Drei Wochen lang marschierte er durch Karlsruhe, kerzengerade. Den Knirps trug er, so Regen drohte, wie einen Marschallstab. Ein kleiner Mann, der die Volks- und Mittelschule besucht, der die Rechtsanwaltsgehilfen -Prüfung bestanden hat; doch ein kleiner Mann mit Haltung. Er ging durch Karlsruhe, die »Residenz des Rechts«, als ein Gulliver im Land der Riesen. Denn über seinem Haupte fuchtelten Zyklopenfäuste mit der Menschenklatsche. Werner Pätsch, 39, war vor dem Dritten Strafsenat des Bundesgerichtshofs angeklagt: vor dem einzigen Strafgericht der Bundesrepublik, das in erster und letzter Instanz erkennt.
Vorsätzlich sollte Pätsch nach Meinung der Bundesanwaltschaft Staatsgeheimnisse preisgegeben und dadurch fahrlässig das Wohl der Bundesrepublik und wichtige öffentliche Interessen gefährdet haben. Höher ging's nicht, was den Gerichtsstand anging. Gewaltiger konnte die Anklage nicht zum Jagdhieb ausholen.
Das schmale Urteil, das schließlich am vergangenen Montag erging, ist bekannt: Vier Monate Gefängnis mit Bewährung wegen vorsätzlicher Verletzung der Amtsverschwiegenheit in einem Fall. »Im übrigen war auf Freispruch zu erkennen.«
Werner Patsch kann aus der Zeitgeschichte in seine private Existenz zurückkehren. Doch den »Freispruch im übrigen« durchsetzt die Gewährung des »Verbotsirrtums«. Ihn durchzieht, daß sich »in seinen
(Pätschs) Augen« Dinge falsch dargestellt haben sollen. Ihn markiert, daß »den Mängeln der Täterpersönlichkeit« Rechnung getragen wurde.
Wie bitte: War die SS-Crew im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nur ein Nebelstreif? Beruhte die Klage, es würden Telephongespräche wider das Grundgesetz, Artikel 10, abgehört und Post widerrechtlich geöffnet, auf einem Hör- und Sehfehler? Ist Werner Pätsch nur deshalb glimpflich davongekommen, weil milde Torheit ihn gefangen hielt?
Das Urteil über Werner Pätsch ist im Ergebnis gerecht. Doch in einiger Hinsicht reinigt es den Mohren, indem es die Nacht zum Tag erklärt. Es könnte den Eindruck erwecken, hier habe ein zwar gutwilliger, aber doch recht beschränkter Mann aufbegehrt. Und jene, die sich seines Aufbegehrens annahmen, seien ganz einfach in eine trübe Quelle hineingepatscht.
Noch einmal also, nicht ohne Gefühl für Staatsräson und wehrhafte Demokratie: Anfang 1963 geriet Pätsch, Sachbearbeiter in der Abteilung Spionageabwehr des BfV, in eine innere Krise. Die vom Amt geübte Praxis des Abhörens und Öffnens stand, so meinte er, nicht in Einklang mit dem Grundgesetz.
Pätsch schien es möglich, daß gewisse ehemalige SS-Männer im BfV sich heimlich und widerrechtlich betätigten. Diese Männer waren eh, beileibe nicht nur für Pätsch, eine Hypothek, die auf das Betriebsklima drückte. Und das Netzwerk ihrer Beziehungen im Amt schien Pätsch denn auch zu dicht, als daß er es mit einer Beschwerde über die Praxis des Abhörens und Öffnens auf dem Dienstweg durchdringen konnte.
So wandte sich Pätsch also an einen Anwalt, tauchte im Herbst 1963 zunächst unter und stellte sich schließlich der Bundesanwaltschaft.
Obwohl in dieser Zeit die SS- und die Abhör-Krise des BfV ohne Pätschs Zutun ausbrachen, wurde er zur Schlüsselfigur. Der Bundestag eröffnete Untersuchungen, der pensionierte Richter Silberstein wurde mit der Erstellung eines Berichts beauftragt.
Parlament und Silberstein-Bericht haben dem BfV keine grundgesetzwidrigen Praktiken beim Abhören und Öffnen nachgewiesen. Aus vielen Gründen. Zum ersten: Es würde das Letzte über die Qualifikation des Geheimdienstes, der Verfassungsschutz genannt wird, aussagen, wenn ihm Verstöße gegen das Grundgesetz nachgewiesen werden könnten. Zum zweiten: Es fehlte an (vernichtetem) Material, das zu einer kompletten Beurteilung erforderlich gewesen wäre.
Vor allem aber: Die Überprüfung des Abhörens und Öffnens durch das BfV hat die vergessene - oder verdrängte
- Tatsache wieder ans Licht gebracht,
daß die Verfassungsschützer im trauten Schatten der Abmachungen mit den Alliierten gar nicht zu einer Grundgesetzverletzung in der Lage sind, die ihnen nachgewiesen werden könnte.
1954 sicherten sich die drei westlichen Alliierten im Truppenvertrag das Recht deutsche Telephone abzuhören und deutsche Post zu öffnen, zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen. Dieses »Vorbehaltsrecht« sollte gelten, bis eine Einschränkung des Grundgesetzes, Artikel 10, vorlag.
Danach kamen dem BfV also Unterlagen aus dem Abhören und Öffnen zu, die ihm von den Alliierten als Produkt ihrer, vertraglich gesicherten, Tätigkeit übergeben wurden. Und danach konnte das BfV Fälle, »in denen es mit seinen Mitteln nicht weiterkam«, den Alliierten mit der Bitte übergeben, zu prüfen, ob hier nicht »möglicherweise« alliiertes Sielierheitsinteresse in Mitleidenschaft gezogen sei.
»Möglicherweise« - dieses Wort machte von vornherein die Anklage des Werner Pätsch gegen die Praktiken des BfV unbeweisbar. Doch gerade dieses Wort macht sie auch berechtigt.
Die Bundesanwaltschaft wollte im Prozeß gegen Werner Pätsch in Karlsruhe alles ausklammern: das Abhören und Öffnen, das illegale Staatsgeheimnis, die SS im BfV. Die Bundesanwaltschaft wünschte, einen »Wo kämen wir schließlich hin, wenn ...«-Prozeß zu führen. Wo kämen wir hin, so lautete die Fragestellung der Anklage, wenn jeder Beamte und Angestellte des Staates sich an Herrn Pätsch ein Beispiel nähme.
Bundesanwalt Wagner: »Wenn es Beamten gestattet wäre, unbestraft Amtsgeheimnisse ... an den Mann zu bringen und diese Offenbarung der Staatsgeheimnisse und diese Verletzung seiner Dienstpflicht blasphemisch (!) zu rechtfertigen mit Gewissensnot und der Verteidigung der Grundrechte, dann, muß man sagen, wäre die Folge ... eine Zerstörung ... auch der Staatsordnung, deren Erhaltung ja auch das Grundgesetz zum Ziele hat.«
Der Generalbundesanwalt Martin hat sympathischerweise während der Verhandlung gegen Pätsch deutlich werden lassen, daß er das Gespräch mit der Presse sucht; daß es ihm um besseres, gegenseitiges Verständnis zu tun ist. Dennoch muß gesagt werden, daß der Generalbundesanwalt sich ein wenig oft als der Barbarossa im Kyffhäuser des deutschen Rechts empfindet; daß er nicht eben selten meint, es gehe in einer bei seiner Behörde anhängigen Sache weniger um den Angeklagten und seine persönliche Schuld, als vielmehr um das höhere Problem, das sich gelegentlich des Angeklagten stellt.
Ein Glück nur, daß der Generalbundesanwalt der Neigung widerständen hat, in der Sache Pätsch persönlich die Anklage zu vertreten. Aus der Schlappe der Bundesanwaltschaft wäre eine Amtskatastrophe geworden. Denn abgesehen davon, daß der Dritte Strafsenat beträchtlich unter dem auf zwölf Monate lautenden Antrag der Anklage blieb: Schon die mündliche Urteilsbegründung machte deutlich, daß Gericht und Bundesanwaltschaft die Verhandlung gegen Pätsch als zwei völlig verschiedene Prozesse erlebt haben.
Über Pätsch war keine Entscheidung in der Retorte möglich. Ob, inwiefern und inwieweit er sich strafbar gemacht hat, konnte nicht beurteilt werden, ohne daß alles herangezogen wurde: die Praxis des Abhörens und Öffnens (zu der ja auch die im Silberstein -Bericht beanstandeten Mängel beim Umgang mit dem durch die Alliierten gewonnenen Material gehören), das illegale Staatsgeheimnis und die SS im BfV.
Das Urteil des Dritten Strafsenats ist sichtlich das Resultat eines harten Kampfes zwischen fünf roten Roben. Leider - denn der Dritte Strafsenat ist auch schon ohne Urteile, die sich durch ihren Kompromißgehalt auszeichnen, ein heikles Thema. Für alles, was in seine Zuständigkeit fällt, gibt es keine zweite Instanz. So ist er unter anderem also ausgerechnet für Hoch-, Verfassungs- und Landesverrat ein »point of no return«. Selbst (oder, je nachdem: gerade) die Bundesanwaltschaft beklagt das sicher gelegentlich.
So ausgehandelt, wie das Urteil über Pätsch wirkt, zwingt es erneut zur Kritik an der unangreifbaren Position des Dritten Strafsenats. Und es wirft einmal mehr die Frage auf, ob nicht am Bundesgerichtshof die Veröffentlichung einer »abweichenden Meinung« durch überstimmte Richter zulässig werden sollte. Die Möglichkeit, im Anschluß an das Urteil eine »abweichende Meinung« vorzutragen, könnte manches Urteil vor der Blessur des allzu offenbaren Kompromisses bewahren.
Der Senat hat sich in der Sache Pätsch dazu bekannt, daß eine Fülle von Gesichtspunkten zu erörtern war. Er hat also zu jedem Punkt etwas gesagt. Doch befriedigt keine seiner Antworten völlig. Das BfV hat, so der Senat, objektiv nicht gegen das Grundgesetz, Artikel 10, verstoßen. Gleichwohl war Pätsch nicht zu widerlegen, daß »in seinen Augen« das BfV in zahlreichen Fällen Abhörmaßnahmen ausgelöst hat, ohne die Alliierten in die Lage zu setzen zu der Prüfung, ob ihre Interessen wirklich berührt waren.
Der Senat hat sich von der Rechtsauffassung, nach welcher ein illegales Staatsgeheimnis niemals Staatsgeheimnis sein kann, abgesetzt. Doch hat er für das Verhalten des Staatsbürgers, der ein illegales Staatsgeheimnis entdeckt, keine unmißverständliche Regel aufgestellt. Der Verweis auf den Dienstweg, auf die mögliche Anrufung eines Abgeordneten dürfte kaum für alle Lebenslagen ausreichen. Auf dem »das Staatsgeheimnis« - also auch das Illegale - »am wenigsten gefährdenden Weg« soll der Staatsbürger seinen Klagegang eröffnen; wahrlich, ein delphisches Wort.
Pätsch zum Beispiel hatte, bevor er zum BfV stieß, einen schweren Verkehrsunfall erlitten, fast ein Jahr lang lag er schwer darnieder. Bundesanwalt Wagner: »Es könnte Unterlassung sein, daß der Angeklagte nicht auf seinen Geisteszustand untersucht worden ist.« Nun, auf dem »am wenigsten gefährdenden Weg« wäre Pätsch kaum an der Psychiatrie vorbeigekommen.
Der Mißstand der SS im BfV hat für den Dritten Strafsenat nicht den Rang eines »Verfassungsverstoßes« gehabt. Dennoch hat er anerkannt, daß die SS -Verfassungsschützer »nicht unbeachtliche, zum Teil bedeutende Stellungen in der NS-Zeit innehatten«. Andererseits hinwiederum habe sich der Angeklagte gerade in diesem Punkt, trotz »Vorwerfbarkeit eines Verbotsirrtums«, auf den Rat seines Anwalts verlassen und sei also möglicherweise überfordert gewesen bei der Entscheidung, wieweit er zur Aufdeckung der SS-Männer deren Stellung im Amt enttarnen durfte.
Werner Pätsch tritt von der Bühne der Zeitgeschichte ab, doch nicht als ein Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat und dem keiner etwas schuldig ist. Zu den Motiven, aus denen heraus er gegen die SS im BfV, gegen die Praktiken des Amtes beim Abhören und Öffnen antrat, hat auch das Gefühl ungerechter Behandlung durch seine Vorgesetzten gehört. Gewiß war auch. Eitelkeit im Spiel. Doch die muß sogar jedem amtierenden Politiker als ein in Grenzen zulässiger Antrieb zugestanden werden. Es ist heutzutage schon viel, wenn auch nur ein bißchen Gewissen dabei ist.
Eine gesetzliche Regelung, durch die das Grundgesetz, Artikel 10, seitens der Bundesrepublik in einer vertretbaren, kontrollierbaren Weise eingeschränkt wird, steht auch nach Pätsch noch immer aus. Freiheit wird nicht, um der Freiheit willen, mutig und offen beschränkt, sondern unter dem Mantel der großen Brüder heimlich abgemolken.
Der Abgang des Werner Pätsch ist nicht ohne Pointe. Seit dem 1. November war der Telephonanschluß in seiner Wohnung in Köln gestört. Als Pätsch am 9. November, frisch verurteilt, aus Karlsruhe zurückkehrte, summte und tickte es immer noch in der Leitung. Gelegentlich war ein rhythmisches Schleifen zu hören. Zeitweilig war die Leitung tot. Dabei darf sich indessen niemand etwas denken. Schlimmstenfalls sind ja die Alliierten immer dabei.
Verurteilter Pätsch vor dem BGH: Ticken in die Leitung
Generalbundesanwalt Martin
Ein Barbarossa des deutschen Rechts