Frankreich Ein einziges Minenfeld
Seit seinem zwölften Lebensjahr, so wurde dem angeschlagenen Staatschef plötzlich bewußt, habe er »nie mehr als 48 Stunden im Bett gelegen«. Die »Begegnung mit der Krankheit« - Prostatakrebs -, die Operation, die lange Rekonvaleszenz und die Furcht vor Metastasen waren für Francois Mitterrand »entsprechend schwierig«. Aber der alte Kämpfer gelobt Standhaftigkeit: »Wenn es schlecht laufen sollte, dann muß ich die Zähne zusammenbeißen.«
Das ist dringend notwendig. Obwohl die reguläre Amtszeit des Präsidenten erst 1995 endet, ist Mitterrand, 76, unversehens zum wahren Gegner für die konservative Opposition bei den Parlamentswahlen Ende März geworden. »Wenn die Sozialistische Partei eine schwere Niederlage erleidet«, frohlockt der gaullistische Ex-Minister Charles Pasqua, »dann ist dies auch eine unmittelbare Niederlage für den Präsidenten der Republik.«
Unausgesprochen steckt dahinter die Hoffnung der Konservativen, der Herr im Elysee werde unter der Doppelbelastung seines physischen Leidens und der politischen Demütigung nach einem Wahlfiasko doch noch vorzeitig zurücktreten. Gegner und Freunde studieren die ärztlichen Bulletins wie den Börsenbericht. Kaum einer glaubt, daß Mitterrand bis zum Ende durchhält - die Krankheit soll weiter fortgeschritten sein, als offiziell zugegeben wird.
Die Parlamentswahlen haben die Konservativen längst schon für sich verbucht; Meinungsforscher sagen ihnen einen klaren Sieg mit bis zu 450 Parlamentssitzen (von 577) voraus.
Auf der Rechten rüsten sich zwei Herausforderer, die Erbschaft des Staatschefs anzutreten: Gaullisten-Führer Jacques Chirac, 60, und der ehemalige Präsident Valery Giscard d'Estaing, 67. Doch beide müssen fürchten, daß der alte Fuchs Mitterrand die ihm verbleibende Zeit nutzt, um Zwist zwischen den verbündeten Konservativen zu säen.
Vor allem Chirac, dessen polternde Art den Präsidenten »anekelt«, wie Vertraute wissen, hat bereits ungute Erfahrungen gemacht. Von 1986 bis 1988 regierte er als Premier in einer unfreundlichen »Kohabitation« mit Mitterrand. Für den Gaullistenführer war damals »jeder Tag eine Qual« - noch einmal leiden will er nicht. Er werde das Amt des Regierungschefs diesmal ausschlagen, falls es ihm angetragen werde, verkündete er.
Die Konservativen wollen Staatsbetriebe privatisieren, die Verschuldung abbauen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Einschnitte ins soziale Netz nehmen sie dafür in Kauf - wohingegen Mitterrand schon versprochen hat, die »acquis sociaux«, die sozialen Errungenschaften wie etwa das freiwillige Rentenalter mit 60 Jahren, kompromißlos zu verteidigen. Seine Widersacher warnte er: »Ich hoffe, sie werden nicht wagen, sich daran zu vergreifen.«
Um sich nicht in einem permanenten Grabenkrieg mit dem Präsidenten aufzureiben, würden einige besonders rabiate Rechte den Staatschef nach gewonnener Parlamentswahl am liebsten mit einem »konstitutionellen Putsch« (Mitterrands Kulturminister Jack Lang) in die Pensionierung zwingen. Sie plädieren für eine Art Regierungsstreik. Die neue Mehrheit solle jedem vom Staatschef ernannten Regierungschef in der Nationalversammlung so lange das Vertrauen verweigern, bis Mitterrand entnervt sein Amt aufgebe. Ein solches Vorgehen spekuliert mit einer Staatskrise: Der Präsident, legitimiert durch die Verfassung, stünde in einem unauflösbaren Konflikt mit dem Parlament, das sich zu seiner Revolte durch den Wahlausgang berechtigt fühlte. Wahrscheinlicher ist, daß beide Seiten sich übergangsweise auf einen Kompromißkandidaten einigen. Beste Chancen, neuer Premier zu werden, hat der Chirac-Vertraute Edouard Balladur, 63, einst Generalsekretär des Elysee unter dem Präsidenten Georges Pompidou und von 1986 bis 1988 Finanzminister.
Balladur hält Frankreich für marode wie »nie mehr seit der Befreiung« von den Deutschen 1944. Drei Millionen Arbeitslose, eine Staatsverschuldung, die Ende vergangenen Jahres 1,865 Billionen Francs betrug, dazu ein kumuliertes Defizit von 90 Milliarden in der Sozialversicherung - die künftige Regierung, klagt auch Chirac, begebe sich in »ein einziges Minenfeld«, weil die Linke seit ihrem Machtantritt 1981 eine Politik der »verbrannten Erde« betrieben habe.
Gleichwohl traut sich Balladur zu, das Land aus der Rezession zu führen und die Franzosen von ihren Ängsten und Selbstzweifeln zu befreien. Gelingt ihm das, darf auch er sich Hoffnung auf den Einzug in das Elysee machen - ein Rivale mehr für Chirac und Giscard.
Mitterrand, nach dem Urteil des Politologen Alain Duhamel noch immer »das gefährlichste Polit-Tier der Nation«, scheint entschlossen, die Konservativen in der Regierung zu verschleißen und so den Sozialisten für die Präsidentschaftswahl 1995 eine Revanche zu ermöglichen.
Während der frühere sozialistische Premier Michel Rocard schon die Gründung einer neuen Bewegung verlangt, die Linke und Grüne umfassen soll, verteidigte Mitterrand in einem Fernsehauftritt seine sozialistischen Ideale und rief die Partei zur Einigkeit auf.
Ironisch machte er seinem Erzwidersacher Chirac vor einiger Zeit klar, daß er keine Eile habe, aus dem Elysee-Palast auszuziehen:
Auf der Fahrt zu einem Empfang beim Präsidenten war der Gaullist im Verkehr steckengeblieben. Er entschuldigte seine Verspätung mit der anzüglichen Bemerkung: »Es ist sehr schwierig, in das Elysee zu kommen.« Darauf Mitterrand: »Es ist noch schwieriger, es zu verlassen.«