WAHLEN Eher mulmig
Martin Schumacher, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag, traute seinen Ohren nicht: »Das sind ja auf einmal Töne, die bisher nur aus frei- oder sozialdemokratischen Mündern zu hören waren.«
Hören ließ sich Gerhard Stoltenberg, christdemokratischer Regierungschef in Kiel, letzte Woche so: »Harrisburg erfordert eine grundlegende Überprüfung des Sicherheitskonzepts für die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik.« Und so: »Erforderlich ist eine offene Darlegung aller Erkenntnisse und Folgerungen durch die verantwortlichen Bundesministerien.« Denn nun ist er für »Offenheit und Öffentlichkeit«.
Das waren in der Tat neue Töne. Denn jahrelang hatte das energiestrotzende Nordlicht als kompromißloser Förderer der Kernkraft gegolten. Nun aber -- nach Harrisburg inmitten der Diskussion um Gorleben -- scheint es ihm wohl höchste Zeit, die Position neu zu bestimmen: Am 29. April ist in Schleswig-Holstein Landtagswahl, und die Christdemokraten, die ohnehin mit nur einer Stimme Mehrheit regieren, sehen sieh stärker bedroht denn je.
In den Ruf des Kernkraftmeiers war Stoltenberg vor fast drei Jahren gekommen. Damals, im Herbst 1976, ließ er zunächst die Bevölkerung im unklaren darüber, wann denn nun mit dem Bau des geplanten Atomreaktors in Brokdorf begonnen werden solle. Dann ordnete er, unmittelbar nach der ersten Teilbaugenehmigung, den ersten Spatenstich bei Nacht und Nebel an und ließ auch gleich die Polizei aufmarschieren.
Brokdorf geriet zur bislang härtesten Schlacht ums Atom, mit Blut bei Beamten und Demonstranten, mit Tränengasbomben auf der einen, Stahlkugeln auf der anderen Seite. Der radikalen Linken hatte Stoltenbergs Überrumpelungsmanöver den Vorwand geliefert, auf das geradezu militärische Gehabe am Baugelände mit Militanz zu reagieren.
Wer sich in Sachen Kernenergie, so damals der Ministerpräsident, auf wirklichkeitsfremde Theorien zurückziehe, »versündigt sich an den Existenzgrundlagen der Menschen und der Zukunft unseres Landes«. Stoltenberg prophezeite neue Heere von Arbeitslosen und sinkenden Lebensstandard. Und die Funk- und Fernsehberichterstattung des in Hamburg residierenden NDR, in der nach Stoltenbergs Meinung prügelnde Polizisten zu oft vorkamen, führte letztlich zur Kündigung des NDR-Staatsvertrages durch die Kieler Landesregierung.
Wie es seinerzeit mit der Offenheit und Öffentlichkeit bestellt war, erwies sich dann noch einmal bei einem Unfall im Kernkraftwerk Brunsbüttel, wo nach einem Leitungsbruch radioaktiver Dampf ausgetreten war. Es gab weder einen ordnungsgemäß bestellten Strahlenschutzbeauftragten, für den die Landesregierung hätte sorgen müssen, noch ein betriebsunabhängiges Überwachungssystem. Stoltenbergs Administration erfuhr erst einen Tag nach dem Störfall, was da womöglich bevorgestanden hätte.
Im Landtagswahlkampf setzten sich Sozial- wie Freidemokraten denn auch deutlich von der atomaren Geradlinigkeit Stoltenbergs ab und damit allerdings auch von den Energieplänen der Bundesregierung. Die FDP möchte Brokdorf zumindest so lange ruhen lassen, bis »der Bedarf nachgewiesen ist«. Weitere Kernreaktoren soll es schon gar nicht geben. Die SPD will auch in Brokdorf nimmermehr einen Atommeiler sehen und nun, nach Harrisburg und Stoltenbergs offenkundiger Verlegenheit, die Energiefrage zum erstklassigen Wahlkampfthema anheben.
Spitzenkandidat Klaus Matthiesen; »Wir werden den 29. April auch zu einer Abstimmung über Brokdorf machen.« Für den Sonnabend letzter Woche änderten die Sozialdemokraten eilends ihren Inserattext auf ein klotziges Nein zur Atomkraft. In ihrer Wahl"Zeitung am Sonntag« rutschte die Schulpolitik an die zweite Stelle, hinter die Kernenergie.
Die rechte Vorfreude mag allerdings auch bei den Sozialliberalen nicht aufkommen. Denn der wahre Nutznießer der kräftig gewachsenen Zweifel an Sinn und Sicherheit der Kernenergie, so fürchten sie, könnte die »Grüne Liste Schleswig-Holstein« sein. FDP-Schumacher; »Uns ist eher mulmig.«
Zwar kann sich auch Stoltenbergs Pressestaatssekretär Arthur Rathke denken, daß die Grünen etwas dazukriegen«. Aber auf Kosten der Christdemokraten, glaubte der Kieler Politologie-Professor Werner Kaltefleiter schon vor Harrisburg, wird dieser Zuwachs kaum stattfinden: Von den rund zweieinhalb Stimm-Prozenten, die der Wissenschaftler den Umweltschützern vorweg zurechnet, würde nur ein halbes Prozent bei der CDU zu holen sein, etwa je ein Prozent hingegen bei den Frei- und Sozialdemokraten.
»Das letzte Wochenende«, sagt Herbert Holler, einer der Vorstände der »Grünen Liste«, »hat uns mindestens. ein Prozent eingebracht; wir sehen jetzt die Chance, fünf Prozent zu überspringen.« Der Spitzenkandidat der Grünen: »Diese Ereignisse haben viele Menschen wieder aufgemacht.«
Zwar gilt unter den Wahlarithmetikern als unwahrscheinlich, daß die Grünen tatsächlich die Fünf-Prozent-Grenze überwinden. Aber auch ein Stimmenanteil unterhalb dieser Marke könnte die Chancen der Sozialliberalen, erstmals nach 29 Jahren die christdemokratische Vorherrschaft in Schleswig-Holstein zu brechen, zunichte machen.
Die jüngsten Wahlumfragen der SPD sagen einen knappen Sieg der Oppositionsparteien voraus, Analysen der CDU prophezeien ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Grüne Stimmen unterhalb der Fünf-Prozent-Linie aber stärken voraussichtlich indirekt die Position der größten Partei -- mithin der CDU, die bei den letzten Landtagswahlen mit 50,4 Prozent die absolute Stimmenmehrheit erreichte.