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CHRUSCHTSCHEW Ein fähiger Parlamentarier

aus DER SPIEGEL 24/1957

Zeig dich der Nation« heißt eine Fernsehsendung, die regelmäßig an jedem Wochenende zwischen halb vier und halb fünf Uhr nachmittags vom amerikanischen »Columbia Broadcasting System« veranstaltet wird. Am vorletzten Sonntag zeigte sich auf den Bildschirmen der amerikanischen Bürger der rundlich-kahle, warzige Schädel des sowjetischen Parteisekretärs.

Nikita Chruschtschews brennendster Wunsch, Ike und Mamie Eisenhower im Weißen Haus zu Washington besuchen zu dürfen, begegnet noch immer der innerpolitischen Vorsicht des Präsidenten. Zunächst einmal hat sich der stärkste Mann der Sowjet-Union im Wohnzimmer von Mister Babbitt in der Mainstreet von Oklahoma oder Minneapolis vorstellen müssen. Und siehe da, Mister Babbitt hat dabei in dem bulligen Sowjetmenschen einen Mann seinesgleichen entdeckt.

Die hochangesehene »New York Herald Tribune« bescheinigte dem Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union: »Nikita Chruschtschew zeigte, daß er - wenn er sich jemals für ein öffentliches Amt wählen lassen würde - ein fähiger Parlamentarier und ein gerissener Taktiker wäre.«

Ein Berichterstatter verglich die Posen des kurzbeinigen Bolschewisten auf dem 1645 Meter langen Filmstreifen mit der Attitüde eines John Barrymore, dem 1942 verstorbenen großen amerikanischen Schauspieler und Hamlet-Darsteller, dem Josef Kainz der Vereinigten Staaten. Der Sekretär aus Moskau spielte die Rolle »des großen Menschenüberzeugers, des gutherzigen, gutwilligen und des immer und überall guten Onkels Nikita«.

Es imponierte den Babbitts gewaltig, wie der Sowjetmensch - ganz ähnlich den Pressekonferenz-Gewohnheiten seines ideologischen Widersachers John Foster Dulles auf die Fragen der hartgesottenen amerikanischen Reporter scheinbar einging, sie tatsächlich aber gar nicht beantwortete. Das ging etwa so vor sich:

FRAGE: »Dürfen wir annehmen, daß Sie in absehbarer Zeit die Störsendungen gegen die Stimme Amerikas (der amerikanischen Propagandasendungen nach der Sowjet-Union) einstellen werden?«

CHRUSCHTSCHEW: »Meine Heimat ist ein sehr musikalisches Land. Wenn Amerika eine schöne Stimme hat, werden wir sie keinesfalls stören. Aber wenn die Stimme unsere Ohren beleidigt, dann wird jeder Mensch in der Sowjet-Union seinen Radioapparat abstellen, weil ihm eben die Stimme auf die Nerven geht.«

Die drei Reporter - der Diskussionsleiter Stuart Novins, sein Gehilfe Daniel Schorr, beide vom »Columbia Broadcasting System«, und der Moskauer Korrespondent der »New York Herald Tribune«, Cutler - huldigten allerdings nicht dem Persönlichkeitskult. Sie hielten dem Chruschtschew vor, daß ja nicht das russische Volk seine Radioapparate ausschaltet, wenn die »Stimme Amerikas« aus dem Äther ertönt, sondern daß die sowjetische Regierung durch Störsender den Empfang unmöglich macht.

Konterte Chruschtschew: »Ihr versucht, uns von unserem Volk zu trennen. Das ist ein altes Lied, eine alte Platte, eine sehr alte Platte. Niemand bei uns hat Lust, sich diese Platte noch weiter anzuhören.« Aber dann ließ er - mit dem breiten Froschgrinsen sehr mächtiger Männer - die alte sowjetische Platte folgen: »Laßt uns doch in Frieden zusammenleben. Laßt uns miteinander Handel treiben, laßt uns konkurrieren.« Diese »Stimme der Sowjet-Union« war schöne Musik für die Ohren der geschäftstüchtigen Babbitts.

Es war fast, als ob Ike selber zu seinem Volk spräche. Der Sohn des ukrainischen Bergarbeiters zeigte sich in landwirtschaftlichen Fragen ebenso beschlagen wie der Farmer von Gettysburg. Den Frieden und die Entspannung wollte der Sekretär genauso wie der Präsident. Die Babbitts wären eingeschlummert, wenn Chruschtschew sie nicht dann und wann mit einigen Bosheiten schockiert hätte.

»Ich prophezeie Euch«, ulkte er, »daß Eure Enkel unter dem Sozialismus leben werden. Und, bitte, erschreckt nicht darüber. Eure Enkel werden sich darüber wundern, daß ihre Großeltern nicht den fortschrittlichen Charakter einer sozialistischen Gesellschaft erkennen wollten.«

Oder: »Uns kommt die kapitalistische Gesellschaft wie Sklaverei vor, und wir glauben, daß die Völker, die in einem kapitalistischen System leben, in einer kapitalistischen Sklaverei stecken.«

Aber Chruschtschew wahrte sein keep smiling. Er setzte sofort beschwichtigend hinzu: »Die Sowjet-Union will niemanden angreifen und keinem Land ihr System aufzwingen. Kann man das Urteil darüber, welches der beiden Systeme das stärkere ist, nicht der Geschichte überlassen, anstatt auf eine kriegerische Auseinandersetzung hinzuwirken?«

Es war für die Babbitts ein herrlicher Sonntagnachmittags-Witz: »In seiner überaus lebhaften Argumentation verwandelte sich das komplizierte Thema in einfaches Schwarz-Weiß. Er gestikulierte heftig mit seinen eher rohen, aber kraftvollen Händen und blinzelte listig aus den etwas verkniffenen Augen, wenn er mit Schärfe und entwaffnender Offenheit oder ebenso entwaffnender Verdrehtheit auf die teilweise recht eindringlichen Fragen antwortete, die ihm in schneller Folge gestellt wurden«, ließ sich die »Neue Zürcher Zeitung' aus Washington berichten.

Dabei war diese Sendung das Debüt Chruschtschews beim Fernsehen. Das Reporterteam des »Columbia Broadcasting System« hatte deshalb dem Parteisekretär vor den Aufnahmen in seinem Kreml-Büro einige technische Verhaltungsmaßregeln vorlegen lassen. Es sei für die Bildwirkung besser, hieß es da, wenn Chruschtschew sich ein leichtes Make-up gefallen lasse.

Erklärte der Sekretär des Parteichefs: »Herr Chruschtschew rasiert sich täglich und legt hinterher etwas Puder auf. Er wird also kein besonderes Make-up benötigen.«

Der Kleiderordnung des Fernsehens fügte sich Chruschtschew. Da dunkle Anzüge und weiße Hemden auf dem Bildschirm grau und unscheinbar wirken, hatte er einen hellen Anzug und ein elfenbeinfarbenes Oberhemd angelegt. Als Blickfang trug der Parteisekretär auf der Brust zwei kleine Ordensschnallen.

Schwierigkeiten machte das Sprachproblem. Die Fernsehreporter hatten, um Zeit zu sparen, zunächst vorgeschlagen, daß die Unterhaltung - ähnlich wie bei großen internationalen Konferenzen - simultan übersetzt werden sollte. Die Partner des Interviews hätten dann mit Hilfe der an ihre Kopfhörer geschalteten Dolmetscher Fragen und- Antworten in ihrer eigenen Sprache sofort parat gehabt.

Dem Chruschtschew verbot es jedoch die Eitelkeit, vor dem amerikanischen Publikum wie ein Pinseläffchen mit Ohrmuscheln am Kopf zu erscheinen. Daher mußte - etwas umständlich - das Frage und - Antwort - Spiel am Konferenztisch übersetzt werden.

Die Experten im amerikanischen Außenamt indes, die weniger am Schauspieler als am Politiker Chruschtschew interessiert sind, beschäftigen sich nun seit einer Woche damit, jeden Satz, jede Redewendung des Interviews zu sezieren und zu analysieren. Der ehemalige Chefplaner der amerikanischen Außenpolitik, George F. Kennan, gab ihnen dabei gleich am ersten Tag eine Richtschnur mit auf den Weg: »Ein übertriebenes Mißtrauen kann (bei einer sorgsamen Untersuchung) genauso viel Schaden anrichten wie übertriebene Naivität.«

Bisher sind es drei Punkte, die das Interesse der Sachverständigen erregt haben:

- Chruschtschews Bemerkung: »Wir wollen Freundschaft mit den Amerikanern, nicht um unsere beiden großen Mächte gegen andere Länder zu vereinigen, sondern weil wir glauben, daß die Freundschaft zwischen uns auch anderen Ländern zum Guten gereichen würde.« - Nach Washingtoner Ansicht war dieser Satz an die Adresse Pekings gerichtet. Man meint dazu im State Department, daß für Mao Tse-tung eine amerikanischsowjetische Allianz über seinen Kopf hinweg einen ähnlichen »Alptraum« bedeutet wie für den Bonner Bundeskanzler.

- Chruschtschews Angebot, die sowjetischen Truppen aus den osteuropäischen Staaten abzuziehen, wenn die Amerikaner aus Westdeutschland, Frankreich, Italien, Griechenland und der Türkei abzogen. - Zum erstenmal, so stellten die Experten im State Department interessiert fest, verband Chruschtschew diese Forderung weder mit einem Verlangen nach Auflösung der Nato noch forderte er - wie sonst - die Auflösung der amerikanischen Stützpunkte in Nordafrika, England und Spanien.

- Chruschtschews Hinweis, daß bei einem Rückzug der amerikanischen Truppen aus Europa auf den amerikanischen Kontinent die sowjetischen Truppen in Sibirien etwa ebenso weit wie die amerikanischen Truppen von Westeuropa entfernt seien. - Möglicherweise, meint man in Washington, könne darin eine Andeutung liegen, daß die Sowjets im Falle eines amerikanischen Rückzugs aus Europa bereit sind, ihrerseits ihre Truppenstärken in der westlichen Sowjet-Union zu verringern.

Die Rußlandabteilung im State Department hat Außenminister John Foster Dulles den Vorschlag unterbreitet, zu den letzten beiden Punkten eine Rückfrage im Kreml durch den amerikanischen Botschafter in Moskau zu veranlassen.

Jedenfalls wurde die Schau ein voller Erfolg für den neuen amerikanisch-sowjetischen Ideenaustausch. Die »Herald Tribune« freute sich: »Präsident Eisenhower sagte auf seiner letzten Pressekonferenz, daß die Vereinigten Staaten bereit sein müßten, den Sowjets auf halbem Wege entgegenzukommen. In Mister Chruschtschews Antworten war ein deutliches Anzeichen festzustellen, daß er uns ebenfalls auf ,halbem Wege' entgegenzukommen sucht.«

»Die Frage ist nun«, schrieb die »Neue Zürcher«, »ob der Kreml dem Präsidenten Eisenhower Gegenrecht einräumen und ihn zum russischen Volk sprechen lassen wird.« Etwas indigniert fügte das Blatt hinzu: »Man muß abwarten, was aus dieser Form des Austausches wird.«

Chruschtschew und die amerikanischen Fernsehreporter: Make-up für Amerika

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