JAPAN Ehrlicher Streit
Mit hoher Geschwindigkeit jagt ein dunkelbrauner Straßenkreuzer durch enge, nächtliche Straßen, dichtauf folgt ein Streifenwagen der Polizei.
Aus dem hinteren Seitenfenster der Limousine zwängt sich eine Gestalt, feuert mehrfach auf die Verfolger. Die Windschutzscheibe des Streifenwagens splittert; Polizeimeister Yamamoto wird von einer Kugel am Kopf getroffen. Die Beamten geben die Verfolgung auf, die Gangster entkommen unerkannt.
Die Klischee-Szene aus Hollywoods Gangster-Museum fand wirklich statt - Schauplatz: die verschlafene Provinzstadt Kochi auf Japans grüner Insel Shikoku.
Die Schießerei war der bislang jüngste dramatische Ausdruck einer Entwicklung im fernöstlichen Kaiserreich, die Polizei und Öffentlichkeit zunehmend ratlos macht. Seit einem Jahr scheut Japans organisierte Unterwelt, die »Yakuza« genannten syndizierten Gangster, vor dem Schußwaffengebrauch immer seltener zurück. So registrierte die Polizei im vergangenen Jahr mehr als 200 Gangster-Schießereien, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. »Die knallen in der Gegend herum«, wundert sich ein Sprecher der Tokioter Nationalen Polizeibehörde, »als seien sie vom Film.«
Allein in Tokio, der weltweit als sicher und weitgehend kriminalitätsfrei gerühmten Metropole, erreichte die Schießwut organisierter Verbrecher 1983 mit 15 Zwischenfällen, bei denen es stets Tote und Verletzte gab, einen neuen Rekord. Im Januar dieses Jahres kam es gleich zu sechs Schießereien; ein Dutzend Menschen kamen ums Leben.
»Buchstäblich jeder Yakuza besitzt heute eine Handfeuerwaffe oder trägt sie gar auf den Straßen herum«, erklärt das Polizeipräsidium.
Das ist neu. Denn zum einen ist privater Waffenbesitz in Japan streng verboten; das entsprechende Gesetz ist rigider abgefaßt als in allen vergleichbaren Ländern. Selbst Spielzeugpistolen aus Metall dürfen nicht hergestellt werden - sie könnten von findigen Tüftlern zu echten Waffen umgebaut werden.
Zum anderen sind Auseinandersetzungen mit der Feuerwaffe nach dem hergebrachten Selbstverständnis der Yakuza ein atypisches Verhalten, sozusagen nicht kommentgerecht.
Organisierte Unterweltgruppen gibt es in Japan seit dem 17. Jahrhundert - jeweils in streng hierarchisch strukturierten »Familien« zusammengefaßt. Die Gangster sind ihrem jeweiligen »oyabun«, dem Paten, in lebenslanger Loyalität bedingungslos ergeben. Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Vor allem aber galt und gilt: Yakuza leben in ihrer eigenen Welt; die Bürger außerhalb dieser Welt zu verletzen oder gar zu töten ist in den Familien ein ahndungswürdiges Vergehen.
Die Polizei schätzt, daß es in Japan etwa 125 000 Yakuza gibt. Die tatsächliche Zahl dürfte erheblich höher liegen. Allein in Tokio sind 23 000 Yakuza-Gangster organisiert.
Doch gerade die Aufsplitterung in viele Kleinfamilien dürfte ein wichtiger Grund für die zunehmenden Schießereien sein: Japans Yakuza befinden sich in einem heillosen Bruderkrieg. Der Markt für Drogen-Dealer und Zuhälter, Barbetreiber und Schutzgeldkollektoren ist eng geworden. Im Zeichen von Wirtschaftsrezession und Polizeipressalien greifen die Gangster-Familien nach fremden Territorien und Pfründen.
Die Wende im Bandenfrieden allerdings zeichnete sich schon Mitte der siebziger Jahre ab, als in Westjapan das aufstrebende Syndikat »Matsuda-gumi« dem Unterwelt-Marktführer »Yamaguchi-gumi« (weit über 10 000 Mitglieder) die Herrschaft streitig zu machen suchte.
Jahrzehntelang war die »Yamaguchi-Familie« von Kazuo Taoka, dem unbestrittenen Yakuza-Doyen, dem Paten der Paten, geführt worden. 1978 wurde er im Nachtklub »Bel Ami« zu Kioto von Matsuda-Leuten mit mehreren Schüssen niedergestreckt. Er überlebte.
Doch als »der Bär« Taoka drei Jahre später eines natürlichen Todes (Herzversagen) starb, gab es im führerlosen Milieu kein Halten mehr. Vorbei waren die Zeiten strenger Disziplin innerhalb der Truppe - Japans Mafiosi suchen seitdem die Taoka-Nachfolge in blutigen Scharmützeln zu klären.
Dabei besannen sie sich sogar klassischer Kampftugenden: Vergangenen Mai schlugen im Flughafen von Naha, Okinawa, 60 Yakuza zweier rivalisierender Familien, in zwei Dutzend Limousinen vorgefahren, mit Holzschwertern und Golfschlägern aufeinander ein. Doch der »ehrliche Streit«, so die Polizei, blieb Ausnahme und ist Vergangenheit.
So hatte die Wagenladung Gangster in der Provinzstadt Kochi die Polizei auf den Plan gebracht, weil sie das Hauptquartier einer Rivalen-Gang unter Dauerfeuer genommen hatten.
Im Spielsalon »New Osaka« versuchten Yakuza, einen Abtrünnigen am hellen Tag zu liquidieren. Rund 200 Salon-Gäste suchten im Kugelregen verängstigt hinter Spielautomaten Schutz.
Im südwestjapanischen Omuta erschoß ein Yakuza zwei Rivalen im Schlaf. Es war die siebte Schießerei in der Kleinstadt: 14 Tage zuvor war ein Gangster-Boß durch Pistolenkugeln schwer verletzt worden.
Alarmiert, verdonnerte Tokios Präsidium die Polizei-Hauptquartiere aller 47 Präfekturen des Landes zu »äußerster Wachsamkeit«. Bei einer Großrazzia in Tokio blieben an einem einzigen Tag zwar fast 750 Yakuza im Polizeinetz hängen - die Anklagen reichten von verbotenem Glücksspiel über Unterschlagung bis zu Erpressung.
Doch die Flut von Handfeuerwaffen auf den japanischen Markt kann die Polizei bislang nicht eindämmen. Pistolen, die in den USA und Südostasien für 500 Mark gehandelt werden, finden in Nippon Käufer für den zehnfachen Preis.
Beim Waffenschmuggel bewiesen die Yakuza unlängst besonders patriotische Phantasie: Am Tokioter Flughafen Narita wurde ein buddhistischer Mönch festgenommen, der die Gebeine eines japanischen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg von der Pazifikinsel Saipan in die Heimat überführte. Unter den Soldatenknochen fanden Zöllner fast zwei Dutzend nagelneue Pistolen.