STEUERN / BEAMTE Eid und Gelöbnis
Die Beamten und Angestellten der westdeutschen Steuerverwaltung wollen eine neue Art des Arbeitskampfes erproben.
Im neuen Jahr soll in den Finanzämtern nur noch »streng nach Recht und Gesetz« gearbeitet werden. »Das ist kein Bummelstreik und auch kein Dienst nach Vorschrift«, behauptet Hermann Fredersdorf, Vorsitzender des Bundes Deutscher Steuerbeamten (BDSt) »wir werden nur das tun, wozu wir durch Beamten-Eid oder Angestellten-Gelöbnis verpflichtet sind.«
Auf 500 000 Flugblättern, die in den 530 westdeutschen und West-Berliner Finanzämtern derzeit an die Besucher verteilt werden, klären Fredersdorf und seine Kollegen auf, wie der Dienst nach Eid und Gelöbnis im neuen Jahr aussehen soll. Danach wollen die Fiskus-Beschäftigten künftig jeden Lohnsteuerzahler auf alle legalen Steuer-Ersparnismöglichkeiten hinweisen. Die Einkommen-Steuerzahler hingegen sollen gründlicher geprüft werden, »auch wenn sich daraus umfangreiche Schriftwechsel, Besprechungen oder Ortsbesichtigungen ergeben sollten«. Grund: »Mangelnde Qualitätsarbeit geht wider das Gleichbehandlungsprinzip unserer Verfassung, davon profitieren die Spitzenverdiener zu Lasten des kleinen Mannes« (Fredersdorf).
Mit ihrer Aktion wollen die Finanzbeamten gegen die Unterbesetzung ihrer Dienststellen protestieren, die auch nach den Feststellungen des Bundesrechnungshofes »zu nicht mehr erträglichen Ungleichmäßigkeiten bei der Besteuerung und auch zu großen Steuerausfällen« führt. Seit 1938 ist die Zahl der Verwaltungsakte, die jährlich bearbeitet werden müssen, um 330 Prozent auf 85 Millionen gestiegen. Der Personalbestand in den Ämtern dagegen wuchs nur um 25 Prozent.
Vom Personalmangel profitieren die deutschen Unternehmer. Weil etwa nur rund drei Prozent aller Firmen von Betriebsprüfern aufgesucht werden können, entgehen dem Staat mehr als eine Milliarde Mark Steuern im Jahr. Durch die verzögerte Bearbeitung von Einkommensteuer-Bescheiden und Mahnungen verliert der Fiskus nach Fredersdorf-Schätzungen noch einmal fast eine Milliarde.
Allein in Hamburg rechnet die Finanzbehörde für 1970 mit einer Einbuße von 100 Millionen Mark. Denn fast die Hälfte aller Einkommensteuerpflichtigen hat noch keinen Konjunkturzuschlag abgeführt. Sie konnten bisher noch nicht einmal gemahnt werden. Mehr als zehn Prozent aller Autobesitzer beglichen nicht ihre Kfz-Steuern, Sie werden ihre Automobile weiterhin unversteuert fahren können, weil die Hansestadt zuwenig Beitreiber beschäftigt.
Die ungerechtfertigten Vorteile, so Fredersdorfs Verband, kommen nur rund 300 000 wohlhabenden Westdeutschen zugute, während die 20 Millionen Lohnsteuerzahler meist mehr abführen als notwendig ist, da sie Freibeträge und Jahresausgleich aus Unkenntnis nicht ausnutzen, Der Verband in seinem Flugblatt: »Steuerlich leben wir in einem Unrechtsstaat!« Und: »Wenn der Öffentlichkeit und damit allen Mitbürgern alle Einzelheiten unserer Besteuerungswirklichkeit bekannt wären, hätten wir in der Bundesrepublik längst den revolutionären Aufstand dagegen erlebt.«
Fredersdorf legte ein Vier-Punkte-Programm vor, mit dem Mißstände im Steuerwesen beseitigt werden sollen. Er fordert
* eine vereinfachte Steuergesetzgebung,
* Modernisierung und Rationalisierung der Besteuerungsverfahren,
* Neuorganisation der Steuerverwaltung und
* vor allem mehr Geld.
Die Steuerbeamten wollen künftig mindestens 70 Prozent der Gehälter verdienen, die ihren in die Wirtschaft abgewanderten Kollegen gezahlt werden. Denn rund 1000 hochkarätige Spezialisten gehen jährlich in die Industrie, um statt Steuern beizutreiben Geld vor dem Fiskus verstecken zu helfen. Die Abwanderung sei nur zu stoppen, so Fredersdorf, wenn die Steuer-Spezialisten vom Staat eine Art Sonderlaufbahn mit höheren Bezügen eingeräumt bekämen.
Falls Bund und Länder das nicht vor Silvester garantieren, werden die Beamten, so droht ihr Verband schon jetzt, älter krankfeiern und zur Kur gehen. Denn: »Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung hat jeder Verwaltungsangehörige eine Überarbeit mit Gesundheitsschädigung selbst zu verantworten.«