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KATASTROPHEN Ein großer Bluff

Das vor Murmansk gesunkene Atom-U-Boot »Kursk« ist wieder daheim. In Moskau aufgetauchte Dokumente legen nahe: Russlands Flotte hat das Hightech-Schiff versehentlich selbst versenkt.
aus DER SPIEGEL 43/2001

Schrill heulten die Schiffssirenen durch die dünne Frostluft über den Kola-Fjord, als das niederländische Dockschiff »Giant 4« mit drei Knoten Fahrt die Schiffswerft von Rosljakowo ansteuerte - am Haken, unsichtbar, das russische Atom-U-Boot »Kursk«. Es war der 10. Oktober: 14 Monate nachdem es mit zerschmettertem Bug und 118 Mann an Bord im Schlamm der Barentssee versank, war das Wrack endlich daheim. Die Sirenen waren Totengruß und Siegesgeheul zugleich: Die geglückte Hebung des Havaristen, so die Hoffnung der Militärs, werde die Schande der Flotte vergessen machen, die im August vorigen Jahres im Manöver eines ihrer besten U-Boote verlor.

Nur: Kommt mit der Heimführung der »Kursk« auch die Wahrheit über deren Untergang ans Licht? Kurz vor der Ankunft des Konvois hatte Präsident Wladimir Putin angewiesen, als Erste ausschließlich Ermittler der Staatsanwaltschaft und Gerichtsmediziner auf das Totenschiff zu lassen - als misstraue er den Informationen aus dem Flottenstab.

Doch die Hoffnung, den Hergang der Katastrophe vor Murmansk aufklären zu können, ist selbst bei Russlands Fachleuten nicht sonderlich groß - weil mit dem abgetrennten Bug ausgerechnet der wichtigste Teil der »Kursk« am Unglücksort zurückblieb: jene Sektion, in der die Torpedos lagerten und deren Zerstörung wohl den Untergang auslöste. »Wir haben stets gesagt, wir brauchen das gesamte Boot«, zeigt sich Wiktor Schein enttäuscht, Generalmajor der Justiz und Ermittlungschef der Militärstaatsanwaltschaft.

Auch die Logik der Rettungsaktion hatten Spezialisten von Anfang an kritisiert. Die Behauptung von Flottenführung und Verteidigungsministerium, man müsse zuallererst die Leichen der Seeleute bergen und die Atomreaktoren sichern - und deswegen den Hauptkörper des Schiffs heben, sei ein großer Bluff. Damit solle die Aufmerksamkeit vom wichtigsten Beweismittel für den Hergang der Katastrophe abgelenkt werden - dem Bug der »Kursk«, sagt Vizeadmiral Jewgenij Tschernow, Ex-Kommandeur der 1. Flottille der Nordmeerflotte.

Der Militärführung, so Tschernow, war der Unfallhergang von Anfang an bekannt. Niemals sei es Ziel der von gewaltigem Propagandagedröhn begleiteten Bergungsaktion gewesen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, sondern das genaue Gegenteil - sie endgültig zu verschleiern.

Auffällig tatsächlich: Seit Ankunft der »Kursk« in Rosljakowo ist es mit der Glasnost vorbei. Das Pressezentrum in Murmansk ist geschlossen; Dock Nr. 50, in das der Havarist geschleppt werden wird, für unbefugte Augen abgedeckt. Von der Erforschung des Wracks wird es keine Bilder geben.

Noch weniger offenbar von der Hebung des Bugs der »Kursk«, die - angeblich - für nächstes Jahr vorgesehen ist. An dieser Aktion werden keine ausländischen Firmen mehr beteiligt sein, kündigte Russlands oberster Flottenkommandeur, Admiral Wladimir Kurojedow, dieser Tage überraschend an.

Bis dahin waren selbst russische Experten davon ausgegangen, dass auch für den entscheidenden Teil der Bergungsaktion westliche Hilfe unabdingbar ist. Mit dem Unternehmen »Smit International« hatte Moskau sogar schon Vorverhandlungen geführt, um niederländische Technik und Spezialisten für die Operation heranzuziehen. Jetzt teilte Kurojedow mit, die nötigen Geräte seien längst besorgt.

Sollte die U-Boot-Nase nächstes Jahr wirklich gehoben werden und das Verteidigungsministerium die Ergebnisse seiner Expertisen bekannt geben - eine verlässliche Aussage über die Unglücksursache bieten können sie nicht. Es gibt keine öffentliche Kontrolle mehr, und zu oft schon wurden Russlands Militärs beim Lügen ertappt. Man werde voraussichtlich nie »mit hundertprozentiger Sicherheit« die Gründe für den Untergang erfahren, baute Konteradmiral Walerij Dorogin, Mitglied der zuständigen Regierungskommission, letzte Woche vor.

Laut Kommissionschef und Vizepremier Ilja Klebanow habe die Explosion eines Torpedos im Bug der »Kursk« zur Tragödie geführt. Warum das Geschoss explodiert sei - das allerdings wisse man noch immer nicht.

Doch die Anzeichen mehren sich, dass das Boot mit seinen 118 Mann Besatzung auf ganz andere Weise auf den Meeresgrund geschickt wurde: durch eine Rakete, abgefeuert vom russischen Kreuzer »Pjotr Weliki« (Peter der Große). Die »Kursk« wurde demnach Opfer eines Manöverunfalls - so wie jüngst die Passagiermaschine der Fluggesellschaft »Sibir«, die von einer ukrainischen Rakete über dem Schwarzen Meer abgeschossen wurde.

Erste Gerüchte über diese Version waren bereits im September vorigen Jahres aufgetaucht, rund drei Wochen nach der Katastrophe. Sie stammten von Kapitän zur See Sergej Owtscharenko, der vom 2. bis 16. August 2000 auf dem Kreuzer »Peter der Große« stationiert gewesen ist. Owtscharenko berichtete, die Flottenführung habe am Unglückstag von Bord des Schiffes ein Probeschießen durchgeführt.

Bei der zweiten Salve mit drei Raketen hätte der letzte Schuss zu dem Unglück geführt: Die Rakete sei ins Wasser eingetaucht, so Owtscharenko. Kurz darauf habe sich ein Wasserpilz erhoben, fast wie nach einer kleinen Atomexplosion. Während die Raketenfachleute auf Deck aufgeregt herumgeschrien hätten, habe es eine zweite, mächtigere Explosion gegeben. Eine halbe Stunde später sei angeordnet worden, das Erprobungsquadrat zu verlassen.

Owtscharenko vermutete, man habe mit der Rakete versehentlich ein ausländisches Schiff getroffen. Erst als die Suche nach der »Kursk« begann, sei ihm der wahre Zusammenhang klar geworden.

Die Flottenführung dementierte und behauptete, einen Offizier namens Owtscharenko gebe es nicht. Indessen bestätigten mehrere Marineoffiziere, dass der Mann wirklich existiert. Andere Augenzeugen hatten die Militärs schnell aus der Schusslinie zu nehmen versucht: Wehrpflichtige, die zur fraglichen Zeit auf dem Kreuzer »Peter der Große« gedient hatten, wurden nach der Katastrophe vorzeitig entlassen und nach Hause geschickt.

Dem SPIEGEL liegen inzwischen Dokumente vor, die die Raketenversion bekräftigen. Demnach hat eine der Untersuchungskommissionen - die Gemeinsame Ermittlungsgruppe der Militärstaatsanwaltschaft sowie des Inlandsgeheimdienstes FSB - von Anfang an die Wahrscheinlichkeit eines Raketentreffers in Betracht gezogen. Zwar lässt sich die Echtheit der Papiere nicht vollends überprüfen. Doch dass die FSB-Kommission relativ unabhängig von der Flottenführung agiert, steht fest: Russlands Geheimdienst und die Militärs waren einander bereits in vielen kritischen Situationen spinnefeind.

In einem Schreiben an Russlands Staatschef Wladimir Putin, datiert vom 20. August 2000, teilt FSB-Oberstleutnant Alexander Bokowikow dem Oberkommandierenden mit: »Ich bringe Ihnen zur Kenntnis, dass die Gemeinsame Operative Ermittlungsgruppe von GWP (Hauptmilitärstaatsanwaltschaft - Red.) und FSB der RF (Russische Föderation - Red.) festgestellt hat, dass zu der mittels Messgeräten fixierten Zeit eine Rakete jenes Quadrat getroffen hat, das den Koordinaten des Ortes entspricht, an dem das APL (Atom-U-Boot - Red.) ,Kursk' aufgefunden wurde. Die Rakete wurde vom AR-PLK (Atomraketenabwehrkreuzer) ,Peter der Große' abgefeuert.«

Die »Pjotr Weliki« wurde erst 1998 in Dienst gestellt. An Bord hat sie über 700 Mann Besatzung, 20 »Granit«-Flügelraketen zur Bekämpfung großer Überwasserziele sowie 20 »Wasserfall«-Raketen zur Ausschaltung von U-Booten.

Die vom Kreuzer abgefeuerte Rakete könne ihr Zielprogramm geändert haben, vermutet Alexander Leskow, 62, der Kapitän auf mehreren russischen Atom-U-Booten gewesen ist und 1972 auf der »K-3« im Nordatlantik selbst einen schweren Brand miterlebte - damals kamen 39 Crew-Mitglieder um.

Raketenirrläufer habe es mehrfach gegeben, der bekannteste Fall stamme aus den achtziger Jahren und habe sich bei der sowjetischen Pazifikflotte ereignet, so Leskow. Damals seien ebenfalls während eines Manöver-Schießens Raketen abgefeuert worden - doch die Geschosse hätten plötzlich ihre Flugrichtung geändert und seien in einem Schiff eingeschlagen, auf dem sich Manöverbeobachter befanden.

Die These, eine Explosion an Bord der »Kursk« habe das U-Boot zum Sinken gebracht, schließen sowohl Leskow wie auch Vizeadmiral Tschernow aus, der immerhin 26 Jahre auf Atom-U-Booten gedient hat.

In keinem Logbuch der am Manöver beteiligten Schiffe seien die Explosionen fixiert, die angeblich in der Torpedokammer der »Kursk« stattgefunden hätten. Unmöglich, so Tschernow, dass die Wachhabenden Explosionen überhören, die einem Äquivalent von fünf Tonnen TNT entsprechen.

Schon voriges Jahr sei ihm klar gewesen, die »Kursk« müsse entweder von einem schweren Kreuzer wie dem ebenfalls beteiligten Manöverschiff »Admiral Nikolai Kusnezow« gerammt oder von einer Rakete getroffen worden sein.

Dazu passt auch die Aussage von Wiktor Roschkow. Der erste Kommandant der »Kursk« war von der Flottenführung als Experte vorgeladen worden, die Militärs zeigten ihm die geheimen Videoaufnahmen vom Grund der Barentssee. Roschkow erkannte auf den Bildern, dass Torpedokammern am Bug noch vorhanden und die Raketen des Bootes nach wie vor in ihren Schächten waren - im Fall einer Explosion an Bord hätten der Bug völlig zerfetzt sein und die Geschosse weit im Umkreis liegen müssen.

Wichtiger noch war Roschkows Entdeckung, dass die zerstörten Stahlplatten am Bug nach innen gebogen sind - deutliches Zeichen dafür, dass ein Gegenstand von außen in das Boot eingedrungen ist.

Freilich lenkten die Admirale den Verdacht auf ein fremdes U-Boot als Verursacher - ein britisches.

In jedem Fall erscheint logisch, was aus einem zweiten Dokument der Gemeinsamen Operativen Ermittlungsgruppe des inzwischen zum Oberst ernannten Alexander Bokowikow ersichtlich wird.

Das Papier mit der Codenummer Pi-983 ist an Präsident Putin gerichtet und hat folgenden Wortlaut:

»Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch! Ich bringe Ihnen den Plan notwendiger Maßnahmen zur Vorbereitung einer Serie von Experimenten zur Kenntnis, die die Materialien der Gemeinsamen Ermittlungsgruppe von GWP und FSB der RF präzisieren sollen, wonach eine vom ARK ,Peter der Große' abgeschossene Rakete das Planquadrat getroffen hat, in dem sich das APL ,Kursk' befand.«

Das Schreiben wurde kurz vor Hebung des Wracks in die Kreml-Kanzlei gereicht. Darüber steht mit dem Datum »10.09.2001": »Einverstanden. W. Putin.«

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