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Rudolf Augstein EIN HELDENLEBEN

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 47/1970

Dies ist der Mann der großen Nachrufe. Sehr wenig Menschen haben 1945 wie 1965 eine überragende Rolle gespielt. Auch er zählte nicht zu ihnen. Die ihn einen großen Franzosen nennen, lassen hinter dem pompösen Wort ihre Verlegenheit ahnen. Das Frankreich, das er als groß und als dessen Verkörperung er sich selbst empfand, gibt es, seit Clemenceau, nicht mehr. Die europäischen Nationalstaaten Ludwig XIV., Napoleons und Gambettas wie auch Bismarcks gingen unter mit dem Dritten Reich. Frankreich 1970 stellt sich so dar, als wäre er nicht. Wer Karl Marx gelesen hat, weiß mehr davon als der Leser seiner Memoiren.

Er war nahezu gleichen Alters mit Hitler und Mussolini. Zeit seines Lebens verleugnete er nicht die große knäbische Gebärde der Zwischenkriegszeit. Aber Frankreich, das schon viele diktatorische Anwandlungen überstand und integrierte, hat ihn veredelt und gehindert, ein Diktator zu werden. Statt dessen hat er seiner Märchenprinzessin in kritischer Stunde einen Dienst erwiesen, dessen Wichtigkeit man so leicht nicht ermessen kann. Ohne ihn hätte Frankreich vielleicht einen Bürgerkrieg erlebt, so schwer es fallen mag, sich dergleichen in einem durchzivilisierten Land vorzustellen.

Er hat Frankreich von der Bürde seiner wichtigsten Kolonie befreit, aber natürlich hatte er seinen Koch bei sich; will sagen, auch ohne ihn wäre Algerien unabhängig. Nur, was als Ausgeburt seiner Selbstherrlichkeit erschien, als Abfallprodukt der algerischen Wirren, die neue französische Verfassung, sie funktioniert derzeit besser als die frühere. Verkennen sollte man freilich nicht, daß sie ihre Bewährungsprobe erst vor sich hat. Noch zehren seine Nachfolger vom mystischen Brei des Gaullismus, und ob die bürgerliche Mehrheit in sich immer einig genug sein wird, die proletarische Minderheit unterm Daumen zu halten, steht angesichts des institutionellen Gegensatzes zwischen dem Präsidenten der Republik und dem Premierminister der Parlamente nicht ganz fest. Mit zwei Pompidous rechts und einem Chaban-Delmas links mag die Masche sich nicht stricken lassen.

Von allen Mißverständnissen um seine Person ist dies eins der sonderbarsten: Er sei eigentlich ein »Revolutionär«, ein »Linker«. Nur weil er seine Kaste, die Generäle, und seine Protegés und Auftraggeber, die Besitzbürger, verachtet hat? Aber er hat doch die Menschen insgesamt verachtet. Er war, was immer er sonst war, gewiß das Aushängeschild der Bourgeoisie: eine Klassifizierung, die ihre Berechtigung in Frankreich noch keineswegs verloren hat.

In seiner auch medizinisch zu exemplifizierenden Realitätsferne hat er den Schein des Regierens immer mit dem Regieren gleichgesetzt; die Menschen des 20. Jahrhunderts, denen nichts Heiliges mehr blüht, schätzen solch schönen Schein. Er regierte, wie einer gesagt hat, mit dem Zepter in der einen, dem Reichsapfel in der anderen Hand, die Hermelinschleppe hinter sich.

Als Militärführer, als Insurgent und als politischer Chef hat er durchweg nach der Maxime »Die Etappe folgt nach« gehandelt. Aber die Etappe folgt nicht, man muß sie organisieren Man kann beispielsweise nicht nach Nordafrika übersetzen und von dort aus den militärischen Widerstand fortsetzen, wie er im Juni 1940 vorschlug, wenn man keine Transportschiffe hat. Und so erlebte die Welt das Schauspiel eines absoluten Monarchen, der im Mai 1968 durch die Weisheit der KPF gerettet werden mußte und der den Gewerkschaftsführern unter Druck nachgab, was ihnen ohne Druck niemals bewilligt worden wäre.

Es kann nicht sein, daß er diese äußerste Demütigung, schlimmer als alle ihm von den Engländern scheinbar zugefügten Übel, nicht verstanden, daß er sie »ver-wunden« hätte. Der Sprache der Macht, auch wenn er die Tatsachen leugnete, hat er sich ja immer gebeugt. Das gibt seinem Windmühlen-Kampf den Stich ins Komödiantische. Er hatte zu viele Ritterromane gelesen, das ist wahr. Aber sein Herz lachte doch, wenn er die phantastischen Aufnahmen des amerikanischen Geheimdienstes von den russischen Raketen auf Kuba sah.

Wie viele große Männer des Geschichtsbuches war er kleinlich und rachsüchtig. So paßt es nur ins Bild, daß er seinen Sancho Pansa fallenließ, nachdem der ihm die Parlamentswahlen des Jahres 1968 gewonnen und ihm aus der Patsche geholfen hatte. Die Gaullisten mögen zetern angesichts der Treulosigkeit des jetzigen Präsidenten; der Nicht-Gaullist kann nur feststellen, daß Pompidou sich richtig und wie ein geborener Politiker verhalten hat ("Frankreich ist Witwe«, hi, hi, hi, die große Gebärde kann Sancho nicht gelingen).

Er aber verzieh nicht, und er sann auf Rache an der ihn umgebenden Welt. Bei den gottgesandten Männern heißt das meist: Sie sinnen auf Untergang. Die Welt ist ihrer nicht würdig. Sie legen es auf die Kraftprobe an und ziehen sich zurück, wenn man Glück hat ohne Krieg.

Man weiß nicht, wem man den Vorzug geben soll, dem zähen Feilschen des alten Adenauer um noch ein Fitzelchen Macht, oder dem würdevollen Abgang ä la Racine. Erkennen, was ist, war seine große Stärke nicht, man mußte ihm wie einem Wurstel mit dem Kochlöffel eins draufhauen; eher erkannte er, was kommen würde, und am besten, was kommen sollte. Lateinische Klarheit? Kaum, viel keltisches Heldengeschlecht; Wirtschaft, Ossian!

Die beiden Alten zur Versöhnung aufgereiht, dem Fernsehen sei Dank, macht einen Anblick, der sogar Berufszynikern das Wasser in die Augen treibt. Sind Rheinländer Deutsche, und war Adenauer einer? Er aber, stammte er aus Lille, und war er Franzose? Jedenfalls haben diese beiden alten Gute-Macht-Füchse einander absichtsvoll mißverstanden (das mit der Aussöhnung ist solche Sache, beide Völker hatten ja weder Klauen noch Zähne mehr, aufeinander loszubeißen. Das ist, wie wenn Katholiken und Protestanten einig werden, Luther und Papst Leo X. zu Heiligen zu erklären).

Nein, Adenauer und er, das ist schon ein denkwürdigeres Mißverständnis. Adenauer empfiehlt ihn als großen Europäer, er seinerseits Adenauer als bedeutenden Nationalisten. Jeder sah im anderen verkörpert, was der nur contre coeur und gezwungen von den Umständen war; keiner wollte bei sich zu Hause sein, was der andere ihm lobend unterstellte; beide machten sich und uns was vor; beide haben mit ihrer Sicht vom anderen im Endergebnis recht: Ist das nicht schon ein Treppenwitz auf der höchsten Stufe?

Natürlich hatte er mehr von diesem Mißverständnis als Adenauer, einfach weil er in seinen Zusammenhängen immer noch mächtiger war, oder, wie er es ausdrückt, weil Frankreich sich seine »nationale Integrität und Reputation« erhalten hatte. Aber es verunehrt Adenauer nicht, daß er diesem Mann Stoff zu einem solch grandiosen Verwechslungsspiel hergab.

Weder das Europa des einen noch das des anderen, vielmehr ein drittes wird entstehen; und doch muß man zugeben, daß beide diesem dritten in verschiedener Richtung und auf verschiedenen Kutschböcken vorangeholfen haben.

Mauriac hat ihn den »größten Franzosen seit Napoleon« genannt. Welch ein Maßstab! Und welche Frage! Die Menschheit insgesamt ist die großen, gottgesandten Männer leid geworden und hat sich ihrer, wohl für immer, entledigt.

Der alte Mann, und erst er, wuchs in seine auf Überdimension angelegte Statur. Solch ein Begräbnis wird Europa, wenn es sich den Frieden erhält, nicht mehr erleben; aber Mao, den er nicht mehr besuchen konnte, wird mit seiner Leichenfeier alles Dagewesene in den Schatten stellen.

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