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RUSSLAND Ein Fall für die Feuerwehr

Das Parlament will den Präsidenten entmachten, da schlägt Boris Jelzin zurück: Er möchte das Parlament auflösen. Als neuen Premier bietet er den Polizeichef Stepaschin an, den richtigen Chef für eine Regierung des Notstands.
Von Jörg R. Mettke und Fritjof Meyer
aus DER SPIEGEL 20/1999

Mai-Schnee fiel auf Moskau. Die Hauptstädter, längst vom kommunalen Heizungsnetz abgeschaltet, hofften auf ein bißchen Wärme, den Frühling, die ersten Blumen rund um die Datscha - jedenfalls nicht auf einen Gewaltstreich ihrer Obrigkeit.

Da bekamen sie, wenn auch nicht aus heiterem Himmel, eine Staatskrise beschert. Boris Jelzin ernannte zum neuen Regierungschef einen General, der einmal als Politoffizier bei Polizei und Feuerwehr angefangen hatte. Sergej Stepaschin, 47, soll nun den Schwelbrand löschen, mit dem Rußlands Parlament, die Duma, die Herrschaft des Staatspräsidenten zum Einsturz bringen möchte - gut ein Jahr vor dem Ende seiner Amtszeit, ein halbes Jahr vor den Neuwahlen der Duma.

In einem langwierigen Verfahren zu seiner Absetzung warf die Mehrheit der Kommunisten und Nationalisten, unterstützt von einigen Demokraten, Jelzin eine lange Liste von Verbrechen gegen das Volk vor: die Auflösung der Sowjetunion, die Kanonade auf den Obersten Sowjet 1993, den Tschetschenienkrieg, das Zerbröseln der Militärmacht und überhaupt den wirtschaftlichen »Genozid am russischen Volk«.

Trotz aller Gebrechen noch immer ein listiger Taktiker, geht Jelzin jetzt in sein letztes Gefecht: Anstelle des Premiers Jewgenij Primakow, der in der Duma wohlgelitten war, berief er einen Mann, der den Vertrag zur Beerdigung der UdSSR gepriesen hatte und am Tschetschenienfeldzug aktiv und glücklos beteiligt war; mit verdeckten Agenten hatte der damalige Geheimdienstchef Stepaschin im Kaukasus den Rebellenführer Dudajew stürzen wollen.

Jelzin muß sich darauf einstellen, daß die Duma die Zustimmung zu seinem Kandidaten verweigert. Stepaschin ist ein Mann fürs Grobe, dessen Lebenslauf der Sicherheit des Staates gewidmet war.

Ein Jahr vor dem Tode Stalins 1952 in der Sowjetgarnison des chinesischen Port Arthur geboren, absolvierte er Polizeischulen, promovierte mit dem Thema »Die Parteileitungen bei der Leningrader Feuerwehr während der Blockade«, lehrte Marxismus-Leninismus an einer Militär-Polithochschule und betätigte sich in den Befriedungsaktionen der niedergehenden UdSSR im Kaukasus. Nach der Wende wirkte Stepaschin als Sicherheitschef von Leningrad und leitete schließlich den russischen Inlandsgeheimdienst. Als der Justizminister mit verdeckter Kamera nackt im Umgang mit Damen erwischt wurde, übernahm Stepaschin 1997 dessen Amt; als der Innenminister mehr Macht verlangte, wurde Stepaschin - vor einem Jahr - Innenminister.

Er rühmte die Kooperation mit den Deutschen bei der Festnahme eines Vietnamesen, der in Berlin gemordet hatte, und bei der Befreiung des Geschäftsmanns Klaus Schmuck aus kaukasischer Geiselhaft. Vor zwei Wochen schloß er mit seinem Kollegen Otto Schily ein Abkommen zum gemeinsamen Kampf gegen die Organisierte Kriminalität. So etwas kann er.

Als Ministerpräsident ist er nun vornehmlich für die Volkswirtschaft zuständig, von der er noch weniger versteht als sein Vorgänger Primakow. Dabei begründete Jelzin dessen Entlassung gerade mit wirtschaftlichem Versagen. So sehr Primakows »Mut und Verstandesschärfe, diplomatische Vor- und Umsicht« geholfen hätten, die politische Stabilität herzustellen, so schlecht seien diese Eigenschaften der ökonomischen Entwicklung des Landes bekommen, urteilte Jelzin: »Eine Stabilisierung von Elend und Niedergang können wir nicht brauchen.«

Der zum Premier erhobene ehemalige Politruk Stepaschin, dessen Ehefrau die Moskauer Filiale einer St. Petersburger Großbank leitet, bekennt sich immerhin zur »sozial orientierten Marktwirtschaft«. Seine professionelle Härte versteckt er hinter zivilem Exterieur und scheinbarer Schüchternheit. Im Volksmund heißt er schon »Stepaschka«, wie der kleine Hase im Moskauer TV-Kinderprogramm.

Zum zweiten Pfeiler seiner neuen Regierung machte der Staatschef einen Verwalter von Staatskapital, den bisherigen Eisenbahn-Minister Nikolai Axjonenko, 50. Er soll das reichste Kabinettsmitglied sein und nahen Verwandten gern lukrative Posten bei profitablen Partnerfirmen der Bahn zuschanzen. Der neue amtierende Vizepremier, der seine Karriere als Stationsvorsteher von Nischne-Udinsk an der Transsibirischen Bahn begann, hat sich dem Lande bislang allerdings nicht durch pünktlich verkehrende Züge empfohlen. Er gilt bei Kreml-Beamten als »Freund der Familie«.

Für seinen Kabinettskahlschlag fand Jelzin nicht einmal Unterstützung bei Politikern, die Primakows Wirken kritisch verfolgten. Die unvermittelte Enthauptung der Regierung sei zwar verfassungskonform, diene »aber keineswegs der Stabilität im Lande«, befand etwa der liberale Ökonom Grigorij Jawlinski, Chef der Jabloko-Partei, die 46 der 441 Duma-Abgeordneten stellt.

Und Moskaus Oberbürgermeister Jurij Luschkow, gegenwärtig aussichtsreichster Präsidentschaftsanwärter für die Wahlen im Jahr 2000, äußerte ärgerlich, für Primakows Entlassung seien »seriöse Gründe nicht genannt worden - es gibt sie auch nicht«.

Um Primakows Wirtschaftspolitik kümmerte sich im wesentlichen sein kommunistischer Vize Jurij Masljukow, der zu Sowjetzeiten der zentralen Planungsbehörde Gosplan vorstand. Er schaffte es wenigstens, die galoppierende Inflation zu vermeiden, die neoliberale Regierungskritiker für unvermeidlich hielten, als Primakow nach der Finanzkrise im August vergangenen Jahres die Nachfolge des jungen Interim-Premiers Sergej Kirijenko antrat.

Der Außenwert der Landeswährung verlor entgegen den Prophezeiungen nicht 300 Prozent, sondern nur vier Rubel (rund 50 Prozent) gegenüber einer Deutschen Mark - absolut ist das kaum mehr, als der Rubel jetzt binnen Stunden einbüßte, nachdem Jelzin wieder einen Premier als verschlissen gemeldet hatte.

Bei vielen Banken und Wechselstuben reichten gegen Ende vergangener Woche die Vorräte nicht aus, um die Devisennachfrage zu befriedigen. An den Börsen stürzten russische Papiere reihenweise ab, selbst die Aktie des profitablen Gas-Giganten Gasprom gab schlagartig um zehn Prozent nach.

Diese Reaktion der Märkte stimmte selbst Kreml-Propagandisten nachdenklich: »Wir hätten Boris Nikolajewitsch wohl eine andere Begründung aufschreiben müssen«, sorgte sich einer von ihnen. »Nach unserem Szenario hätte der Rubel härter werden und die Börse jubeln müssen nach dem Abgang des Reform-Bremsers Primakow.«

Auch beim Volk ließ sich keine Sympathie für Jelzins jüngste Demonstration von Selbstherrschertum feststellen. Ein Anrufer bei einer Moskauer Rundfunkstation beschrieb das Verhältnis der kleinen Leute zum ersten Mann im Staat nach dessen jüngster Kapriole so: »Ein bißchen Ruhe hat das Land nur mal, wenn er seinen Rausch ausschläft oder seine Krankheiten in irgendeiner Klinik kuriert.«

Eine von Sicherheitsbehörden in Auftrag gegebene, unter Verschluß gehaltene Blitzumfrage ermittelte »große bis sehr große Zufriedenheit mit der Person und Regierungstätigkeit von J. M. Primakow« bei 72 Prozent der Bevölkerung, während der Präsident selbst gerade noch bei 2 Prozent populär ist.

Der Grund für Primakows Renommee: Anfang Mai konnte das Finanzministerium nach einer Überweisung von 1,65 Milliarden Rubel an die Sparkassen des Landes erstmals seit langer Zeit wieder eine vollständige und pünktliche Zahlung aller Staatsrenten melden. Zugleich gelang es der Regierung, seit September 1998 die Lohnschulden bei Arbeitern und Angestellten von 17 auf 9,5 Milliarden Rubel zu reduzieren. Und statt mit einer durchschnittlichen Verzögerung von vier Monaten werden die Gehälter jetzt schon nach anderthalb Monaten ausbezahlt.

Für das laufende Jahr erwarteten Primakows Wirtschaftsplaner noch einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um ein Prozent. Doch Jelzins ehemaliger Wirtschaftsberater Alexander Liwschiz lobte als Verdienste der Primakow-Regierung einen stabilen Rubel, eine niedrige Inflationsrate und das Kunststück, »den Gesprächsprozeß mit Rußlands Kreditoren über den toten Punkt hinweggebracht zu haben«.

Der Internationale Währungsfonds, Japan und die Weltbank wollen wieder zahlen - acht Milliarden Dollar. Bedingung für die Darlehen sind neue Gesetze, von denen der Fachmann Jawlinski freilich sagt, daß »selbst der Herrgott sie nicht durch die Duma bringen könnte«.

Bei dieser mächtigen Dollarprämie lohnt sich der Konflikt mit dem Parlament. Mit dem Patt zwischen KP-dominierter Duma und dem KP-Konvertiten Jelzin, das immer wieder politischen Stillstand zu verursachen drohte, konnte Primakow noch einigermaßen fertig werden. Die linke Duma-Mehrheit tolerierte sein Kabinett von Anfang an. Doch er machte keine Anstrengungen, ihr die Eröffnung des seit einem Jahr vorbereiteten Amtsenthebungsverfahrens gegen Jelzin auszureden - da erlosch schlagartig das Interesse des Präsidenten an seinem Premier.

Primakow hätte den widerspenstigen Duma-Fraktionen mit Rücktritt drohen und sein eigenes politisches Schicksal mit dem des Präsidenten verbinden müssen, murrten Jelzin-Berater. Noch Ende Februar gab Jelzin öffentlich zu Protokoll, er bleibe bis zum Jahr 2000 im Amt - und sein Premier mit ihm. Der gelobte dafür, sich bis dahin nicht um die Präsidentschaft zu bewerben - ein Versprechen, an das er nun nicht mehr gebunden ist.

Jelzins Küchenkabinett verlangte, Primakow solle wenigstens seine kommunistischen Minister feuern. Der Premier antwortete: Wenn ein Kabinettskollege ohne seine Zustimmung entlassen würde, stünde auch er nicht länger zur Verfügung.

Von da an begann Jelzin demonstrativ, seinen dienstältesten Minister zu demontieren. Er begrüßte ihn nicht mehr bei offiziellen Anlässen, kanzelte ihn vor Zeugen ab und schurigelte ihn am 5. Mai vor laufenden Fernsehkameras bei einer Sitzung des Organisationskomitees für die Vorbereitung der 2000-Jahr-Feiern, als der gerade zum Ersten Vizepremier ernannte Stepaschin nicht angemessen plaziert war. Jelzin erzwang mit drollig-drohenden Grimassen und mühsamer Artikulation eine Veränderung der Sitzordnung, Stepaschin nahm ganz nahe beim Zaren Platz - ein Signal für Kreml-Astrologen.

Jelzin nahm ihm auch noch die Kompetenz für das Kosovo-Makeln, die er seinem Vorgänger Wiktor Tschernomyrdin übertrug. Am Vorabend der Entlassung des Ministerpräsidenten beschrieb ein hoher Kreml-Beamter Primakow nicht nur als »Mann von gestern«, sondern auch als »politische Gefahr": Jeder Tag, den er länger im Amt bleibe, schränke die »strategische Wahl Rußlands enger ein - auf ein Spektrum zwischen Sjuganow und Stalin«.

Als ein Strohmann der Roten war Primakow bereits vom Finanztycoon Boris Beresowski verdächtigt worden. Gegen den angeblich höchst spendablen Paten der Jelzin-Familie ermittelte mit Billigung des Premiers der Generalstaatsanwalt; wegen des Verdachts der Geldwäsche und illegaler Bereicherung erging sogar ein Haftbefehl. Den werde er nicht vollstrecken lassen, erklärte öffentlich Rußlands oberster Polizist - der Innenminister Stepaschin. Als der nun Primakow ersetzte, bejubelte Beresowski den »Zusammenbruch kommunistischer Revanchepolitik«.

So einfach machte es sich sonst nur noch der rechtsradikale Wladimir Schirinowski: Präsident Jelzin habe richtig gehandelt, schwadronierte der Politclown, nun müsse Zar Boris nur noch rasch die Duma auflösen, die KP verbieten sowie den Ausnahmezustand verhängen - und für diese Operation sei Polizist Stepaschin der rechte Mann.

Der Deputierte Wiktor Iljuchin, Chefankläger der KP im Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin, behauptete schon, er wisse von »fertigen Dekreten« für ein Verbot seiner Partei, die in »den nächsten Tagen in Kraft gesetzt« würden. Das KP-Präsidium rief Soldaten und Polizisten vorsorglich auf, »keine verbrecherischen Befehle zu befolgen, von wem auch immer sie erteilt werden«.

Bürgermeister Luschkow ermahnte seine Moskauer, »Ruhe zu bewahren, um staatlichen Gewaltstrukturen keinen Vorwand für weitere Zuspitzungen bis zum Notstand zu liefern«. Wird das Parlament aufgelöst, will er den Abgeordneten eine Notunterkunft beschaffen.

Nach einem von der Duma erfolgreich eingeleiteten Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin verbietet die russische Verfassung allerdings in Artikel 109 dem Präsidenten für drei Monate jede Parlamentsauflösung. Auf der anderen Seite braucht - schon am Mittwoch - Jelzins neuer Premier Stepaschin die Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit, nach dreimaliger Ablehnung des Kreml-Kandidaten müßte Jelzin die Duma laut Artikel 111 nach Hause schicken - ein unaufhebbarer Verfassungskonflikt.

Dann fällt die Verantwortung dem Verfassungsgericht zu, auf dessen politische Rücksichtnahme in Machtfragen Jelzin sich bislang stets verlassen konnte. Die Regierungskrise aber müßte sich zur offenen Konfrontation steigern. Schon schockt Jelzin mit der Beschwörung auswärtiger Gefahren, gar eines dritten Weltkriegs.

»Allem Anschein nach ist die Situation im Lande bereits nicht mehr danach zu regieren, sondern nur noch zu kommandieren«, schrieb die liberale Tageszeitung »Sewodnja«. Ein General an der Spitze der Exekutive, das bedeute »für sich genommen schon den Ausnahmezustand«. JÖRG R. METTKE, FRITJOF MEYER

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