Ein Cowboy im Maßanzug
Der Kandidat, sonst eher kühl-reserviert, gab sich volkstümlich. »Das nächste Mal«, versprach er den fröstelnden Zuhörern einer Wahlkampf-Veranstaltung im Winter 1982, »bringe ich eine Schaufel mit und helfe Ihnen beim Schneeschippen.«
Applaus. Man glaubte es ihm. »Im Winter«, setzte der Senator, einmal in Fahrt, noch drauf, »schaufle ich immer selbst die Einfahrt und den Bürgersteig frei. Im Frühjahr putze ich dann die Fenster und mache ein bißchen Hausputz.«
Beifälliges Lachen, darüber plötzlich eine ironische weibliche Stimme: »In Washington hat man davon aber noch nichts gemerkt.«
Gary Hart zuckte zusammen, war sprachlos, verunsichert, errötete. Die Leute aber johlten, und da stahl sich ein schüchternes Lachen auch auf sein Gesicht. Die Zwischenruferin war seine Frau Oletha ("Lee") Hart, mit der er, in stetem Wechsel, mal vereint, mal getrennt lebt.
Nun also war sie wieder da - und seither ist sie immer da, ist der Dialog zwischen dem Redner und der Zwischenruferin Bestandteil so manchen Hart-Auftrittes geworden. Erst wenn sich das Gelächter legt, stellt Gary seine Lee vor - als »die nächste First Lady der Vereinigten Staaten«.
Wenn die beiden denn wirklich am 20. Januar 1985 Einzug halten sollten im Weißen Haus zu Washington - und bislang sprechen davon nur Gary Hart und seine Getreuesten -, wäre das gewiß eine der größten innenpolitischen Sensationen der amerikanischen Nachkriegsgeschichte.
Immerhin hatte der einstige Außenseiter Gary Hart innerhalb von gut zwei Wochen drei von vier Vorabstimmungen gegen den erklärten und siegessicheren Favoriten Walter Mondale gewonnen: Einer deutlichen Niederlage in Iowa, wo er aber dennoch Zweiter wurde, folgte ein ebenso deutlicher Überraschungssieg in New Hampshire, folgten Siege auch in den beiden Nachbarstaaten Maine und Vermont.
Kein Tag verging mehr ohne Hart-Schlagzeilen in den US-Zeitungen, ohne Bilder vom Hart-Wahlkampf im US-Fernsehen; am vorigen Montag war der Senator aus Colorado Titelheld der meisten Magazine in den Vereinigten Staaten.
»Eintagsfliege oder wirkliche Bedrohung?« fragte in einem Anflug republikanischen Bekennermuts die fest im Reiche Ronald Reagans angesiedelte Zeitschrift »U. S. News & World Report«, ein Bollwerk des Establishments.
Den Mitbewerbern Gary Harts um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, dem einstigen Carter-Vize Walter Mondale insbesondere, hat sich die Antwort auf diese Frage längst erschlossen: Hart, jung (47), attraktiv wie ein »Marlboro«-Cowboy ("Was für ein attraktives Rauhbein«, schwärmte eine 75jährige in New Hampshire), hat sie mit seinem Machtanspruch für die »neue Generation«, mit seiner Forderung nach »neuen Ideen und einer neuen politischen Führung für unser Land« längst das Fürchten gelehrt. Er ist, das bestätigen auch seine Kollegen aus dem Senat, alles andere als eine Eintagsfliege. Vor ihnen steht vielmehr ein ehrgeiziger, überaus intelligenter, von Selbst- und Sendungsbewußtsein durchdrungener Mann.
Daß er bisweilen widersprüchliche politische Positionen bezieht, hat Gary Hart, den Cowboy im Maßanzug, kaum je gestört. Im Gegenteil, so konnte er vermeiden, daß ihm irgend jemand die in den Vereinigten Staaten so gern verteilten Etiketten aufklebte. »Liberal« paßt nicht, aber auch nicht »konservativ«; er ist ökologiebewußt, ja, aber keineswegs gegen die Atomenergie; mal stimmt er mit den Gewerkschaften, mal gegen sie, mal mit Ronald Reagan (1983 in 31 Prozent der Fälle), mal gegen den Präsidenten (46 Prozent).
Ihm erscheint sein Abstimmungsverhalten als durchaus gradlinig, weil es seiner Überzeugung folge und nicht den Pauschal-Direktiven irgendwelcher Machtgruppierungen.
Hart bildet sich, loben seine Senatskollegen - halb bewundernd, halb verständnislos -, zu jeder Gesetzesinitiative sein eigenes Urteil, studiert jede Vorlage, läßt sich nicht mitreißen von der Rhetorik irgendwelcher Lobbyisten oder dem Drängen der Partei: »Trading votes«, der traditionelle Tauschhandel nach dem Motto »Stimmst du für meinen Antrag, stimm'' ich für deinen«, gehört nicht zu Gary Harts Methoden.
Mag sein, daß der Grund für derlei Unabhängigkeit in Gary Harts Vergangenheit liegt, in der Weite gar des Mittleren Westens, wo er am 28. November 1937 im Kansas-Städtchen Ottawa (11 000 Einwohner) geboren wurde.
Von Vater Carl Hartpence, _(Auf Betreiben von Gary änderte die ) _(Familie 1961 ihren Namen in Hart - weil ) _(das, so Gary heute, der eigentliche Name ) _(der Vorfahren gewesen sei. Sein Onkel ) _(hingegen: Gary habe den Namen gekappt, ) _(weil er in seiner Kurzform einprägsamer ) _(sei. )
Bahnarbeiter, Lkw-Fahrer für Standard Oil, Verkäufer für landwirtschaftliche Geräte, und Mutter Nina, die an der Sonntagsschule unterrichtete, wurde Gary
ganz so erzogen, wie es ihre Nazarener-Kirche, eine fundamentalistische Glaubensgemeinschaft mit noch rigoroserem Moral- und Verhaltenskodex als dem der Methodisten, verlangte.
»Freitags oder samstags«, erinnert sich Garys einstiger Klassenkamerad Walt Dengel, »machten wir schon mal mit ein paar Flaschen Bier die Gegend unsicher. Nur Gary nicht, er ging immer nach Hause. Auch beim Pokern machte er nicht mit. Es sah so aus, als fragte er sich stets, ob sich das auch gehöre.«
In der Schultasche steckte zwischen den Lehrbüchern auch die Bibel, Gottesdienst am Sonntag war Pflicht - erst recht, als er am »Bethany Nazarene College« in Oklahoma das Studium der Theologie aufnahm, ein ernsthafter junger Mann, der sich selbst schon als künftigen Priester sah.
Das kleine College weitete seinen Gesichtskreis. Hart las Sokrates und Kierkegaard und setzte sein Studium an der renommierten theologischen »Yale Divinity School« fort, nunmehr mit dem Ziel, Lehrer der Theologie oder der Philosophie zu werden. Erst faszinierten ihn die französischen Existentialisten, dann die amerikanische und russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts - und dann kam John F. Kennedy.
Mitgerissen vom Schwung, vom Charme, von den Visionen des jungen Senators aus Massachusetts, verdingte sich Gary als freiwilliger Wahlhelfer, wußte mit einem Male, wozu er sich wirklich berufen fühlte: zum Dienst am Volk.
Hart: »John Kennedy hat meine Generation politisch aktiviert. Die meisten Leute meines Alters interessierten sich nicht für Politik; das war was für die Alten, die Zigarren rauchten, das widerte einen an ... Kennedy hingegen machte Politik überhaupt wieder legitim, noch bevor es ein Thema gab. Er schuf das Thema. Mit einem Male war Politik wieder etwas Ehrenwertes.«
Er gab die Geisteswissenschaften auf, studierte Jura, traf auf die Rebellen seiner Generation, die mit Sit-ins und Märschen für studentische Freiheiten und Bürgerrechte demonstrierten. Doch daran konnte er, seine Erziehung verbot es ihm, nicht teilnehmen. Er ging nach Kennedys Ermordung in die Hauptstadt Washington: als Jung-Anwalt für Bürgerrechte im Justizministerium des Robert Kennedy. »Ein Mann, der eine Berufung fühlt, ein Mann mit einer Mission« (so Harts langjähriger Freund Richard Lamm, demokratischer Gouverneur von Colorado).
Mit den Schüssen, die erst den einen, dann den zweiten Kennedy niederstreckten, mit der Wahl Richard Nixons ins Weiße Haus fanden die Ideen, die Visionen Kennedys wie auch der Hart-Generation ein jähes Ende. Gary Hart zog sich zurück in den Westen, ließ sich in Denver als Anwalt nieder.
Die Mission, Politik wieder zu einer ehrbaren Sache zu machen, ließ ihn
allerdings nicht los. 1970 bereits überraschte er sein neues Idol, den nahezu unbekannten liberalen Senator George McGovern aus South Dakota, einen vehementen Gegner des Vietnamkrieges, mit einem detaillierten Strategiepapier, in dem er darlegte, was McGovern tun müsse, um den Westen der USA für sich zu gewinnen.
McGovern nahm den Rat nicht nur an, er machte den jungen Anwalt aus Denver zu seinem Wahlkampf-Leiter - und im Frühjahr 1972, nach der Vorwahl von New Hampshire, war Gary Hart auf einmal das »politische Wunderkind« ("Newsweek") der Nation: Er hatte seinen George McGovern so nahe an den großen Favoriten Edmund Muskie herangeführt, daß dessen Kandidatur bald darauf in sich zusammenbrach. McGovern aber wurde zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gekürt. Es war sein letzter Sieg.
Der Demokrat gewann gegen Nixon nur einen einzigen Bundesstaat (Massachusetts) - aber nicht, so Hart später in seiner Anatomie eines Wahlkampfes, »Right from the Start«, weil er möglicherweise der falsche Mann war, sondern weil es seiner Partei 1972 an Ideen fehlte.
Der Wahlkampf hatte zwar eine neue Generation von Strategen hervorgebracht, aber keine neuen Denker. Hart: »Der amerikanische Liberalismus war praktisch bankrott.«
Das Denken übernahm der Organisator Hart fortan selbst - und seine Schlußfolgerung war verblüffend einfach: Da von der alten Generation innerhalb der Partei nichts Neues zu erwarten sei, müsse die neue Generation die Führung übernehmen. »Die haben ihre Chance gehabt, jetzt sind wir dran.«
Mit diesem Motto wurde er 1974 in Colorado zum Senator gewählt - und die Erkenntnis, daß man sich von den Idealen der Vergangenheit trennen müsse, wenn sie nicht mehr zeitgemäß seien, vertrat er so überzeugend, daß er 1980 trotz des überwältigenden Reagan-Sieges, der überall die Demokraten mit in den Abgrund riß, wiedergewählt wurde.
Da hatte er vermutlich schon das nächsthöhere, das höchste Staatsamt im Auge. Denn im Schlußkapitel seines Buches »Right from the Start« hatte Hart bereits 1973 dargelegt, daß »ein Mann den Unterschied ausmachen kann«, und »jedermann sollte es versuchen«.
Hätten seine Widersacher, Walter Mondale vor allem, dieses Buch vor Beginn des Wahlkampfes 1984 etwas genauer studiert, sie wären kaum überrascht gewesen vom plötzlichen Auftauchen des Phänomens Gary Hart. Man brauchte nur den Namen Muskie durch Mondale, den Namen McGovern durch Hart zu ersetzen:
»Muskie scheiterte, weil er nichts Neues zu bieten hatte. Er versprach noch mehr Solidarität und Stabilität, aber die Menschen hatten sich zehn Jahre lang nach neuer Energie und Bewegung, nach Richtung und Ziel gesehnt ...
»Daran, daß sich die Führung der Partei massiv hinter Muskie stellte, konnte man ablesen, wie wenig sie von den Sorgen der Nation wußte. Sie bewies, daß sie nicht einmal ahnte, was im Lande vorging.«
Und schließlich: »Die Demokratische Partei muß, will sie nicht irrelevant werden oder aussterben, eine neue Generation von Denkern hervorbringen, die verstehen, was in der Welt vor sich geht, eine neue Generation von Führern, die Enthusiasmus, Hoffnung, Energie in den Menschen wecken können. All das kann erreicht werden, und es kann in sehr kurzer Zeit erreicht werden.«
1984?
Als dann noch Jimmy Carters Meinungsforscher Pat Caddell - nicht er verlor gegen Ronald Reagan, sondern sein Chef - mit der Erkenntnis nachstieß, die Nation warte auf etwas Neues (siehe Kasten Seite 149), war alles klar.
Die Alten aber wehren sich mit korrekten, aber müden Argumenten. »Es kommt nicht darauf an, ob die Ideen neu sind«, stöhnt Walter Mondale. »Die entscheidende Frage ist, ob sie richtig oder falsch sind.«
Der Kolumnist R. Emmett Tyrrell dagegen weiß, »daß Amerikaner jede Seife kaufen, wenn sie das Etikett ''Neu'' trägt, obwohl Seife Seife bleibt.«
Gary Hart ist neu.
Auf Betreiben von Gary änderte die Familie 1961 ihren Namen in Hart- weil das, so Gary heute, der eigentliche Name der Vorfahrengewesen sei. Sein Onkel hingegen: Gary habe den Namen gekappt, weiler in seiner Kurzform einprägsamer sei.