FRANKREICH / DE-GAULLE-OPERATION Ein Bett für den König
Frankreichs Größe, im schottisch karierten Morgenrock, tappte am Arm einer Krankenschwester über einen der grauen Korridore des Pariser Hospitals Cochin. Neben der Tür kampierte Leibwächter Tessier. Auf der Straße wachten 150 Polizisten. Vor dem Gittertor drängte sich das Volk, um Neues vom Patienten Charles de Gaulle zu hören.
Seit dem Tod des jugendlichen Kennedy und dem Pseudo-Tod des väterlichen Chruschtschow hat keine Nachricht die Franzosen so bewegt wie das Bulletin über die operative Entfernung der Prostata des Präsidenten der V. französischen Republik.
Um der Würde seines Amtes und der Stabilität seines Staates willen hatte der kranke Präsident die notwendig gewordene Operation zum Geheimnis erklärt. Die Vorbereitungen wären in aller Stille getroffen, die Tarnmanöver vom Patienten selbst ausgeklügelt worden.
Nur Premierminister Pompidou, Informationsminister Peyrefitte, Innenminister Frey und Gesundheitsminister -Marcellin waren von Elysée-Generalsekretär Burin des Roziers über die Operation unterrichtet worden.
Seinen verfassungsmäßigen Ersatzmann und schärfsten innenpolitischen Gegner schaltete der General aus: Der farbige Senatspräsident Gaston Monnerville - der theoretisch die Zügel der Staatsführung übernehmen müßte, wenn der Präsident durch Krankheit oder Tod aus dem Amt gerissen wird - wurde auf Befehl de Gaulles nicht informiert.
Des General-Staatschefs weißes Telephon mit rotem Knopf, die direkte Verbindung vom Elysee-Palast zu Befehlszentrale der französischen Atomstreitmacht, ließ er im Büro Pompidous aufstellen.
Am Donnerstag vorletzter Woche pries der General Im Fernsehen die Leistungen seines Regimes. Er sah sich noch selbst um 20 Uhr über den Bildschirm flimmern. Dann, um 21 Uhr, fuhr er mit Madame Yvonne im schwarzen Citroen ohne Eskorte vom Elysee -Palast ab. Sein letzter Befehl: »Daß nichts bekannt wird vor morgen abend 8 Uhr!«
Das Geheimnis wurde erfolgreich gehütet, obschon das Datum der Operation bereits im März vor de Gaulles Mexiko -Reise, festgelegt worden war. Im ersten Stock des zum Cochin-Spital gehörenden Pavillon Ollier wurden die Fenster des für de Gaulle bestimmten Zimmers mit kugelsicherem Glas versehen.
In der zweiten Aprilwoche verlegten die Krankenhausdirektion die Patienten der Nachbarzimmer in andere Stockwerke. Ein extrem langes Bett, das gewöhnlich die baldige Ankunft des langen Generals verrät, wurde aufgestellt. Durch die Hospitalverwaltung ließ de Gaulle ausstreuen, das Bett sei »für den König von Kambodscha«.
König Charles ließ vorn Elysee einen genauen Kalender seiner Verpflichtungen für die Woche vom 18. bis 26. April herausgeben. Am 17. April um 8 Uhr lag er unter dem Messer des Urologen Aboulker von der Pariser Universität. Der Anästhesist hatte Anweisung, zur Schonung des Herzens von de Gaulle nur in kleinsten Dosen zu betäuben. Nach einer Stunde und 40 Minuten war der General von der quälenden Drüse befreit. Er schlummerte bis 13.40 Uhr.
Um diese Zeit schwirrten schon die Gerüchte durch Paris. Der Chef des Pariser dpa-Büros, Ernst Burkart, hatte die Neuigkeit als einer der ersten, erinnerte sich jedoch der falschen dpa-Meldung vom Tode Chruschtschows und wartete, bis die Gerüchte sich verdichteten.
Das Objekt eines denkbaren Eingriffs ließ sich anhand der Krankengeschichte de Gaulles nicht lokalisieren:
> 1914 traf ihn in den Ardennen ein
Granatsplitter oberhalb des Knies;
> wenig später verletzte ihn eine Gewehrkugel in der Nierengegend;
> 1953 unterzog er sich in Genf einer
Augenoperation am grauen Star;
> seit etwa der gleichen Zeit quält ihn
ein Magengeschwür.
De Gaulles Prostata machte erstmals 1960 Schwierigkeiten. 1963 wurden die Beschwerden quälender. Dreimal begab er sich zu Professor Aboulker ins Hospital Cochin an der Porte d'Italie. Amtliche Version: Routine-Untersuchung.
Nach de Gaulles Einzug ins Krankenhaus wurde die, Verschleierung konsequent fortgesetzt. Informationsminister Peyrefitte noch am Freitagnachmittag: »Ich weiß von gar nichts.« De Gaulles Kabinettschef Galichon erklärte sogar: »Der General arbeitet in seinem Büro.«
Erst elf Stunden nach der Operation
- die immerhin in vier Prozent der Fälle tödlich verläuft -, um 19.15 Uhr, rückte der Elysee-Palast mit der Wahrheit heraus.
Die publicityscheue Madame de Gaulle verließ nun zum erstenmal das Hospital, um statt in der Hauskapelle in der nahen Pfarrkirche zu beten.
Für manchen Patienten, wie den Briten-Premier Macmillan, beschleunigte der Prostata-Eingriff das Ende der politischen Laufbahn.
Im allgemeinen freilich hat die operative Entfernung der Vorsteherdrüse keinerlei schädliche Nachwirkungen. Prostata-Patienten sind nach glücklich überstandener Operation leistungsfähig wie zuvor. So hinderte den französischen Weltkrieg-I-Premier Clemenceau eine 1914 im Alter von 73 Jahren überstandene Prostata-Operation nicht, vier Jahre später Frankreich zum Sieg über Deutschland zu führen. Auch für den General besteht daher wahrscheinlich keine Veranlassung, auf seine für den Präsidentschafts-Wahlkampf 1965 geplante Kandidatur zu verzichten.
Dennoch zögerten seine politischen Gegner nicht, aus der Erkrankung des Staatschefs politische Münze zu schlagen.
Während Patient de Gaulle im weißen Pyjama mit blauen Streifen im Hospital Cochin die ersten Schritte machte und die heraufgezogenen Schatten zu verdrängen suchte, tummelten sich seine potentiellen Nachfolger vor dem Volk: Sozialist Defferre, Rechtsextremist Tixier - Vignancour, Radikalsozialist Cornu. Die rechtsstehenden Unabhängigen bedrängten ihren Altmeister und Währungsreformer Pinay, die Volksrepublikaner ihren Präsidenten Lecanuet, für die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren.
Die Krankheit des bald 74jährigen de Gaulle, so meinen die Sozialisten, hat vor allem Defferre erstmals reale Chancen gegeben, gegen den General zu bestehen, falls der wieder kandidiert. Defferre hat versprochen, im Falle seines Wahlsiegs die patriarchalische Regierungsform de Gaulles abzuschaffen und kollegial zu regieren.
Schrieb die linksextreme »Libération": »Ein Kollegium hat keine Prostata:«
Staatschef de Gaulle*
Um 8 Uhr morgens von der Drüse befreit * Bei seiner TV-Rede vom 16. April, 21 Stunden vor der Operation.