Zur Ausgabe
Artikel 9 / 87

Ein Boom für die Kohle?

Deutsche Kraftwerk-Bauer und Stromerzeuger sehen schwarz: Ein Ausfall der Kernenergie wäre auch durch die Kohle kaum zu ersetzen. Die Kapazitäts-Reserven sind begrenzt, und eine neue Schachtanlage auf der grünen Wiese, meint ein Ruhrkohle-Manager, »braucht immer noch zehn Jahre und mehr«.
aus DER SPIEGEL 15/1979

Eigentlich wollte Paul Turner auf dem hannoverschen Gorleben-Hearing nur ganz allgemein über die Entsorgung von Kernkraftwerken diskutieren. Doch am Ende beschäftigten den Vizepräsidenten des Washingtoner »Atomic Industrial Forums« fast nur noch ganz handfeste Kraftwerkssorgen.

Über Telephon ließ er sich ständig mit den letzten Neuigkeiten aus der Heimat versorgen. Sein Wissen gab der Atompapst dann bereitwillig weiter; am Dienstag der vergangenen Woche machte er schließlich auch den eilig zu einer Sondersitzung zusammengetrommelten Kernkraft-Experten der deutschen Stromproduzenten klar, was in Harrisburg eigentlich passiert war.

Die Herren, die im Hause der Veba-Tochter Preußenelektra zusammengekommen waren, diskutierten lange über Turners Nachrichten. Was sie den Deutschen, denen der Schrecken von Harrisburg in die Glieder gefahren war, mitzuteilen hatten, stand indes wohl schon lange vor der Anhörung des Amerikaners fest.

Es bestehe, so fanden die Experten, keine Veranlassung, aus den Ereignissen von Harrisburg für die deutschen Kernkraftwerke »voreilige Konsequenzen« zu fordern.

* DGB-Kundgebung in Dortmund im November 1977.

Das hatte wohl auch niemand von den Kernkraft-Befürwortern ernsthaft erwartet. Längst hatte die Industrie sich hinter dem Argument verschanzt, daß hierzulande die Technik eine andere sei und Unfälle wie der von Harrisburg hier gar nicht möglich wären.

Abwiegelnde Stellungnahmen jedoch konnten nicht mehr verhindern, daß die Schreckensvision einer zivilen Atomkatastrophe ungeahnten Ausmaßes in der deutschen Öffentlichkeit Wirkung zeigte. In der eskalierenden Auseinandersetzung um den weiteren Ausbau der Kernenergie werden Anlagenbauer und Stromproduzenten seit dem Schock von »Three Mile Island« weiter in die Defensive gedrängt.

Forderungen nach einem Baustopp für alle angefangenen Atomkraftwerke und die Abschaltung der bereits ans Netz angeschlossenen Reaktoren wie sie etwa der Vorsitzende der Jungsozialisten, Gerhard Schröder, erhob

riefen sogleich Bosse und Verbandsführer auf den Plan. »Die Kernenergie ist unverzichtbar«, verkündete Hans Werner Oberlack, Chef der Hamburgischen Elektrizitäts-Werke, dessen Stromkunden bereits zu 32 Prozent aus Atommeilern versorgt werden.

»Ein Kernkraftstopp wäre ein Rückfall, den wir allein aus Gründen der Versorgungssicherheit nicht verantworten könnten«, assistiert Preußenelektra-Chef Ulrich Segatz. Preußenelektra-Strom wird zu fast 30 Prozent in Kernreaktoren erzeugt.

Klaus Barthelt, Chef der Siemens-Tochter Kraftwerk Union (KWU), kamen gar Gedanken an vorindustrielle Zeiten: Wer hier keine Kernkraftwerke mehr bauen kann, werde »bald auch keine mehr exportieren« können. »Der muß sich«, ahnt Barthelt, »wieder auf Gartenzwerge zurückziehen,«

Ein totaler Atomstopp würde vor allem die Kraftwerk Union treffen, den nach Westinghouse und General Electric (beide USA) sowie der französischen Framatome viertgrößten Nuklear-Lieferanten der Welt. Zwar schiebt die Siemens-Tochter einen respektablen Orderbestand von fast 24 Milliarden Mark vor sich her. Doch nur einen Teil ihrer Aufträge können die Mülheimer und ihre 270 Unterlieferanten wirklich abarbeiten. Allein von den 12 Inlandsaufträgen sind derzeit vier durch Einsprüche blockiert.

Gleichzeitig mußten die Deutschen auch im Ausland harte Nackenschläge einstecken. Erst wurde ein sicher geglaubter Spanien-Auftrag um einige Jahre zurückgestellt, dann verhinderten die Österreicher letzten November per Volksabstimmung die Inbetriebnahme ihres Atomkraftwerks in Zwentendorf. Und noch immer haben die KWU-Manager keine letzte Gewißheit, ob sie unter der Chomeini-Herrschaft ihre beiden halbfertigen Iran-Meiler in Buschihr zu Ende bauen dürfen.

Um vor allem die hochqualifizierten Facharbeiter unter ihren rund 18 000 Beschäftigten zu halten (KWU-Chef Barthelt: »Die bekämen wir nie wieder"), nahmen die Kraftwerk-Akquisiteure zur Auslastung ihrer Werkstätten mittlerweile sogar Meerwasserentsalzungsanlagen und schon vor Jahren aus ihrem Programm ausgemusterte Kleinturbinen in Auftrag.

Dennoch mußte die. KWU letzten Monat 120 Arbeitern ihres Berliner Werks den Kündigungsbrief schicken. Bis 1980 will Barthelt, durch Einsparung frei werdender Posten, die Belegschaft um weitere 1000 Mann verringern.

Noch vor wenigen Jahren hatte alles ganz anders ausgesehen. Unter dem Eindruck des Nahostkrieges im Oktober 1973, in dem die Opec-Staaten ihr Öl erstmals als politische Waffe eingesetzt hatten, drängten die Politiker auf einen zügigen Ausbau der Atomkraft. Nicht weniger als 40 000 Megawatt Kernstrom-Kapazität schrieben die Verfasser des ersten Bonner Energieprogramms im Herbst 1973 bis 1985 fest. »Besser« sollten es sogar 50 000 sein.

Doch vier Jahre später mußten die amtlichen Energieplaner eingestehen, daß ihr stolzes Soll von fast 40 Kernreaktoren vom Format Biblis als Folge des geringeren Wirtschaftswachstums und zunehmender Bürgerproteste unrealistisch geworden war. Sie korrigierten Ende 1977 ihre Atom-Projektion auf 24 000 Megawatt.

Selbst dieses Ziel ist, so KWU-Planer Hartmut Nierhoff, »kaum noch zu schaffen«. Denn mittlerweile muß mit einer Bauzeit von der Planung bis zum Anschluß ans Netz von acht bis zehn Jahren gerechnet werden. So müßten also die für 1985 vorgesehenen Projekte heute bereits weit gediehen sein. Und davon sind die Projekte weit entfernt. Nierhoff: »Man kann heute allenfalls mit 19 000 bis 20 000 Megawatt rechnen, und darin sind Brokdorf und Grohnde bereits enthalten.«

In Brokdorf an der Elbe ruht, ebenso wie in Wyhl am Kaiserstuhl, bereits seit zwei Jahren auf Geheiß der Gerichte die Arbeit. In Grohnde dürfen die KWU-Trupps nach fast zweijähriger Pause einstweilen wieder weitermachen. Um fünf weitere Bauplätze stehen lediglich langsam dahinmodernde Lattenzäune.

Die Verzögerung beim Bau neuer Kraftwerke könnten sieh Deutschlands Energieversorger nach ihren früheren Verbrauchsprognosen eigentlich gar nicht mehr leisten. Und die Lichter, die angeblich so schnell ausgehen sollten, werden noch eine Weile weiterbrennen -- weil die Prognosen nicht stimmten.

Bei der Planung ihrer neuen Kernkraftwerke waren die Stromerzeuger noch von jährlichen Zunahmen des Stromverbrauchs um sieben Prozent ausgegangen. Nachdem die Zuwächse durch die Rezession und erste Erfolge beim Energiesparen im Schnitt der letzten fünf Jahre auf nur noch 3,6 Prozent zurückgegangen sind, verfügen die Kraftwerkseigner zur Zeit noch über eine freie Reserve von 5000 Megawatt.

Das Kapazitäts-Polster, so mahnen die Strommanager, könnte bei anhaltender Verzögerung auf den Kraftwerksbaustellen in den nächsten Jahren schnell verschwinden. Schon 1985 erwartet Siemens-Chef Bernhard Plettner »ernste Versorgungsengpässe«.

Selbst bei »optimistischen Annahmen«, meint auch Klaus Knizia, Chef der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (VEW), würden die Deutschen bis 1985 ein Primär-Energie-Defizit von 30 Millionen Steinkohleneinheiten (SKE) erreichen, »das danach vermutlich rasch steigen wird«.

Um von Kernstrom auf Kohle-Elektrizität umzuschalten, wären Deutschlands Kraftwerker ganz auf ihre heimischen Vorkommen angewiesen. Denn der zunehmende Eigenbedarf großer Kohleförderländer wie der USA hat dazu geführt, daß es »heute praktisch keinen Welthandel mit Kraftwerkskohle gibt«, wie Bonns Technologie-Minister Volker Hauff in einer Studie für den SPD-Vorstand feststellt.

Deutschlands Kumpel jedoch, seit Jahren auf Sehrumpfkurs eingestellt, könnten in der notwendigen Zeit kaum wesentlich mehr als bislang fördern. Zwar wären die Kohlemanager in der Lage, kurzfristig 18 Millionen Tonnen Haldenbestände zu verkaufen und weitere zehn Millionen nationale Kohlenreserve zu mobilisieren. Langfristig jedoch ließen sich zunächst nur jährlich 10 Millionen Tonnen, die die Kohlenverkäufer derzeit noch exportieren, in den heimischen Verbrauch umleiten.

Würden die Kohlebosse zudem noch die über viele Betriebe verhängte Kurzarbeit aufheben, könnten sie ihre Produktion von derzeit 83,5 Millionen (1978) auf rund 90 Millionen Tonnen jährlich erhöhen.

Dann allerdings würde es mühsam. Erst nach vier Jahren könnte der deutsche Bergbau durch den Ausbau bestehender Gruben hundert Millionen Tonnen fördern. Für zusätzliche Mengen Steinkohle müßten sie langfristige Investitionen vorsehen.,, Eine neue Schachtanlage auf der grünen Wiese«, weiß Vorstandsmitglied Friedrich Carl Erasmus von der Ruhrkohle AG, »braucht immer noch zehn Jahre und mehr.«

In einem »Szenario ohne Kernenergie« projizierte Energie-Analytiker Hauff einen gigantischen Kohleboom. Bei einer angenommenen Verdoppelung des Stromverbrauchs in den nächsten 20 Jahren würde der Einsatz von Kraftwerkskohle im Jahre 2000 von derzeit 33 Millionen Tonnen auf 130 bis 230 Millionen Tonnen emporschnellen.

Dieses wiederum würde den Bundesbürgern nach der Kalkulation der Kraftwerk-Lobby jährliche Strom-Mehrkosten von rund 12 Milliarden Mark bescheren. In die Gruben an Ruhr und Saar müßten 150 000 zusätzliche Kumpel hinabsteigen.

Überdies wäre auch die Umrüstung auf Kohlekraftwerke mit Schwierigkeiten verbunden. Harte Umweltschutzauflagen verteuern die Anlagen und verzögern teilweise die Fertigstellung. Schon jetzt liegen Projekte wie das Kohlekraftwerk Voerde in der Genehmigungsmaschinerie fest.

Aufträge über weitere Stromfabriken auf Kohlebasis halten die vorsichtig gewordenen Energiekonzerne inzwischen schon so lange zurück, bis sie das Plazet für Bau und Betrieb sicher haben. KWU-Manager Nierhoff: »Warum sollen die über eine Milliarde Mark in den Sand setzen, wenn sie ihr Kraftwerk nachher nicht betreiben dürfen?«

Der Verzicht auf die Kernkraft' so betonen Kernkraft-Apologeten und Kohlemanager immer wieder, würde die Bundesrepublik aber vor allem von ihrem im ersten Energieprogramm verankerten Hauptziel wegbringen -- die Abhängigkeit vom unsicheren Importöl zu mildern.

Bereits im letzten Jahr wuchs der deutsche Ölkonsum deutlich stärker als der Energieverbrauch insgesamt. Neue Opec-Aktionen gegen die auf ihr Öl angewiesenen Industrieländer oder -- nach dem Iran -- der Ausfall eines weiteren Öllieferanten könnten für die deutsche Energieversorgung böse Folgen heraufbeschwören.

Ein Verzicht auf die Kernkraft' so drückte Preußenelektra-Chef Segatz die Einschätzung der Stromerzeuger aus, »würde unweigerlich den Ölbedarf erhöhen, den wir gerade drosseln wollten«. Ersatz für 01 und Kernkraft sieht auch Segatz nicht: »Wir können doch keine Stimmungs-Kraftwerke bauen.«

Zur Ausgabe
Artikel 9 / 87
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren