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Artikel 14 / 89

SPIEGEL Gespräch »Ein Helmut Schmidt schmeißt nicht hin«

Der Regierende Bürgermeister Hans-Jochen Vogel über die SPD in Berlin und Bonn
Von Paul Lersch
aus DER SPIEGEL 6/1981

SPIEGEL: Herr Regierender Bürgermeister, Sie haben alle Brücken hinter sich abgebrochen. Sie sind nicht mehr Justizminister und nicht mehr Bundestagsabgeordneter. Wollen Sie wirklich bis zum Ende der Legislaturperiode 1985 in Berlin bleiben, wie immer die Wahlen ausgehen?

VOGEL: Ich habe mich für die Stadt und für die Aufgabe hier entschieden. Das bedeutet, daß dies auch für die folgende Legislaturperiode gilt.

SPIEGEL: Obwohl in der Zwischenzeit Wahlen für Bonn stattfinden? Die könnten auch für Sie Bedeutung haben.

VOGEL: Das sind Spekulationen, die ohne mein Zutun stattgefunden haben und die ich zunächst mit Amüsement, dann mit wachsendem Verdruß verfolgt habe. Sie sind kein Grund, meine Aussage zu korrigieren.

SPIEGEL: Sie gelten als Mann des Kanzlers, als sein Nachfolgekandidat, und wollen in Berlin bleiben?

VOGEL: Die Frage ist nicht aktuell. Helmut Schmidt ist Kanzler. Wer darauf spekuliert, daß ein Helmut Schmidt hinschmeißt, weil die Situation schwierig erscheint, der kennt ihn nicht und irrt sich. Helmut Schmidt schmeißt nicht hin.

SPIEGEL: Bevor Sie hierher kamen, hieß es, Neuwahlen könne es erst geben, wenn der Parlamentarische Untersuchungsausschuß den Fall Garski durchleuchtet habe. Dann rief Ihr Koalitionspartner FDP den 17. Juni zum Wahltag aus. Nun wird am 10. Mai gewählt. Warum der Sinneswandel?

VOGEL: Ich hatte zunächst den Eindruck, daß die Opposition dem Fall Garski einen sehr hohen Stellenwert beimesse. Sie verlangte ja auch einen Untersuchungsausschuß. Hätte ich Neuwahlen ohne Rücksicht darauf gefordert, dann hätte man mit Fug behaupten können: Der will nicht, daß die Garski-Sache aufgeklärt wird, der will das mit Wahlen überrollen. Kaum war ich hier, erfuhr ich, nicht ohne Verwunderung, daß die Union selber die Wahlfrage ganz losgelöst von diesem Ausschuß behandelt.

SPIEGEL: Jetzt wird es keinen abschließenden Ausschußbericht geben, weil vorher Wahlen sind.

VOGEL: Den Vorwurf, man verhindere die Aufklärung, indem man stürmisch auf Wahlen zumarschiere, hat die Union selbst erledigt und ausgeräumt. Das ist bei uns kein Sinneswandel, sondern ein angemessenes Auseinandersetzen mit den Positionen der Opposition.

SPIEGEL: Tatsächlich hätten Sie sich dem Wunsch nach Neuwahlen doch ohnehin nicht entziehen können.

VOGEL: Das Hindernis, Wahlen so rasch als möglich anzuberaumen, ist entfallen. Daß erhebliche Teile der Bevölkerung dies ebenso sehen, kann ich gut verstehen.

SPIEGEL: Und Sie setzen sich an die Spitze des Zuges, weil Sie ihn doch nicht hätten aufhalten können.

VOGEL: Wenn die Opposition und die anderen Kräfte des Parlaments dieser Einsicht gefolgt sein sollten, werde ich deswegen nicht wieder abreisen.

SPIEGEL: Sie haben hier in Berlin zwei eigentlich unerfüllbare Aufgaben zu bewältigen: Die runtergekommene, gespaltene Berliner SPD soll wieder Ansehen gewinnen. Und in einer Stadt, abgeriegelt und unter Ausnahmerecht, warten brisante sozial- wie kommunalpolitische Probleme auf eine Lösung.

VOGEL: Wenn man sich Ihre Feststellungen und Bewertungen anhört, könnte meine Antwort mißverstanden werden, als akzeptiere ich Ihren Vorspann. S.23 Schweigen dazu bedeutet nicht, daß ich Ihre Einleitung akzeptiere.

SPIEGEL: Aber Sie widersprechen nicht.

VOGEL: Vorab: Manche Sozialdemokraten wurden in Berlin auch zu Unrecht und stellvertretend in Anspruch genommen, worüber sie sich allerdings als Politiker nicht beklagen dürfen und auch nicht beklagen. Zu Ihrer Frage: Es sind in der Tat zwei Aufgaben. Die eine ergibt sich sicherlich aus der geschichtlichen Entwicklung, aus der besonderen Situation Berlins. Die andere betrifft die kommunalen Probleme in großen Verdichtungsregionen. Es geht, das habe ich schon früher als amtierender Präsident des Deutschen Städtetages gesagt, oft um die Folgen von Überspitzungen, von Übertreibungen des ökonomischen Systems. Da muß man ansetzen.

SPIEGEL: Wie?

VOGEL: Man kann das Interesse für diese Stadt nicht nur gewinnen, indem man die kulturelle Vielfalt und andere positive Dinge herausstellt. Man muß auch ihre Probleme, die sich hier in der Tat wie in einem Brennglas bündeln, offen darlegen, zum Beispiel indem man sagt: Seht, wir stecken ein Stück tiefer in einer Entwicklung, die allen Metropolen zu schaffen macht. Wir setzen uns damit auseinander, wir suchen nach Lösungen, die auch helfen können.

SPIEGEL: Sie haben vor den Berliner Genossen für eine »Einheit von Reden, Verhalten und Handeln« plädiert und beklagt, daß einigen »das Gemeinwohl aus dem Blick« geraten sei. Diesen moralischen Appell haben jetzt alle beklatscht. Aber wie wollen Sie tatsächlich die Verhältnisse bessern?

VOGEL: Ich bitte, nicht so zu verallgemeinern. Die Partei hat hier 40 000 Mitglieder. Das, was gesagt werden mußte, bezog sich weiß Gott nicht auf diese 40 000 insgesamt. Der Kreis der Adressaten ist sicherlich viel kleiner. Wie man das ändern will? Ich kann Ihnen kein Patentrezept geben. Ich kann nur sagen, daß ich glaube, das eigene Beispiel ist wichtig.

SPIEGEL: Sie haben gerade neben Ihrem Amtszimmer ein Bett aufschlagen lassen.

VOGEL: Nein. Das ist nicht das Beispiel. Ich will nicht, daß alle Senatoren und Beamten jetzt in ihren Arbeitszimmern schlafen.

SPIEGEL: Das wäre ja auch nicht unbedingt neu.

VOGEL: Es muß ja nicht tagsüber sein. Wenn ich vom Beispiel rede, dann denke ich mehr daran, wie die Senatskandidaten Konrad Porzner, Reinhard Ueberhorst und Anke Brunn hierhergekommen sind. Ich will das jetzt nicht mit einer Gloriole versehen. Aber es ist der Versuch, die Einheit von Reden und Handeln deutlich zu machen, wenn man eben vor der Wahl -- und die war verdammt unsicher -- aus der Regierung ausscheidet und nicht nur sagt: Na gut, wenn -- dann.

Es gehört auch dazu, da Sie mich gefragt haben, daß man seine Frau bittet, hier eine Zweizimmerwohnung zu suchen, und zwar eine, die niemandem den Platz wegnimmt, sondern die auf dem freien Markt für einen stolzen Preis zu haben ist.

SPIEGEL: Wieviel zahlen Sie?

VOGEL: Ein Vielfaches von dem, was ich zu zahlen gewohnt bin. Aber ich muß deshalb ja nicht im Bettelgewand rumlaufen.

SPIEGEL: Sollen sich die neugewählten Senatoren hier um Wahlkreise bemühen? Gibt es dann nicht wieder Streit in der Parteihierarchie?

VOGEL: Wenn jemand ein Mandat gehabt und aufgegeben hat, um in Berlin seine Aufgabe erfüllen zu können, wenn er außerdem sagt, er stelle sich S.24 zur Wahl und wolle auch bleiben, dann gehört dazu, daß er in der Partei Wurzeln schlägt und bei genügendem Vertrauen aufgestellt wird. Ich meine, daß dafür in der Partei Verständnis vorhanden ist. Im übrigen liegt bei jeder Wahl der Prozentsatz derer, die nicht wieder kandidieren, nach meinen Erfahrungen zwischen 20 und 40 Prozent.

SPIEGEL: Und die Bereitschaft mißt sich danach, wie hoch der Anspruch auf Abgeordnetenpension ist.

VOGEL: Ich bestreite gar nicht, daß es solche Fälle gibt, und ich finde sie ärgerlich.

SPIEGEL: Wollen Sie selber Landesvorsitzender der Partei werden?

VOGEL: Nein. Ich sehe da zwar kein Dogma in der einen oder anderen Richtung; ich habe in München schon beide Alternativen praktiziert. Aber unter den gegebenen Umständen würde dies meine Zeit und Kraft überfordern.

SPIEGEL: Ihre Vorgänger Klaus Schütz und Dietrich Stobbe konnten Kontroversen zwischen den Partei-Lagern mit Hilfe der Flügelmänner Klaus Riebschläger, rechts, und Harry Ristock, links, beilegen. Nun zählt Riebschläger im politischen Leben nicht mehr; Ristock hofft auf den Parteivorsitz. Wie wollen Sie die SPD wieder zu einer Einheit verschmelzen?

VOGEL: Auch hier bedeutet Schweigen nicht Zustimmung zu Ihren Wertungen. Im übrigen kann das ein einzelner nicht leisten; da habe ich ja aus München schmerzliche Erfahrungen mitgebracht. Ein einzelner kann nur Akzente setzen. Mit etwas Geduld und Zähigkeit gibt es allmählich einen Weg. Hier in Berlin scheinen mir die Erschütterungen durch die letzten Ereignisse doch so tief gegangen zu sein, daß ich glaube, jeder wird nun mithelfen, gewisse Verkrustungen aufzubrechen, die nicht immer identisch sind mit inhaltlichen Divergenzen. Wenn der Wahlkampf in Gang kommt und viele, die mutlos geworden sind, sehen, es geht doch weiter und macht einen Sinn, dann könnte ich mir vorstellen, daß diese Rechts-Links-Schemata, von denen Sie gesprochen haben, nicht mehr gelten.

SPIEGEL: Sie müssen den Bürgern demonstrieren, daß wieder ein handlungsfähiger Koalitionssenat regiert. Zugleich aber müssen sich die Koalitionspartner im Wahlkampf profilieren.

VOGEL: Das Problem stellt sich jeder Koalitionsregierung. Wirtschaftssenator Brunner will als Freier Demokrat die Eigenbetriebe ganz oder teilweise privatisieren. Die Sozialdemokraten haben sich sofort dagegen ausgesprochen. Auch ich bin aufgrund meiner Erfahrungen für Eigenbetriebe. Für den Senat wäre das nur ein Problem, wenn die Frage zur Entscheidung anstünde.

SPIEGEL: In Ihrem gesamten Senat sitzen jetzt noch zwei Berliner. Müssen die Wähler sich nicht vorkommen, als seien sie von den Westdeutschen unter Besatzungsrecht gestellt?

VOGEL: Die Bürger werden nach näherer Besichtigung derer, die sich um ihr Vertrauen bewerben, abzuwägen haben und dabei vielleicht einiges entdecken, was ihnen recht gut gefällt. Im übrigen habe ich gehört, daß die CDU sich als »Partei der Berliner« betrachtet, aber auch Norbert Blüm und andere Politiker aus Bonn anwirbt. Ich finde das gut, nur eine »Partei der Berliner« ist das dann nicht. Außerdem geht es ja wohl um Parteinahme für Berlin.

SPIEGEL: Sie wollen das verlorengegangene Vertrauen zurückgewinnen, den Filz beseitigen. Werden Ihre Senatoren keine Aufsichtsratsmandate mehr übernehmen dürfen?

VOGEL: Die Aufsichtsratsmandate bringen ihren Trägern kaum materielle Vorteile. Wenn ich aber höre -- ich will niemandem zu nahe treten, es gibt Leute, die viel arbeiten --, daß jemand neben einem Hauptamt wirklich noch 15 oder 18 Aufsichtsratsmandate ausübt, dann möchte ich eigentlich mal erfahren, wie er zeitlich in der Lage ist, tatsächlich Aufsicht auszuüben.

Es gibt auch ganz andere Verflechtungen, die Probleme aufwerfen. Ein teilweise der Stadt gehörendes Unternehmen erbittet zum Beispiel einen Kredit bei einer Bank, die möglicherweise ganz im städtischen Eigentum steht. Die Bank macht die Gewährung abhängig von der Gewährung einer Bürgschaft, über deren Bewilligung die Stadt entscheidet. Hier braucht man eine Konstruktion, bei der trotzdem »Check and Balance« funktionieren.

SPIEGEL: In Berlin konzentrieren sich soziale und kommunalpolitische Sorgen. Jeder zehnte Bürger ist Ausländer, jeder fünfte Rentner. Es fehlen 60 000 Wohnungen. Es gibt eine Rekordzahl an Drogensüchtigen ...

VOGEL: ... das sind keine speziell Berliner Probleme. Wir müssen uns natürlich vor allem um die Jugendlichen kümmern, denn die Kernproblematik steckt in der jungen Generation, in der potentiellen Bereitschaft eines Teils der Jungen, Gewalt als Mittel des Protestes einzusetzen. Aber wir stehen in Berlin keineswegs einzig da mit dieser drückenden Last, die wir bewältigen müssen. Sehen sie zum Beispiel nach Zürich.

SPIEGEL: Das Unbewältigte scheint schon ziemlich einmalig.

VOGEL: Man muß es zunächst zur Kenntnis nehmen. Dann darf man nicht einfach mit den Achseln zucken, sondern muß geduldig und immer wieder mit der Bereitschaft, auch Rückschläge zu verarbeiten, ansetzen, etwa bei der Wohnungsversorgung.

SPIEGEL: Woran krankt die bisherige Wohnungspolitik in Berlin?

VOGEL: Ich bin außerstande, im gegenwärtigen Zeitpunkt darüber ein fertiges Urteil zu fällen. Ich kann nur ein paar Elemente nennen. Daß der Prozentsatz der alten Wohnungen hier höher ist als anderswo, die große Zahl der leerstehenden Wohnungen ebenfalls, hat zum Teil offenbar auch administrative Ursachen. Es liegt aber auch an unserem Bodenrecht, hängt mit der Umschichtung der Bevölkerung zusammen. Und bei der Sanierung geht es eben nicht nur um Baumasse, sondern auch um das soziale Geflecht der Menschen, die dahinter leben.

SPIEGEL: Ein großer Teil der Berliner Bürger darf sich an den Wahlen S.25 gar nicht beteiligen. Sollen die Ausländer in der Stadt Wahlrecht erhalten?

VOGEL: Wenn man mit dem Ausländer-Wahlrecht einen Versuch machen will, dann sollte man nicht gerade dort beginnen, wo der Anteil der Ausländer besonders hoch ist. Man sollte auch eher an eine EG-Lösung denken.

SPIEGEL: Der jeweils Regierende Bürgermeister von Berlin hat sich immer auch als Deutschlandpolitiker verstanden. Haben Sie Wünsche für die deutsch-deutsche Zukunft?

VOGEL: Hier gilt mehr als für die kommunalen Angelegenheiten, daß ich mich erst mit den Problemen vollständig vertraut machen muß, um mitreden zu können.

SPIEGEL: Berlin war früher mal ein Stück Weltpolitik. Ist es heute ein Stück Provinz?

VOGEL: Ein Stück Weltpolitik heißt auch, daß der Zustand der internationalen Politik immer Auswirkungen auf Berlin hat. Zwar haben wir nun ein Vertragswerk, das den Menschen das Leben leichter macht, aber trotzdem kommen die Dinge hier zur Probe: freier Zugang, freie Überquerung. Hier wird aus Buchstaben tägliches Leben. Das macht weniger Schlagzeilen, aber es beweist, daß zwei grundverschiedene Systeme doch Wege finden, das Leben erträglicher zu machen und einen Beitrag -- ich sage das mit aller Vorsicht -- zur Erhaltung des Friedens zu leisten.

SPIEGEL: Mußte deshalb ein Mann der ersten Garnitur nach Berlin? Wurde damit die politische Lage Berlins nicht künstlich dramatisiert?

VOGEL: Das kann ich nicht beurteilen. Nach dem, was ich in den letzten Wochen hörte, war die Berliner Situation schon besorgniserregend.

SPIEGEL: Zunächst gab es ja den Gedanken, Willy Brandt nach Berlin zu schicken. Hat die SPD-Führung eigentlich schlechte Nerven gehabt?

VOGEL: Das glaube ich nicht. Die Beratungen, an denen ich teilnahm, waren frei von Hektik. Ich meine, es ist das Notwendige geschehen.

SPIEGEL: Aber wieso mußte die Regierungsfähigkeit in Berlin zum Maßstab werden für die Regierungsfähigkeit der SPD in Bonn? Hätte man das nicht auseinanderhalten können?

VOGEL: Ich habe die Verklammerung dieser beiden Dinge in dieser Form nicht gesehen. Ich sehe es ein bißchen anders. Berlin ist eben keine beliebige Stadt. Die Behauptung, Berlin sei so wie München, ein bißchen größer, oder wie Hamburg, das ist wohl nicht wahr. Dafür ist Berlin für die Entspannungs- und Friedenspolitik viel zu wichtig. Außerdem ist es für Sozialdemokraten keine beliebige Stadt. Hier hat die SPD-Geschichte einen Ursprung, weil Ferdinand Lassalle von hier aus seinen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ins Leben gerufen hat. Da kann eine Partei nicht einfach kampflos abtreten mit der Devise: Nun müssen wir uns regenerieren.

SPIEGEL: Uns scheint in Berlin ein anderes Gefühl vorherrschend -- das Gefühl, ein Wechsel sei fällig.

VOGEL: Der Wunsch nach Wechsel ist in einer Demokratie immer legitim. Aber deswegen können wir doch nicht einfach abtreten. Wir stehen jetzt unter einer besonders hohen Anforderung, und wir wollen sehen, ob wir ihr gerecht werden. Das geht nur, wenn jetzt durch die Partei ein Ruck geht und ein Aufbruch stattfindet. Dann haben die Bürger mit ihrer Wut, die ich ja gar nicht leugnen will, etwas erreicht.

SPIEGEL: Herr Vogel, wie erklären Sie sich eigentlich dieses Klima der Verdrossenheit unter den Sozialdemokraten? Sie haben es doch vor Ihrem Abgang aus Bonn noch gespürt.

VOGEL: Ich habe es noch ein bißchen miterlebt. Ich glaube, ein ganz wesentlicher Grund ist der, daß wir Sozialdemokraten mit einer ziemlich hohen Erwartung in den Bundestagswahlkampf gingen. Das Parteiergebnis -nicht das von Helmut Schmidt -- blieb dahinter zurück. Das macht eine Partei nicht gerade froh. Das muß sie erst verarbeiten.

Zum zweiten muß diese Partei noch Methoden entwickeln, wie man miteinander umgeht: etwa, wenn die Partei weiterreichende Überlegungen anstellt und die Regierung sie nicht erfüllen kann, oder wenn die Regierung etwas tun muß, was die Partei lieber nicht getan hätte. Dann sollte die Partei nicht jedesmal der Regierung Verrat vorwerfen und nicht umgekehrt die Regierung alles, was bei der Partei in der Diskussion vorauseilt, schon als Affront ansehen.

SPIEGEL: Also darf die Partei diskutieren, aber nicht kritisieren?

VOGEL: Nein, das ist nicht der Punkt. Wenn jemand Sorge hat, soll er sie äußern. Er kann auch versuchen, eine Mehrheit für seine Meinung zu erhalten.

SPIEGEL: Mutet der Kanzler vielleicht der Partei zuviel zu? Es ist doch etwas dran an der Sorge Ihrer Parteifreunde, die Sozialdemokraten hätten zuwenig durchgesetzt in den Koalitionsverhandlungen.

VOGEL: Ich habe acht Jahre mit Helmut Schmidt zusammengearbeitet, eineinhalb Jahre als sein Ministerkollege, dann über sechs Jahre unter seinem Vorsitz als Bundeskanzler. Ich habe oft genug gefunden, daß sein Urteil sich auch da als zutreffend erwiesen hat, wo man zunächst zweifeln mochte. Deswegen hat Helmut Schmidt Anspruch auf Vertrauen, Anspruch auch auf Solidarität. Auch ein Kanzler hat diesen Anspruch, nicht nur diejenigen, die eine abweichende Meinung haben.

Nehmen Sie die Diskussion um Waffenexporte nach Chile oder Saudi-Arabien. Es ist für eine Partei nicht immer leicht, gefühlsmäßig verständliche Reaktionen zu trennen von rationalen Überlegungen, die auch ihr Gewicht haben. Ich habe noch in Bonn verfolgen können, daß der Bundeskanzler wegen der Chile-U-Boote eine Prüfung in die Wege geleitet hat, und, solange ich dort war, ist das letzte Wort in dieser Sache nicht gesprochen worden.

SPIEGEL: Herr Vogel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

S.22Mit Redakteuren Axel Jeschke und Paul Lersch.*

Axel Jeschke
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