»Ein Alptraum ohne Ende«
Es ist ein Tambour im Orient, und wenn er die Trommel rührt, hört man den Schlag vom Atlas bis zum Hindukusch.
Das Pentagon, Nervenzentrum der Militärmacht USA und eines der kolossalsten Bau-Ungetüme der Welt, hatte dem Oberbefehlshaber einen martialisch-festlichen Empfang bereitet.
Auf dem Rasen vor dem Eingang am Potomac warteten 2000 Offiziere und Angestellte auf den Präsidenten. Zu Dutzenden drängten sich in den ersten Reihen Generale und Admirale, auf den Uniformen glänzten farbenprächtig die Orden.
Fahnen flatterten im Sommerwind, die Musik spielte die traditionelle Präsidentenhymne »Hail to The Chief«, als George Bush, begleitet von seinem Verteidigungsminister Richard Cheney und dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, Vier-Sterne-General Colin Powell, auf die Stufen trat.
Im sogenannten Tank, dem abhörsicheren Lageraum des Pentagon, war Bush soeben über die letzten Einzelheiten des gewaltigen Truppenaufmarsches am Persischen Golf unterrichtet worden. Nun machte er den versammelten Spitzenmilitärs noch einmal klar, warum er diese Expedition, nach seinen Worten »eine der wichtigsten Entfaltungen alliierter militärischer Macht seit dem Zweiten Weltkrieg«, angeordnet hatte: »Wir führen einen Schlag zur Verteidigung des Prinzips, daß Macht kein Recht setzen kann.« Und: »Kuweit ist klein. Aber eine eroberte Nation ist eine zuviel.«
Der Stahlgehalt der Rede schien selbst die Uniformierten zu beeindrucken. Es war, als wollte der Präsident sich selber jeden Rückzug abschneiden, als treibe der Führer der mächtigsten Nation der Welt unaufhaltsam auf eine gewaltsame Konfrontation mit jenem Mann zu, den er als neuen Herrn der Finsternis ansieht: Bagdads Diktator Saddam Hussein.
Wie schon in seiner dramatischen Fernsehrede an die Nation eine Woche zuvor vermied es Bush auch diesmal, den Iraker direkt mit Adolf Hitler zu vergleichen. Doch die Anspielung war unüberhörbar: »Vor einem halben Jahrhundert«, so der Präsident, »bezahlten unsere Nation und die Welt teuer für die Beschwichtigung eines Aggressors, der aufgehalten hätte werden können und müssen. Wir werden den gleichen Fehler nicht noch einmal machen.«
Die markigen Worte sollten den Amerikanern einschärfen, daß die Vereinigten Staaten nicht aus schierem Eigennutz, etwa für »Bodenschätze und ein Stück Land«, am Golf ständen, sondern wie im Zweiten Weltkrieg für eine moralisch unanfechtbare Sache. Zugleich aber wollte Bush seine Zuhörer auch darauf einstimmen, daß es mit einem solchen Feind, wie seinerzeit mit Hitler, Kompromißfrieden nicht geben könne.
Kein Zweifel: George Bush wollte, wie im Zweiten Weltkrieg sein Vorgänger Franklin Delano Roosevelt, die bedingungslose Kapitulation des Feindes; sein Ziel, mit der Forderung nach völligem Rückzug aller irakischen Truppen aus Kuweit von Anfang an gefährlich hochgesteckt, schien nunmehr auch den Sturz und eine persönliche Bestrafung des Widersachers Saddam Hussein einzuschließen.
Dafür setzte Bush eine gewaltige Streitmacht nach Saudi-Arabien in Marsch, die in den nächsten Wochen auf 200 000 Soldaten mit Hunderten von Panzern, Bombern und Jagdflugzeugen anwachsen könnte.
Alle zehn Minuten landeten gigantische C-5- und C-141-Transportflugzeuge mit Nachschub in der saudischen Wüste. Vorige Woche lief ein vierter Flugzeugträger, die USS John F. Kennedy, aus Norfolk aus, um die Armada am Persischen Golf zu verstärken. Das Pentagon verkündete die Verlegung von über 20 hochmodernen F-117A-Stealth-Kampfmaschinen in die Krisenregion, die sich gegnerischem Radar angeblich entziehen können.
Zugleich erwog Bush Ende voriger Woche eine Entscheidung, die der Nation mit einem Schlag den Ernst der Lage dramatisch bewußt machte: die Einberufung von rund 60 000 Reservisten. Es wäre die größte Mobilmachung seit 30 Jahren, »vergleichbar in gewisser Weise der Ausrufung des nationalen Notstands«, wie das Wall Street Journal schrieb. Damit hat Bush, erst seit 19 Monaten im Amt und zu Beginn seiner Präsidentschaft häufig als Mann der weichen Farben und sanften Töne beschrieben, schon jetzt mehr Truppen zum Einsatz befohlen als sein stets so kriegerisch redender Vorgänger Ronald Reagan in acht Präsidentschaftsjahren. Und noch nie seit dem Vietnam-Krieg war der Einsatz - und das Risiko eines Debakels - so hoch wie diesmal.
Bush sei sich bewußt, daß diese Auseinandersetzung die »Wasserscheide« für den weiteren Verlauf seiner Präsidentschaft sei, sagte einer seiner Berater. Setze er sich im Duell mit Saddam Hussein durch, habe er als triumphierender Sieger daheim wie im Ausland das Format und die Legitimation gewonnen, die Welt auch nach dem Ende des Kalten Krieges zu führen.
Wenn er dagegen dem irakischen Diktator seinen Willen nicht aufzwingen könne, wenn gar Amerikas Soldaten in einem langen Abnutzungskrieg verschlissen würden, könnte ihn am Ende das Schicksal des armen Jimmy Carter ereilen, der geschlagen und gedemütigt 1980 die Wiederwahl verlor.
Um so erstaunlicher, daß Bush, dem selbst alte Freunde immer eine angeborene Vorsicht nachsagten, die Meßlatte für seinen Erfolg so hoch gelegt hat, daß er sie aus eigener Kraft kaum überspringen kann.
Denn trotz ihrer gewaltigen Feuerkraft ist die US-Streitmacht am Golf nicht in der Lage, die Iraker aus ihren gut vorbereiteten Verteidigungsstellungen in Kuweit zu vertreiben. Dazu bedürfte es einer Konzentration von Panzern und Bodentruppen, die nach Meinung von US-Generalen größer sein müßte als die Armeen von Rommel und Montgomery 1942 in Nordafrika zusammengenommen. Und am Ende würde wohl nicht nur Kuweit-Stadt, sondern die ganze Region in Flammen stehen.
Bush kann dem Iraker seine Beute wohl nur wieder entreißen, wenn die Wirtschaftsblockade Bagdad in die Knie zwingt. Das aber ist so zeitraubend wie ungewiß.
Zwei Wochen nach dem Überfall auf Kuweit zeichnete sich ab, daß Saddam Hussein möglicherweise eine Verteidigungsstrategie wählen würde, die bereits Preußens Clausewitz als besonders tückisch beschrieb: die Verweigerung der Schlacht.
Der Iraker könnte darauf setzen, daß die US-Soldaten einer monatelangen ständigen Alarmbereitschaft bei permanenter Untätigkeit nicht standhalten. Daheim in den USA würde sich der Ruf nach einer diplomatischen Lösung verstärken, in der arabischen Welt könnte die mühsam aufgebaute Solidaritätsfront mit Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien zusammenbrechen, wenn Bush nicht schnell Erfolge vorweisen kann.
Die Hoffnung, daß ein in die Ecke gedrängter und gegen den Rest der Welt stehender Saddam Hussein schnell mürbe werde oder die USA durch eine Verzweiflungstat provozieren könnte, verdüsterte sich vorige Woche nach einem diplomatischen Überraschungscoup aus Bagdad, den der Chefkorrespondent der New York Times, Thomas Friedman, mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 verglich: die Annäherung zwischen Irak und Iran.
Unendlich die Litanei der Schmähungen, mit denen die Golfkriegsgegner der Jahre 1980 bis 1988 einander verteufelt hatten: »Satanischer Lakai des großen Satans USA« hatten die Iraner Saddam Hussein genannt, und für Chomeini war er »ein Tier« gewesen. Die Iraker wiederum titulierten Irans heutigen Präsidenten Rafsandschani als »mörderischen Clown« und die Iraner als »eine Seuche«.
Nun aber, um sich den Rücken für die Auseinandersetzung mit den USA freizumachen und aus der Isolation auszubrechen, willigte der Irak plötzlich in sämtliche Friedensbedingungen seines Todfeindes Iran ein. Er erklärte sich bereit, den umstrittenen, für den Irak nachteiligen Vertrag von 1975 über den Grenzverlauf im Schatt el-Arab zu respektieren - dasselbe Dokument hatte er 1980 kurz vor Beginn des blutigen Golfkriegs öffentlich im Fernsehen zerrissen.
In einem Brief an den »lieben Bruder« Rafsandschani schrieb Saddam Hussein nun: »Alles, was Du verlangt hast, ist erfüllt worden.« Vergangenen Freitag ließ Bagdad die ersten 1000 Kriegsgefangenen frei. Es war, meinte der Pariser Monde, als wenn Frankreich den Deutschen 1918 das Elsaß überlassen hätte, um eine Front zum Krieg gegen England aufzubauen.
Jede auch nur zeitweilige Annäherung zwischen den beiden stärksten Mächten am Golf mußte die Chancen der USA auf einen schnellen Erfolg verschlechtern. »Saddams größte Sorge ist im Augenblick nicht der Krieg, sondern das Embargo«, kommentierte der Kongreßabgeordnete Les Aspin, Vorsitzender des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus, die Entwicklung: »Der Iran hat eine lange Küstenlinie und eine Landgrenze, die löcherig ist wie ein Sieb. Dies könnte unsere Fähigkeit, Saddam weichzupressen, ernstlich gefährden.«
Und düster fügte er hinzu: »Wie ein Alptraum ohne Ende könnte der Iran abermals einen amerikanischen Präsidenten mit Stricken binden.«
Von den Amerikanern offenkundig unbemerkt - schweres Versagen von CIA und US-Diplomatie -, hatte sich die Entspannung zwischen den erbitterten Kriegsgegnern von einst schon seit Mai abgezeichnet. Das diplomatische Geheimspiel nährte in Washington jetzt den Verdacht, daß der Irak seinen Schlag gegen Kuweit von langer Hand vorbereitet habe - womöglich mit Teheran als stillem Komplizen. Perser und Araber, Schiiten und Sunniten in einer moslemischen Einheitsfront gegen die USA, Israel und die europäischen Industrieländer - ein wahres Schauer-Szenario.
Saddam Hussein und Präsident Rafsandschani haben zumindest zwei Interessenpunkte gemeinsam: einen möglichst hohen Ölpreis und die Vertreibung der Amerikaner vom Golf. Allerdings ist Teheran absolut nicht daran interessiert, den gefährlichen Iraker durch eine auch nur diplomatische Niederlage der USA zur unbeherrschbaren Vormacht am Golf zu machen.
Selbst wenn die von Saddam angestrebte islamische Achse Bagdad-Teheran gegen den amerikanischen Satan einstweilen nicht zustande kommt - die Entwicklung beweist, daß der Nahe Osten ein »Bermuda-Dreieck der US-Diplomatie« (ein US-Experte) bleibt.
Bush schien entschlossen, die Erinnerung an vergangene Katastrophen, an die Teheraner Geiselkrise etwa oder an die 241 Marines, die 1983 bei einem Sprengstoffanschlag fanatischer Schiiten in Beirut ums Leben kamen, ein für alle Mal zu bannen.
Als Bush im Januar 1989 ins Weiße Haus eingezogen war, hatte er im Kabinettssaal das Porträt des wenig entschlußfreudigen Präsidenten und Reagan-Lieblings Calvin Coolidge abhängen lassen. Er ersetzte es zur Überraschung vieler durch das des Haudegens Theodore Roosevelt, der während seiner Präsidentschaft von 1901 bis 1909 fast ein dutzendmal US-Truppen ins Ausland entsandte. Bushs Kommentar zum Bildertausch: »Vielleicht stellt sich noch heraus, daß ich ein Teddy Roosevelt bin.«
Das brachte ihm damals viel Spott ein, weil kaum einer dem scheuen, linkischen Bush das Draufgängerformat seines Vorbildes zutrauen mochte. Inzwischen lacht in Washington niemand mehr über Bush. »Es ist leicht, George Bush zu unterschätzen«, sagt Thomas Ashley, ein Parteifreund, der den Präsidenten schon seit der Studentenzeit in Yale kennt, »einfach weil er so verdammt höflich und nett ist.«
Unter der Oberfläche des vornehmen Patriziers aus Neuengland lauerte immer auch ein anderer Bush: ein rauhbeiniger Macho aus Texas, der Golf wie ein Berserker spielt, mit der ihm eigenen Rüpelhaftigkeit am Steuer seines Rennboots die Fischer des Ferienorts Kennebunkport terrorisiert und seinen demokratischen Wahlkampfgegner Michael Dukakis mit Sudelattacken erledigte.
Nach außenpolitischen Bewährungsproben schien der Weltkrieg-II-Bomberpilot Bush sich manchmal geradezu zu sehnen, um beweisen zu können, was in ihm steckte. »Dann mußt du zeigen, ob du es packst«, sinnierte er einmal vor Freunden. »Wenn nicht, kann alles andere wunderbar laufen, und du bist bei der nächsten Wahl wahrscheinlich doch out. Wenn du es aber packst, kann vieles andere schieflaufen, und du bist trotzdem obenauf.«
Dasselbe Kalkül könnte ihn auch diesmal motiviert haben: Die amerikanische Wirtschaft trudelt schon seit einiger Zeit auf eine Rezession zu, der steigende Ölpreis hat die Gefahr eines ökonomischen Einbruchs noch verstärkt. »Bush hat ein größeres Problem als Saddam Hussein - die Wirtschaft«, erkannte das Wall Street Journal. Doch wenn Bush die Irak-Krise meistert, kann er die Kosten als Opfer im Kampf gegen einen gefährlichen Despoten rechtfertigen.
Den harten und bösen Bush brachte der Diktator in Bagdad zum Vorschein, indem er gegen die Spielregeln des Gentlemans Bush verstieß: Der US-Präsident hatte sich auf die arabischen Brudernationen gegebene Versicherung des Diktators verlassen, er werde nicht in Kuweit einmarschieren. Den Wortbruch empfand Bush als persönliche Kränkung. »Er hat gelogen«, schnappte er mit kaum unterdrückter Wut nach dem Angriff.
Ohne lange zu zaudern, bestärkt vor allem durch seinen Sicherheitsberater General Brent Scowcroft, ordnete er die militärische Reaktion an. Von Worst-case-Szenarien anderer Experten wollte er nichts wissen. Seither führt der Präsident die Auseinandersetzung - wie schon den Feldzug gegen Panamas Noriega - nach Art einer persönlichen Vendetta.
In Camp David, dem Wochenendrefugium der amerikanischen Präsidenten in den Bergen von Maryland, dort, wo Bush am ersten August-Wochenende den Entschluß zur Entsendung seiner Streitmacht an den Golf faßte, steht in einem langen Gang ein Schaukasten mit Kriegserinnerungen. Dazu gehört ein auf Pappe gezogenes Bush-Foto in Lebensgröße. Der Kopf ist von Kugeln durchlöchert.
Das makabre Stück hatten US-Truppen auf General Noriegas privatem Schießstand in Panama erbeutet. Daneben ließ Bush die Polizeifotos des verhafteten Noriega in Miami ausstellen - das war die Revanche.
Saddam Hussein soll die nächste Trophäe sein, »lieber tot als lebendig«, so ein Präsidentenberater.
Doch Bush hat mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Kaum je zuvor hatte ein Ereignis die Region zwischen Schwarzem und Rotem Meer, zwischen Indischem Ozean und Mittelmeer so gründlich verändert wie Saddam Husseins Griff nach Kuweit: *___Dem von Washington jahrzehntelang gehätschelten König ____Hussein von Jordanien drohte plötzlich eine Blockade ____seines einzigen Hafens Akaba durch die USA, weil Akaba ____einziges Schlupfloch des Irak im engmaschigen ____Embargo-Netz der Uno war. Aus Angst vor dem brutalen ____Nachbarn Saddam Hussein und aus Sorge um die eigene ____Wirtschaft hatte der jordanische Monarch zum Ärger der ____USA den Hafen nicht sogleich schließen wollen. *___Ägypten hingegen, das den Irak im Golfkrieg energisch ____unterstützt hatte - sogar mit Freiwilligen -, ____mobilisierte die arabische Gipfelkonferenz vorletzte ____Woche zum Mehrheitsbeschluß gegen Bagdad. Ägyptische ____Soldaten bezogen als erste an der Seite amerikanischer ____GIs Posten in der saudischen Wüste. *___Syrien, in den Jahren des Kalten Krieges engster Vasall ____Moskaus in Arabien und schon deswegen auf der schwarzen ____Liste der USA, hatte noch 1984 Washington gezwungen, ____seine Marineinfanteristen aus dem Libanon abzuziehen. ____Jetzt bot Damaskus gleichfalls Truppen gegen den ____Intimfeind Irak auf. *___Die Türkei, aus der EG ausgesperrt und wegen ihrer ____Menschenrechtsverstöße seit Jahren gebrandmarkt, war ____plötzlich der Darling des Westens, weil das Land Iraks ____Ölpipeline sperrte. *___Die PLO, seit Jahren um eine Annäherung an die USA ____bemüht, macht jetzt gemeinsame Sache mit Saddam ____Hussein. *___Irans Rafsandschani erklärte trotz des freudig ____begrüßten irakischen Friedensangebots, das einer ____Kapitulation gleichkam, Kuweit müsse geräumt werden.
Ein syrischer Minister erläuterte dem SPIEGEL die Gesamtlage so: »Saddam Hussein hat uns in eine verheerende Lage gebracht - er hat den Aufmarsch der Amerikaner ermöglicht. Und die verfolgen ihre eigenen Ziele: erstens die Absicherung der amerikanischen Ölinteressen auf lange Zeit; zweitens die Zerschlagung der irakischen Armee, von der unter anderer politischer Führung vielleicht ein Hoffnungsschimmer für die Befreiung Palästinas ausgegangen wäre.«
Amerikas Eingreifen verwirrte die Fronten noch weiter: Die alten Gegensätze im Orient - zwischen progressiven und konservativen Regimen, laizistischen und theokratischen Herrschern, schiitischen und sunnitischen Moslems - wurden plötzlich überlagert durch eine einzige Antinomie: pro und contra Amerika, pro und contra seine Helfershelfer am Golf, besonders Saudi-Arabien.
Vor der Saudi-Botschaft in Jordaniens Hauptstadt Amman riefen Demonstranten: »König Fahd ist ein Verräter, wir Araber sind die Schüler Saddams und bestrafen dich.«
Die linke arabische Wochenzeitschrift El-Watan el-arabi (Das arabische Vaterland) titelte: »Hier sind wir und folgen dir, o Saddam, auf zum Heiligen Krieg.«
Ahmed Said, ein palästinensischer Großunternehmer in Jordanien, der seine »erste Million in Saudi-Arabien« gemacht hat, bekannte: »Ich mochte König Hussein nicht. Heute weiß ich, daß er ein Held ist. Unser großer Führer aber ist Saddam.« Und: »Saddam hat eine Geheimwaffe. Er hat besonders starke Raketen, die alle Feinde zerschmettern.«
Die Amerikaner sahen sich der verwirrenden Tatsache konfrontiert, daß ein orientalischer Despot, der für mindestens eine halbe Million Kriegstote verantwortlich ist, Tausende Moslems mit Giftgas umbringen ließ und sich den arabischen Bruderstaat Kuweit raubte, von vielen Arabern nicht verurteilt, sondern gefeiert wurde.
Vor allem wohl, weil es sie beeindruckt, daß er mit unarabischer Tatkraft und Zielstrebigkeit Tatsachen schafft, wo andere nur reden. Er jagte eine Clique von dekadenten, mit dem Westen verbündeten Feudalisten zum Teufel - das reicht für die Gloriole, ein Haudegen der arabischen Nation zu sein.
Die Argumente hingegen, mit denen sich die Amerikaner und ihre Verbündeten für den verjagten kuweitischen Feudalherrn einsetzten, werden als Fortschreibung historischer westlicher Perfidie verstanden.
Unvergessen ist bei den Arabern, daß sie im Ersten Weltkrieg zwar der britisch-französischen Entente halfen (und gleichzeitig das Joch der verhaßten osmanischen Fremdherrschaft abwarfen), zum Dank für die Waffenhilfe aber unter diese beiden europäischen Siegermächte aufgeteilt wurden. Außerdem bekamen sie zwei landfremde Dynastien - die Haschemiten in Bagdad und Amman - zugewiesen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trieb der Westen ihnen mit der Gründung Israels den schmerzhaftesten Stachel ins Fleisch - seither ist Amerika der beständige Protektor und Finanzier des Judenstaates.
In der westlichen Karikatur figuriert Saddam vorzugsweise als arabischer Hitler. Doch so, wie viele Araber zu Hitler und den Juden stehen, ist das keine Beleidigung.
Das Hitler-Etikett hatten die Briten vor gut drei Jahrzehnten schon dem Ägypter Gamal Abd el-Nasser aufgepappt, als er durch die Verstaatlichung des Suez-Kanals den letzten Rest des Kolonialismus auf ägyptischem Boden beseitigte - Briten und Franzosen meinten, das nicht hinnehmen zu dürfen. Doch 1956 endete ihre militärische Suez-Expedition im Desaster, weil die Supermächte ihnen Einhalt geboten.
In der gemeinsamen Geschichte von Orient und Okzident ist kaum eine vom Westen inszenierte militärische Operation auch nur annähernd so ausgegangen, wie die Generale sie geplant hatten, das letztemal 1984, als Briten, Franzosen, Italiener und Amerikaner die Bürgerkriegsparteien im Libanon militärisch zur friedlichen Koexistenz zwingen wollten.
Die Araber haben zwar schon lange nirgendwo mehr gesiegt. Doch ihre Feldherren verstanden es häufig, militärische Schlappen in politische Siege zu wenden.
Der große Nasser blieb der Held der panarabischen Massen, auch nachdem er zwei Kriege verloren hatte. Den einen 1967 im Jemen, wo er - wie Saddam Hussein im vorletzten Jahr - Moslems mit Giftgas umbrachte, und, besonders schmählich, den Sechstagekrieg gegen die Israelis.
König Hussein von Jordanien ließ sich damals durch seinen naiven Glauben an die Siegerqualitäten des »RaIs« (Führers) Nasser zum Kriegseintritt hinreißen, den er mit dem Verlust seiner wertvollsten Landesteile bezahlen mußte.
Die Vergötzung Nassers war Westlern immer schwer verständlich, denn der Ägypter erntete nach 1956 fast nur noch Mißerfolge, gleichwohl gilt er noch heute vielen als Lichtgestalt des Panarabismus. Er hatte eine charismatische Ausstrahlung und konnte dank unwiderstehlicher Rhetorik die Massen mobilisieren. Saddam Hussein dagegen hat kein Charisma, ist ein eher durchschnittlicher Redner.
Obschon im Besitz unbeschränkter Macht und durch ein lückenloses Geheimdienstnetz gesichert, ist durchaus zweifelhaft, ob er sich eine so radikale politische Wende wie sein Ausgleichsangebot an den Iran leisten kann. Volk und Soldaten fragen sich nun, wofür sie acht Jahre lang geblutet haben, wenn der Kriegsherr die verbliebenen mageren Früchte des Kampfes verschenkt. Vorige Woche meldeten Saudi-Zeitungen, irakische Panzeroffiziere seien mit Fahrzeugen und Soldaten von Kuweit nach Saudi-Arabien desertiert.
Offenbar hatte der Iraker mit einer so weitgehenden Isolierung durch die Uno und immerhin 12 von 20 Araberstaaten nicht gerechnet. Er hatte gehofft, sein alter Alliierter Ägypten werde sich zumindest neutral verhalten. Deshalb unternimmt er nun den bizarren Versuch, als Führer der sozialistischen und laizistischen Baath-Partei den Islam für sich zu mobilisieren - für viele Moslems kaum glaubwürdig.
Doch sein Gegner George Bush hat ein ebenso großes Defizit an Glaubwürdigkeit: Entgegen allen feierlichen Bekundungen schützt er am Golf nicht in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern vor allem seine eigenen wirtschaftlichen Interessen - wichtig zwar, aber auf Dauer doch kaum hinreichend für das manichäische Weltverständnis der Amerikaner. Und können sich die USA den Grund zum Losschlagen - wie 1964 beim berüchtigten »Zwischenfall« im Golf von Tonkin - heute noch selbst verschaffen?
Wenn den Amerikanern kein arabischer Attentäter zu Hilfe kommt, garantiert auch ihre unerhörte militärische Kraftentfaltung keineswegs den Erfolg.
Schon der Aufmarsch verlief weit langsamer als geplant. Kaum mehr als 25 000 GIs standen Ende voriger Woche in Saudi-Arabien. Obwohl das Pentagon 70 Prozent der weltweit verfügbaren US-Transportflugzeuge für die Luftbrücke eingesetzt hatte, war nur ein Bruchteil der benötigten Waffen, Fernmeldegeräte und Versorgungseinrichtungen in der Region angelandet.
Der stellvertretende Planungschef der US-Luftwaffe, Brigadegeneral Bob L. Mitchell, gab zu: »Wir hätten unsere Kapazität zu 100 Prozent auslasten können und wären dennoch nicht in der Lage gewesen, die Streitmacht dort zusammenzuziehen, wo wir sie brauchten.«
Mehr als vier Wochen noch werden vergehen, fürchten Pentagon-Experten, ehe in Saudi-Arabien eine amerikanische Bodentruppe steht, die es mit dem hochgerüsteten Irak aufnehmen könnte, dem während des Golfkriegs auch die USA heimlich Waffen zugesteckt hatten.
Das US-Expeditionskorps womöglich über Monate zu versorgen dürfte noch weit schwieriger werden. Allein eine Jagdbomber-Staffel verfliegt pro Monat mehr als 13 Millionen Liter Sprit, wenn seine 24 F-15-Jets täglich nur zweimal starten. Die bis zu 2000 Mann Bodenpersonal der Staffel verbrauchen im gleichen Zeitraum fast vier Millionen Liter Wasser und 100 Tonnen Nahrungsmittel. Hochgerechnet für die 200 000 GIs, die bis zum Herbst auf saudischem Boden eingetroffen sein sollen, ergeben sich astronomische Transportziffern und gigantische Kosten.
Käme es zum Waffeneinsatz, könnten sich die Versorgungsengpässe zu einer Katastrophe auswachsen: Moderne Systeme - Schnellfeuergewehre, Panzer, Geschütze und Raketenwerfer - verschießen, meist automatisch, in kürzester Zeit Unmengen von Munition.
Nachschub müßte nicht nur ins Kriegsgebiet, sondern bis an die Front gebracht werden. Selbst in dem verkehrstechnisch voll erschlossenen Europa war das für Militärplaner in Ost und West stets ein Alptraum.
Was aber, wenn Saddam Hussein tatsächlich versucht, das Embargo durchzustehen und die eigene Geduld gegen das aufgebrachte Weltgewissen zu setzen?
Dann könnten 200 000 GIs in den Glutöfen ihrer Wüstenquartiere schnell eine schwere politische Belastung werden. Als Vorsichtsmaßnahme erhielten die US-Truppen einen Arabien-Knigge für die ungewohnten Lebensbedingungen im puritanischen Staat des Königs Fahd: Füße auf dem Tisch gelten als Kränkung, Kauen auf dem rechten Zeigefinger kann als Drohung verstanden werden, das Ansprechen von Frauen ist im Gastland strikt tabu.
Selbst wenn es Panzerfahrern und Raketenschützen, Piloten und Radartechnikern gelänge, den Frust des lähmenden Wartens in der Wüste alkoholfrei zu überstehen - den politischen Schaden einer Dauer-Einquartierung könnten sie kaum vermeiden.
Die saudische Dynastie würde schwer an Ansehen einbüßen, wenn sie Amerikaner in so großer Zahl womöglich für Jahre in ihr Land geholt hätte, in die Heimat der höchsten Heiligtümer des Islam, die ihr persische und arabische Nationalisten und Fundamentalisten gleichermaßen neiden. Iraks Außenminister Tarik Asis bekundete den neu erworbenen Glauben: »Die neuen Kreuzzügler entweihen unsere islamischen heiligen Stätten.«
US-General John Dailey meinte vergangene Woche, seine 45 000 Ledernacken würden »eine ziemlich lange Zeit bleiben«. So könnten die US-Truppen am Ende noch jene gefährden, zu deren Schutz sie eigentlich angerückt waren.
Washingtons militärisches Krisenmanagement könnte noch tiefer in politischen Treibsand geraten - wenn jene Solidarität zerbröckelt, die George Bush gleich nach dem irakischen Überfall auf Kuweit weltweit zusammentelefoniert hatte.
Die militärische Blockade, die Bush am Donnerstag befahl, ist nach Ansicht etlicher seiner Verbündeten durch die einstimmig gefaßte Embargo-Resolution des Sicherheitsrates nicht gedeckt. Nur London steuerte vorige Woche stramm auf US-Krisenkurs.
Frankreich distanzierte sich deutlich, und Bonns Kanzler Kohl hat seine leichthin gegebene Ankündigung, die ins Mittelmeer geschickten fünf Minensuchboote der Bundesmarine könnten womöglich auch im Krisen-Golf kreuzen, vorsichtig korrigiert (siehe Seite 121).
Washington ließ sich vom Unbehagen seiner Alliierten nicht beirren. Kriegerisch erklärte ein hoher US-Diplomat, bei einem Einsatz von chemischen Kampfmitteln durch den Gegner werde, leider Gottes, chemisch geantwortet.
Und Präsident Bush beharrte auf einem »sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Rückzug« der Iraker - vor jeder Verhandlung. Aus Bagdad schallte es höhnisch zurück: Kuweit aufzugeben sei so, als sollten die USA ihre Südstaaten räumen.
Die in Kuweit lebenden Briten und US-Bürger schockierte Saddam mit Psychoterror. Er befahl ihnen, sich in zwei Hotels zu versammeln. Doch der befürchtete Abtransport nach Bagdad fand - vorerst - nicht statt.
Am vorigen Donnerstag, als Jordaniens König Hussein Bush in dessen Wochenend- und Feriendomizil Kennebunkport aufgesucht hatte, wurde der Präsident gefragt, ob die Lage sich stabilisiert habe oder die USA einem Krieg mit dem Irak nähergekommen seien.
Darauf Bush: »Ich weiß nicht, ob ich zwischen diesen beiden Optionen noch wählen kann.«