der jeder wußte, daß sie unmittelbar unter der Oberfläche lauerte.«

Deshalb wurde die Ehrbarkeit unter anderem mit Hilfe von Unzuchtstrafen hochgehalten. Ein als »Hurenbock« verschriener Tagelöhner etwa durfte sich in der bayrischen Stadt Amberg nicht niederlassen, in einigen bayrischen Landkreisen mußten Frauen, die unverheiratet schwanger geworden waren, eine hölzerne Vorrichtung in Form einer Fidel herumtragen, und es war möglich, daß die Gemeinden ein unkeusches Mädchen ins Elend stürzten, indem sie Veto einlegten gegen eine Verheiratung mit dem Verführer. Bei Untreue einer Ehefrau wurde nicht sie, sondern der gehörnte Gatte bestraft und etwa rückwärts auf einem Esel sitzend durch die Stadt getrieben -- weil seine mangelnde Aufsicht das Gefüge der sozialen Ordnung bedroht hatte.

Wenngleich die Leute in alten Zeiten offenbar nur über ihre Geldverstecke noch weniger sprachen als darüber, was sie im Bett taten, schließt der Historiker aus- einigen Indizien, daß Geschlechtsverkehr simpel und selten getrieben wurde. Ein französischer Arzt etwa schrieb 1777 über die Bauern, sie seien zu abgearbeitet für körperliche Freuden: »Dringend benötigte Ruhe verdrängt die Lust.« Aristokratinnen, die Angst hatten, daß die Milch der Ammen durch sexuelle Vor- und Nachspiele säuern könnte, wurden durch die Doktores beruhigt -- so etwas sei dem Volk gar nicht geläufig.

Die Daten der Geburten schließlich deuten darauf hin, daß Sexualität kein regelmäßiges Vergnügen, sondern etwas für Frühjahr und Frühsommer war. Und da voreheliche Keuschheit strenges Gebot war, die Menschen spät heirateten und früh starben, ist laut Shorter anzunehmen, daß die meisten mehr als ihr halbes Leben ohne Sex verbrachten.

Erst Ende des 18. Jahrhunderts ereignete sich, wie der Historiker anmerkt, die- »erste sexuelle Revolution«. Die Keuschheit wurde zaghaft durchlöchert, die Zahl der unehelichen sowie vor der Hochzeit gezeugten Kinder ging in jeder europäischen Region stetig in die Höhe.

Nach dem laut Shorter »ohrenbetäubenden Schweigen« über die Masturbation vor 1750 geißelten nun Traktate den »Teufel Onania«, der offenbar immer mehr Seelen fand.

Zeitgenossen des gehobenen Bürgerstands beklagten Liederlichkeit, Verderbtheit und Laster der Unterschicht, die in dieser hautnahen Revolte die Vorhut machte. Hatte das »Spitzenvorhangbürgertum« (Shorter) dem Proletariat im Laufe des 19. Jahrhunderts beigebracht, wie mit Kindern umzugehen war, so brachten die »Sternguckhäusler« mit ihren Löchern im Dach den gehobeneren Schichten nun bei, was man so tat, ohne gleich an Kinder zu denken.

Voreheliche Sexualität, vor 1800 bei den Paaren höchst selten, bürgerte sich ein, wenngleich zumeist erst ein Heiratsversprechen die Tür zur Mädchenkammer öffnete. Das Vorspiel erhielt eine Rolle beim Beischlaf, und schließlich wurde Sex als wesentlich für den Zusammenhalt des Paares erachtet.

Bis zum Ersten Weltkrieg war -- ebenso wie der Wandel in der Pflege der Kinder und der Häuslichkeit -- auch die erotische Entwicklung nach Shorters Betrachtung abgeschlossen. Im Sex »waren unsere Großväter«, meint der Wissenschaftler, »tatsächlich unseren Vätern ähnlich«. Zum Beispiel wurde vor dem Weltkrieg in deutschen Industriestädten jede dritte Braut geschwängert, bevor sie zum Altar trat, und so blieb es, bis die Pille kam.

Mit der »Revolution der Verhütung« veränderten sich die Einstellung und das Verhalten der Paare dann noch einmal derart, daß Shorter das als »zweite sexuelle Revolution« empfindet. Als revolutionäre Akte notierte Shorter etwa, daß sich Frauen von der sogenannten Missionarstellung ab -- und auch anderen Positionen zuwandten, daß sie mit oralen Praktiken experimentierten und es vor der Ehe nicht immer bei einem Partner beließen, daß schließlich die Alten wie die Jungen öfter und länger miteinander schliefen.

Was sich ausnimmt wie eine allgemeine Anstrengung, »den Gefühlsballast aus der romantischen Erfahrung abzustreifen, um an den wahren sexuellen Kern heranzukommen«, ist nach Shorters Deutung lediglich eine ekstatische Steigerung des Gefühls: »Die »echte Liebe« war der ständige Sattelgefährte des Geschlechtsverkehrs« seit der Romantik und kam nun eben »seriell« vor, in einer »Anzahl von grandes amours« bei den Unverheirateten.

In dem Maße, wie die »Erotik für das Kostbarste, was menschliche Beziehungen. zu bieten haben«, gehalten werde, verzichten in Shorters Sicht die Bewohner der westlichen Welt auf ihr letztes Erbstück aus der traditionellen Gesellschaft: auf die Jahrhunderte alte Zweckmoral der wirtschaftlichen Verbindung, die einst durch lebenslange Monogamie abgesichert war und sich so zäh hielt, daß sie später selbst den Ehebruch intregieren konnte.

Mit der zweiten sexuellen Revolution aber stiegen sie Scheidungsziffern in jedem westlichen Land drastisch, und das weist nach Shorter auf eine Entwicklung zur »postmodernen Familie": »Die Kernfamilie gründet sich auf die Liebe der Mutter zu ihren Kindern. Aber diese Grundlage wird jetzt in der nachmodernen Familie durch die Erotik ersetzt, und die Wahrscheinlichkeit, daß die Familie nicht zusammenbleibt, droht nun besonders groß zu werden.«

Vorboten dieser neuen Zeit sind, wie der Historiker glaubt, die Kinder selber, die in immer stärkerem Maße durch die peer group sozialisiert werden. Vor allem die jugendliche Sub- und Pop-Kultur macht den Eltern die Söhne und Töchter abspenstig, und während früher die Erwachsenenwelt die Jugendkollektive sanktionierte, weil sie wesentliche Funktionen bei der Bildung der Paare und deren sexueller Überwachung hatten, bietet sich dde heutige Jugendkultur autonom und unabhängig von den Normen der älteren Generationen dar.

Daß der Bruch der Anschauungen, vom Sex bis zu den Jeans, zwischen Halbwüchsigen und Eltern erheblich größer ist als zwischen Eltern und Großeltern, wertet Shorter als entscheidenden Bruch des Familiensinns: »In der Blütezeit der modernen Kernfamilie lag die Hauptlast der Weitergabe von Werten und Haltungen an die heranwachsenden Kinder bei den Eltern, und die Spielregeln wurden in der abgeschirmten Intimität zahlloser Abende rund um den Herd erlernt.«

Der emotionale und genealogische Zusammenhalt von Eltern und Kindern, der der Kleinfamilie als Rest aus der traditionellen Generationenkette geblieben war und meist bis zum Ableben der Alten durch regelmäßige Besuche der Jungen gepflegt wurde, scheint sich in Gleichgültigkeit aufzulösen. Aber mehr noch als die halbwüchsigen Kinder tragen, so meint Shorter, zur »Zerstörung des Nestes« die Frauen bei, die »Befriedigung« im Beruf wie bei einem »kongenialen Geliebten« suchten und im Ehebruch mittlerweile mit den Männern gleichzogen.

Der emanzipatorische »Wunsch, frei zu sein«, sei jedoch nicht »einfach aus heiterem Himmel« aufgetaucht. Der Geschichtsprofessor sieht eine Verbindung zu jener romantischen Erregung, die aus »dem Schoß der lieblosen, aber treuen alten Gesellschaft die Libido ebenso erwachsen ließ wie die Familieninnigkeit -- eine erste Erfüllung des »Wunsches, frei zu sein von dem Druck der Tradition.

Solche Gefühle hält er für andere Erscheinungsformen eines Egoismus, den die alte Sozialität gefürchtet hatte »wie die Pest«, der aber der Logik der kapitalistischen Marktwirtschaft entsprochen habe und letztlich auch in ihr gründe -- weil ohne »die Internalisierung einer Vielfalt von ökonomischen Egoismen« das System nicht funktioniert hätte.

Unterdessen ist, wie Shorter meint, die »Suche nach der Innenwelt« in vollem Gange: Schauten die Romantiker noch einander »in die Augen in der Hoffnung, sich selbst zu finden«, so stehe den Leuten von heute der Sinn nach sogenannter »Selbstverwirklichung«, die als Fortsetzung jenes Treuebruchs mit der Gemeinschaft vor zweihundert Jahren zu verstehen sei: »Eine positive Entwicklung«, so Shorter ambivalent, »auf dem Trümmerhaufen.«

Seine Prognose: »Die Kernfamilie zerfällt -- um, wie ich glaube, durch das freischwebende Paar ersetzt zu werden, eine eheliche Dyade, die dramatischen Spaltungen und Fusionen ausgesetzt ist, und ohne die kreisenden Satelliten pubertärer Kinder, enger Freunde oder Nachbarn.«

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