Schon die Annäherung erschreckt. Ob vom Lande oder aus der Luft besehen - Berlin ist ein Monster, hingeplatscht in den märkischen Sand, wuchernd, gewaltig.
Ganz plötzlich ist die Stadt da, nach karger Tristesse von Heide, Seen und Wäldern auf einmal Hochhauswände an den Rändern, kein langes Vorweggestoppel von Tankstellen und Imbißstuben, Lagerhallen und Schrottplätzen.
Die kommen erst mittendrin - ein endloses Gewirr: Mietskasernenblöcke, Schrebergärten, Autobahnen, Kirchen, Fabriken, Seen, Schulen, Schrebergärten, Autobahnen, Wälder, Kanäle, Bahnhöfe, Parks, Kraftwerke, Shopping-Center. Alles gebettet in viel traurige Gegend.
Das ist die Metropole Berlin. Die alte und neue Hauptstadt der Deutschen. Wo soll man die Mitte suchen in diesem unüberschaubaren Gitterwerk von Straßen, die kilometerweit einfallslos rechtwinklig aufeinanderstoßen, um sich plötzlich wirr zu verklumpen zu kleinstädtischen Ortskernen, die fast alle ihre eigene »Berliner Straße« haben? Gibt es kein Zentrum? Wo ist ein Halt?
Das Klischee im Kopf fordert: Macht das Tor auf, aber das Brandenburger Tor ist abgestandene Symbolik. Der suchende Finger auf dem Plan verweilt einen Moment bei einer U-Bahn-Station: »Stadtmitte«. Das Auge entscheidet. Gebieterisch weist ein schlanker Riese zum betonierten Alexanderplatz: der Berliner Fernsehturm.
Lange Warteschlangen - während der Osterfeiertage überschwemmten 250 000 Touristen Berlin - zeigen an, daß den Besuchern der 1969 vollendete Turm längst als Wahrzeichen der ganzen Stadt gilt, mag er auch in Broschüren noch immer als »ein Beispiel für den Aufbauwillen und die Schöpferkraft der Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik« angepriesen werden.
Breit wuchtet er im Boden, steigt als runder Schaft nach oben, wächst und wächst, beult sich in 200 Metern Höhe zu einer siebenstöckigen Glas- und Stahlzwiebel und sticht darüber als Sendenadel noch triumphierender in die Berliner Luft, Luft, Luft, insgesamt 365 Meter hoch. Und unsichtbar von innen, aber weithin blitzend über beide Teile der Stadt, bricht sich die Sonne zu einem leuchtenden Lichtkreuz in den Stahlsegmenten der Kuppel.
Natürlich ist der Turm vor allem auch ein Denkmal des Kalten Krieges. Er war Walter Ulbrichts Hit im Schaufenster des Sozialismus, signalisierte Siegeswillen und Weltniveau seiner Arbeiter-und-Bauern-Hauptstadt. Und natürlich wollten die West-Berliner, deren Funkturm »Langer Lulatsch« mit 150 Metern gegen die »Protzplatte« am Alex plötzlich mickrig wirkte, einen noch höheren Turm in ihr Schaufenster der freien Welt stellen. Aber die Alliierten hintertrieben das, angeblich aus Gründen der Flugsicherheit.
Den Bürgern der DDR und Ost-Berlins war das Bauwerk aus anderen Gründen willkommen. Der Turm gestattete ihnen, den gelben Fleck im Berlin-Stadtplan, der die Westsektoren ausmerzte, wenigstens vage mit Straßen, Parks und Gebäuden zu füllen. Denn bei gutem Wetter reicht die Aussicht 40 Kilometer weit, tief in jenes Gebiet hinein, das direkt zu erkunden die Mauer bei Todesstrafe verbot. Und wenn er umfällt, sind wir sowieso gleich im Westen, witzelten sie.
Lag es also nicht nahe - nun, da die Mauer gefallen ist -, den Turm zum Symbol eines neuen himmelstürmenden Elans für das vereinigte Berlin umzufunktionieren?
Typische Phantasien von Ahnungslosen, Hirngespinste eines Zugereisten. Geschichte ist zäh in dieser schnellebigen Stadt, deren stürmische Entwicklung in einem einzigen Jahrhundert von einem biederen preußischen Provinzkaff nach Bonner Art und Größe zur Weltmetropole und wieder zurück zur Provinz führte. Noch immer stimmt zwar die Einschätzung Ernst Blochs, der 1932 Berlin als ein Gebilde beschrieb, »das immer nur wird und nie ist«. Zugleich aber scheint es massig in sich selbst zu verharren, so sehr es sich auch verändert.
Optisches Wahrzeichen der ganzen Stadt für Auswärtige mag der Fernsehturm deshalb sein. Aber getrennt wie Berlin derzeit noch immer ist, zerfallen in zwei Städte mit unterschiedlicher sozialer und kultureller Realität, bewohnt von Bürgern, die sich in mentalen Gettos voneinander isolieren, taugt er nicht zum Zeichen der Gemeinsamkeit. Er bleibt das Zentrum Ost-Berlins.
»Auf nach Wandlitz, schaut ihnen ins Antlitz« - am 4. November 1989, als der in den Kirchen, Kneipen und Wohnküchen am nahen Prenzlauer Berg brodelnde Aufruhr gegen das Regime sich in der längst legendären Großkundgebung auf dem Alexanderplatz entlud, wurden das »Cafe Größenwahn« und die Ausstellungsräume am Fuß des Turms zur Basis der Bürgerbewegung. »Bleib im Lande und wehre dich täglich« und »Vorschlag für den 1. Mai, die Führung zieht am Volk vorbei« - die Transparente, Parolen, Flugblätter und Aufrufe, die noch viele Wochen nach Honeckers Rücktritt dort ausgestellt blieben, besetzten den von der SED enteigneten Turm für das Volk von Ost-Berlin.
Der Geist des Aufruhrs, der von 1848 über 1918 und 1953 in Berlin eine verläßliche, wenn auch nicht gerade erfolgreiche Tradition hat, ist wieder in die Mietskasernenviertel zurückgezogen. Manche hängen trotzige Parolen an die wackligen Balkons: »Born in DDR«. Andere hocken in ihren Stammkneipen oder daheim und hadern mit der »Verwestlichung«, die über sie hereingebrochen ist. Als sei Ausgangssperre verhängt, so öde wirkte in den Wintermonaten der Ostteil der Stadt.
Selbst am sonst so quirligen alternativen Lebensbrunnen der früheren DDR, dem »Prenzelberg«, schien abends oft das Leben erfroren. Die Uhr am Kollwitz-Platz ist stehengeblieben, die Scheiben zersplittert. »Das gab es früher nicht«, erschrickt die Journalistin Jutta Voigt, die dort zu Hause ist, »das ist Agonie.«
Noch trostloser wirken die Straßen und Plätze in den Trabantenstädten Hohenschönhausen, Hellersdorf und Marzahn. Da, sagt der junge Galerist Jörg im neuen alternativen Zentrum »Tacheles«, sei sowieso nie Leben gewesen. Er ist dort aufgewachsen und früh geflohen. Aber jetzt, ergänzt sein Freund Peter, ein Maler, »wenn du auch noch ohne Arbeit bist, dann ist Marzahn dein Sargdeckel«.
Aufschwung? Freier Wettbewerb? Der scheint sich auf Imbißstuben und fliegende Händler zu beschränken. In Wahrheit brächten die oft herrisch auftretenden Brüder und Schwestern aus dem Westteil ihnen statt Aufbau vor allem Zerstörung; und ob es die schöpferische des Ökonomie-Theoretikers Joseph Alois Schumpeter ist, das ist den östlichen Brüdern ziemlich egal. So sehen es längst nicht mehr nur frühere Vereinigungsgegner, sondern inzwischen auch die meisten »Deutschland«-Schreier der ersten Stunde. Betriebe, Rundfunk- und Fernsehsender, Theater, die Humboldt-Universität, Polikliniken, Kneipen, ja sogar das beliebte Lotto - alles wird »abgewickelt« und plattgemacht. Die Selbstachtung der Ossis wird gleich mit abgeräumt.
Ist es ein Wunder, daß sie die Reste ihres Selbstwertes an die wenigen Schmuckstücke ihrer Stadt hängen? Das ist ein Vorgang, der oft intensiver empfunden als reflektiert wird, Worte für ihre neue Situation fehlen ihnen ohnehin. Aber wenn die Ossis, selten genug, vom Brandenburger Tor zum Alex hochbummeln, dann scheint in ihren Augen der Große Friedrich von seinem Denkmalssockel direkt zur Kuppel des Fernsehturms hinaufzutraben. Schon vorher hatten sie gereimt: »Alter Fritz, steig du hernieder und regiere Preußen wieder. Laß in diesen trüben Zeiten lieber uns'ren Erich reiten.«
Die liebevoll restaurierten historischen Bauten des preußischen Prachtzentrums von Berlin-Mitte verschmelzen mit dem symbolträchtigen Turm zum Nachweis von Fleiß, Leistung und Erfolg. Da können die Wessis ja mal sehen, daß sie - wie es grimmig Ost-Berlins Fernsehintendant Michael Albrecht ausdrückt - »nicht in Höhlen gelebt und Scheiße gefressen haben«.
Der Stolz der sich gedemütigt fühlenden Ost-Berliner gegenüber ihren West-Berliner Nachbarn mischt sich mit dem Lokalpatriotismus von historisch legitimierten Hauptstädtern, die nun auf einmal mit einem Provisorium am Rhein konkurrieren sollen. Noch zu Honeckers Regierungszeiten beteuert der damals vom Regime getriezte Schriftsteller Lutz Rathenow fast enthusiastisch: »Dieser Ort entfacht Energien.«
Ausdrücklich reizt ihn Berlin als »konzentrierter Ausdruck des Staates«, beginnt er von der »Präsenz der Macht samt ihres Inventars« zu schwärmen. Und keinen Satz hat die FDP-Vorsitzende Carola von Braun in den letzten Monaten häufiger gehört als das Kleist-Zitat: »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!«
Klingt das nicht nach Bismarcks »Blut und Eisen«? Schnarrt da etwa der bramarbasierende Wilhelminismus? Stampft da nicht im Hintergrund schon wieder der Marschtritt brauner Kolonnen? Läutet da noch immer die Stahlglocke des stalinistischen Zentralismus?
Man kann Berlin-Mitte vom Fernsehturm aus so sehen: Als balle sich hier sozialistisches und preußisches Staatspathos, das die DDR-Machthaber in den letzten Jahren auf eine oft absurde Weise zu verschmelzen getrachtet hatten, zu einer gravitätischen Herrschergeste. Winzig klein davor die Menschen.
Dieses Bild bleibt auch dann bedrohlich genug, wenn man vergebens nach Relikten Nazi-Deutschlands Ausschau hält. Hakenkreuzfahnen kann sich die Erinnerung schnell ins Brandenburger Tor hängen.
Von unten betrachtet hat der preußische Nachlaß etwas anrührend Museales. Preußens Protz und Gloria, wie Rathenow spottet? Vom Brandenburger Tor bis zum Wilhelminischen Dom, von der strengen Geometrie des Platzes der Akademie mit den goldblinkenden Kuppeln des Deutschen und des Französischen Doms und Schinkels klassizistischem Schauspielhaus-Tempel bis zum Spalier der wiederhergerichteten Palais am früheren Prachtboulevard Unter den Linden - bei allem historischen Respekt, das ist mehr Gruft als Kraft.
Muß man nicht ein Hirn haben, das selbst im Marschtakt tickt, um dies noch gefährlich finden zu können? Schon zu Zeiten, als noch Volksarmisten im Stechschritt vor Schinkels Neuer Wache aufzogen, fanden die meisten Zuschauer, junge vor allem, das eher belustigend als furchteinflößend. Wieviel mehr gilt das heute, da die einst einschüchternd leblosen und abgeschirmten Behälter sozialistischer Gewalt wie leergelaufen wirken. Hat das Regime seine Terror-Präsenz nicht sehr viel mehr durch sichtbar verborgene Kameras, verhängte Limousinen und maskenstarre Funktionäre und Aufpasser erzeugt denn durch den hohlen Bombast seiner Fassaden und Plätze? Daß Honeckers Volkspalast, anmaßend auf die Ruinen des Hohenzollernschlosses gebaut, bei Draufsicht den Charme einer teerpappengedeckten Lagerhalle ausstrahlt, mindert die Macht-Aura beträchtlich.
Überhaupt entpuppt sich aus der Vogelperspektive das Herrschaftsviertel von Berlin-Mitte als eine winzige patinagrün betupfte Insel im fahlen Meer der Stadt, das nicht einmal auf dieses Zentrum zubrandet. Von Nord bis Süd, weit in den Westteil der Stadt hinein, vor allem aber im Osten sprengen mächtige Industriekomplexe, Fabriken, Hafenbecken und Lagerhallen die diffuse Gleichförmigkeit der grauen Wohnviertel.
»Dies ist noch immer eine Arbeiterstadt«, sagt CDU-Senator Peter Radunski, der selbst aus einer Arbeiterfamilie stammt, »die Masse ist da, auch wenn man sie nicht sieht.«
Hat sie sich vor dem neuen Lichterrummel verkrochen, der Plakatschwemme, dem lärmenden Werbegeschrei, das aus dem Westen in ihre vergammelten Quartiere dringt?
Zunächst hatten nur so empfindsame Gemüter wie die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley die Reklameschilder der westlichen Zigarettenkonzerne im vertrauten Kiez als »Kriegserklärung« begriffen. Andere dachten, irgendwie würden die schon wieder verschwinden wie früher die Parolen zum 1. Mai. Inzwischen aber fühlen sich immer mehr Ost-Berliner von der westlichen Lichterflut abgestoßen: zu grell, zu bunt, zu künstlich.
Auf dem Fernsehturm sind sie davor sicher - noch. Kein Neonlicht flackert herauf, keine Leuchtreklame knallt ihre Botschaft in den dunstigen Frühjahrshimmel. Bertolt Brecht wäre entzückt, dem jede Farbe recht war für seine Bühnenbilder, »solange sie grau ist«.
Auch der Dramatiker Heiner Müller genießt die schimmelnde Farblosigkeit. Berlin mag er, weil es immer eine graue Stadt war. Gerade darin liegt für ihn der Reiz ihrer besonderen Vielfalt. Doppelbotschaften, Widersprüche - sie sind das Verläßlichste an Berlin. Gewaltig und verängstigt wirkt diese Stadt, hart und sentimental, spießig und weltoffen, bedrohlich und witzig. Aus dem Grauschleier schieben sich weitere Gegensätze: vorn eine Erinnerung an Spree-Athen, hinten eine Ahnung von Moskau; bloß Bonn ist ziemlich fern. Und drumherum jenes wild wuchernde ordentliche Chaos, das Walther Rathenau schon 1920 Spree-Chicago nannte.
Dessen Zentrum ist auch zu sehen, weit im Westen, hinter den Bäumen des Tiergartens. Eher die Erinnerung als der Blick gibt auf diese Entfernung dem markanten Bauwerk Konturen, das verschwimmt neben der wuchtigen Hochhaus-Silhouette des Europa-Centers. Aber unverkennbar ist er doch, der stumpfe Ruinenturm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg.
Auf die schwülstige, von allegorischem Gekröse überwucherte »spätromantische Zentralanlage« mit einem Haupt- und vielen Nebentürmen, die Wilhelm Zwo am Ende des zum Luxusboulevard sich mausernden Kurfürstendamms 1891 bis 1895 erbauen ließ, konzentrierte sich von Anbeginn der ästhetische Abscheu der kulturellen und intellektuellen Elite Berlins. Ach, »wenn diese Kathedrale mit dem langen Namen wenigstens ein bißchen altern und zerfallen wollte«, stöhnte der empfindsame Essayist Franz Hessel 1929, als er einen Fremdenführer das Bauwerk als eine der schönsten Kirchen Deutschlands rühmen hörte. Aber nein - »da steht sie nun im Gerassel und Gedröhn preußisch unerschüttert und macht Augen rechts noch vor dem lieben Gott«.
Es sollte nur noch 14 Jahre dauern, bis die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Bombenhagel und Feuersturm über Nacht wie um Jahrhunderte alterte und ein bißchen arg zerfiel. Der jüdische Berliner Franz Hessel, von den Nazis nach Frankreich in die Emigration getrieben und dort 1941 gestorben, erlebte nicht mehr, wie märchenhaft seine Wünsche in Erfüllung gingen. Nicht nur der Zerfall, auch der von ihm imaginierte Aufstieg der Kirche zum »Torso der Träume« von Generationen wurde wahr.
Denn heute, noch einmal knapp 50 Jahre später, tost der wilde Rundverkehr der Autos, Busse und Menschenmassen noch immer, wie in Hessels Schilderung, um das preußische Gemäuer. Aber jetzt ähnelt der Bau tatsächlich der von ihm ersehnten »echten alten Kirche«, von deren »Ruinensteinen« das Echo des »Broadway's von Berlin-Charlottenburg mit seinen Cafes, Kinos, Leuchtbuchstaben und Wandschriften« zurückprallt. So hatte es sich der leidenschaftliche Berliner Hessel gewünscht, um diesem Ort »ein Herz, eine Mitte, eine Resonanz« zu geben.
In einer neuen, von Egon Eiermann 1961 gestalteten Kombination aus ausgekohltem Sandstein-Turmstumpf und zwei sechs- und achteckigen Betonzylindern ist die Gedächtniskirche zum Symbol geworden für das westliche Nachkriegs-Berlin. Sie ist die Hauptattraktion im Schaufenster der freien Welt, steht für die Stadt, die sich hochrappelte aus dem Schutt ihrer Vergangenheit, die dem Kommunismus und dessen Blockade-Versuch trotzte und die nun vorgibt, als Kulturmetropole Europas an große Zeiten anzuknüpfen.
Den neuen Berliner Kultursenator Ulrich Roloff-Momin »macht dieser Anblick an«, wie er gesteht. Vor den Fenstern seines Arbeitszimmers im Europa-Center ragt der mahnende Torso in ein Berlin-Panorama hinein, wie es Millionen Menschen aus aller Welt von Postkarten und Fernsehbildern kennen.
Und wenn nachts aus den Betongitterwaben des Kirchenneubaus heraus blauviolett die Fenster zu leuchten beginnen, wenn die Kinoreklamen herüberflammen und wild die Neonbuchstaben von den Fassaden und auf den Dächern des Kurfürstendamms erglühen, dann weiß der graubärtige Kulturmanager, unverkennbar ein Alt-68er: »Diese Stadt ist reines Adrenalin.«
Es ist nicht so sehr die amerikanisch gestylte Success-Story der Nachkriegszeit, die den eher der alternativen Szene zuneigenden Roloff-Momin zu Sprüchen beflügelt wie: »Wir müssen hier eine Rakete zünden, die national und international unübersehbar ist.« Es ist auch nicht ein Nachhall jener wilden Jahre von 1968 und später, als Studenten und Anarchos ihre Wut über die träge Konsumgesellschaft auf den Ku'damm trugen. Es ist die Legende der goldenen zwanziger Jahre, in denen Berlin zum dynamischen und extravaganten Kultur-Mittelpunkt der Welt wurde, die den Senator neun Stockwerke über dem einstigen Romanischen Cafe verbal auflädt.
Gewiß, er weiß, daß sich das Berlin von heute zu damals verhält »wie eine schwach sich kräuselnde See zu einer Sturmflut«. Aber Worte wie Kunsthauptstadt, Sog und Taumel, Menschenmassen und Weltmetropole liegen in dieser Zone verdichteter Wirklichkeit offenbar in der Luft.
Tatsächlich ist es, als ob die Geschichte in der Konsum- und Amüsierkulisse von Tauentzienstraße und Kurfürstendamm mit Tempo und Lärm auf der Stelle trete. »Scheinen manche Straßenzüge für die Ewigkeit geschaffen zu sein, so ist der heutige Kurfürstendamm die Verkörperung der leer dahinfließenden Zeit, in der nichts zu dauern vermag«, schrieb der Soziologe Siegfried Kracauer schon 1932.
Nur eben die Verkörperung selbst vermag zu dauern. Die Beobachtungen und Eindrücke, die vor sechs bis sieben Jahrzehnten die Stammgäste des Romanischen Cafes zu Papier brachten, beschreiben mit verblüffender Treffsicherheit auch die Atmosphäre der Flaniermeile von heute.
Oder gibt es Alfred Polgars besonderes Ku'damm-Klima, »das den Kreislauf des Geldes beschleunigt und die Erwerbsdrüsen sowie auch die Sinnlichkeit kräftig anregt«, nicht mehr? Funkelt der Boulevard nicht heute noch »wie ein falscher Brillant«, wie der britische Schriftsteller Christopher Isherwood einst empfand? Ist er nun etwas anderes als des Expressionisten Richard Hülsenbecks »prachtvoller Irrwitz von Lichtern, Motoren, Dynamos und Betonklötzen«? Die Titel mögen sich geändert haben, aber Hülsenbecks »großartige Mischung von Dieben, Kommerzienräten, Diplomaten, Hausbesitzern und Schrebergartenanwärtern ohne eigentliche Tradition« schiebt sich noch immer an den Cafes vorbei.
Keine Atmosphäre zwischen den Gesichtern, sämtliche Konturen von einer Härte, die unduldsam ist. Armut und Reichtum, Unschuld und Laster verkörpern sich auf dem Kurfürstendamm und ziehen grün oder rot beleuchtet, zwischen Laubfolien und Restaurationsgärten dahin. Berlin, Ostern 1991, beschrieben von Siegfried Kracauer im Sommer 1931.
Hier stellt das Leben ein nimmer endendes Feuilleton nach. Keine Vokabel, die über diese Atmosphäre nicht dutzendfach geschrieben worden wäre, keine Stimmung, die nicht einer längst zu Papier gebracht hätte: schrill und welk, übersteigert und müde, leer und hektisch, kalt und protzig.
»Es ist noch genau wie damals, es gibt nur ein paar Verrücktheiten mehr«, schwärmt die Altkommunistin Lina M. in ihrem stillen Zimmer in Pankow. Von Neukölln aus war sie Anfang der dreißiger Jahre als junges Mädchen mit ihren Freundinnen auf den Ku'damm bummeln gegangen, hatte Josephine Baker tanzen sehen und genossen, wie im »Zigeunerkeller« die Pußtasöhne vor ihr auf dem Tisch den Csardas fiedelten, hatte sehnsuchtsvoll bei »Horn« in die teuren Schaufenster gestarrt. Nun ist sie, inzwischen 75, erstmals seit Öffnung der Mauer wieder »drüben« gewesen und begeistert ihrer Jugenderinnerung wiederbegegnet.
Allerdings - so elegant wie früher sei es nicht mehr: »Das Straßenbild war gewöhnlicher.« Die Damen mit den teuren Pelzen fehlten der Genossin, die Kavaliere mit Schirm und Charme. Statt dessen flaniert man jetzt über den Luxusboulevard »in diesen Jeans«. Die alte Dame bemerkt es mit Abscheu.
Recht hat sie - der wahre falsche Glanz von einst fehlt. Was so aussieht, ist Kostümierung. Berlin trägt am Kurfürstendamm und um die Gedächtniskirche herum besonders schamlos die Kleider seiner glanzvollen Vergangenheit auf. Weder ist die »Morbidität« echt, Roloff-Momin vermerkt es mit bedauernder Genugtuung, noch stimmt der vorgebliche Zwanziger-Jahre-Elan, mit dem in jüngster Vergangenheit Berlin-Festivals, Kultur-Happenings und Kunst-Feuerwerke inszeniert wurden. »Das Nichts schimmert durch«, auch eines jener immer treffenden Berlin-Klischees zwischen viel Wehleidigkeit und ein bißchen Verzweiflung.
Die freilich, mag sie auch lustvoll inszeniert werden, ist echt. Denn auch in den Bistros, Bars und Kneipen um den Ku'damm herum, bis hinein in die alt- und pseudolinken Schicki-Lokale um den Savignyplatz hat sich Angst eingenistet, die Angst vor der »Verostung«.
Wie an den Aldi-Kassen in Neukölln und in den Büroetagen in Reinickendorf geht auch in den Galerien von Charlottenburg und in den Kanzleien von Wilmersdorf die Furcht um, auf den Lebensstandard und die proletarischen Umgangsformen der sozialistischen Brüder und Schwestern aus Hellersdorf und Friedrichshain abzusinken.
»Wir drohen doch im Osten zu ertrinken«, fürchtet sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Otto Schily, »die Grünen sind überall. In den Berlin-Fliegern, in den Kaufhäusern, in der ersten Reihe am kalten Buffet.«
Wie ein Schock sitzt in den Wessis die Erinnerung an Scharen von befremdlich grauen Figuren, die in den Wochen nach der Maueröffnung durch ihre Straßen gezogen waren - plebejisch, ungeniert berlinernd.
Nun kommen sie seltener. Aber die Sorge mindert das nicht. Wirken sie nicht noch immer linkisch, eckig und mißtrauisch? So zimperlich wie vor einem Jahr sind sie nicht mehr, im Gegenteil. In der Feinmechanikerwerkstatt Berlin fuchteln sie zum Schrecken der Einheimischen mit dem Hammer herum. »Sie lassen die Sau raus«, beobachtet der Schriftsteller Jurek Becker.
Und das drückt auch im Westen die Stimmung, paßt sie der im Osten an. Becker: »Es ist wie nach einem Fußballspiel, bei dem die falsche Mannschaft gewonnen hat.«
Längst sind bei den Wessis die Urteile über die östlichen Stadtnachbarn zu Klischees geronnen. Oft durch keine eigene Erfahrung mehr gedeckt, jammern sie sich ihre Horrorstorys vor: Sind es nicht die Ossis, die alle Parkplätze überquellen lassen? Haben die sich nicht anfangs sogar in den schicken »In«-Kneipen vor die Stamm-Yuppies an die Theken gedrängelt? Freuen sie sich nicht sogar, wenn ihre Trabis am Kranzlereck Staus produzieren und sie selbst durch Massenandrang bei Hertie die Rolltreppe lahmlegen?
Katerstimmung und Gemaule. Viele wollen plötzlich weg von Berlin. So haben sie sich das nicht vorgestellt, daß »die da drüben« echtes Elend hineintragen in ihre schicken Remakes der goldenen Zwanziger. Wird der Ku'damm nicht schon ärmlicher, der Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche verwahrloster? Bild heult Voralarm: »Im Herzen der Stadt spüren die Menschen Ekel, Abscheu und Angst.«
Im Herzen der Stadt?
Gewiß, auf dem Papier sind die 3,4 Millionen Menschen in der weitläufigen Stadtlandschaft an der Spree, die sich 45 Kilometer von Ost nach West und 38 Kilometer von Nord nach Süd erstreckt, wieder vereinigt. Seit Oktober 1990 werden sie zentral verwaltet und regiert. Und wie Bild neigt auch die Presse im Ostteil Berlins dazu, die ganze Stadt als eine bloße Vervollständigung ihrer eigenen Hälfte zu betrachten.
Aber zwischen Berlin-West, 2 134 051 Einwohner auf 480 Quadratkilometern, und Berlin-Ost, 1 279 212 Menschen auf 403 Quadratkilometern, stehen nicht nur 40 Jahre der sozialen, politischen und technischen Entfremdung. Dazwischen liegt auch noch immer jene Zone längst alltäglich gewordener Verlassenheit, auf der noch vor einem Jahr die Mauer wuchtete.
Eine Schneise Brachland zieht sich in bizarren Verwinklungen durch »die beiden Städte Berlin«, wie der Dichter Uwe Johnson schon 1959 die auseinanderdriftende Großgemeinde nannte. Mal ist sie, einer Straße folgend, schmal und kaum noch sichtbar, mal weitet sie sich zu kleinstadtgroßen Wüsteneien. Die befremdlichste dieser Stadtwunden, die versteppte Schotterfläche zwischen dem ehemaligen Potsdamer Platz und dem Brandenburger Tor, klafft fast genau auf halbem Wege zwischen dem Fernsehturm am Alexanderplatz und der Gedächtniskirche am Kurfürstendamm, den symbolischen Zentren von Ost und West. Weit streckt sich karges Nichts - eine Mondlandschaft, Tabula rasa.
Autos huschen quer durch die Leere, als glitten sie durchs Death Valley. Ihr Motorengeräusch versackt in wattiger Stille. Eine Magnetbahn schwingt auf stählernen Stelzen um die Ödnis herum und spielt eine überholte Zukunft vor; ihr Abriß steht auf dem Fahrplan. Treppen, deren Zugänge vergittert sind, führen zu U-Bahn-Schächten, die vermauert sind. Zeitstillstand. Hier ist die tote Mitte der deutschen Hauptstadt Berlin, der wirklich zentrale Bereich der Millionen-Metropole im Herzen Europas. 17 Monate nach Öffnung der Mauer: noch immer Niemandsland.
Ein ausgebrannter Grill-Lieferwagen, die Türen weit geöffnet, verrottet mitten im Gelände. »Original Berliner Riesengrillwurst 3,50« bietet ein knallgelbes Schild an, das vor dem Wrack in den Dreck getreten ist. Auf der Motorhaube höhnt ein Aufkleber: »Ja zu Bonn.«
Junge Hasen schlagen Haken um weggeworfene Bierdosen. Moos und dürres Gras wuchert über tonnenschwere Betonbrocken, Ziegelsteine, Schotter und Plastikbahnen. Nein, »Mutter Erde«, wie eine schwärmerische junge Berlinerin säuselt, ist das nicht, worüber ein paar Schuljungen dahinstolpern. Dies ist Trümmerland.
Hunderte von rostigen Baudrähten wachsen aus dem Boden, an denen kleine Papierfähnchen im Wind wispern. Ist das noch Ruine? Oder schon Kunst? »Immer wieder«, steht auf einem Fähnchen, »Gericht« auf einem anderen, »lobesam« und »Befehl«, »Monat Mai« und »Stärke«. Stimmen der Erinnerung?
Die Zukunft lärmt lauter.
Für die Planer und Macher, die Architekten, Spekulanten und Bauherren der Zukunft ist dieses Stück Wildnis im Zentrum der wiedervereinigten Weltstadt ein atemberaubender Glücksfall.
»Unerhörtes« stehe bevor, prophezeit der sonst sanft redende Stadtplanungssenator Volker Hassemer. Aus aller Welt strömten die Investoren in die Hauptstadt der Zukunft. »Wir erleben einen beispiellosen Run.« Allein in Sachen Potsdamer Platz hätten an seinem Tisch »acht Milliarden« gesessen - neben den Herren von Daimler, die für einen Spottpreis bereits 60 000 Quadratmeter Baugrund vom Senat zugeschanzt bekamen, auch die Abgesandten von Sony und Hertie. Schon sieht Hassemer »so was wie ein Apollo-Projekt« für Berlin heraufdämmern, »eine neue Gründerzeit«.
Um 1,2 bis 1,4 Millionen Einwohner und um 1,8 Millionen Autos werde Berlin in den nächsten 20 Jahren wachsen, behaupten Wachstumsprognosen. Das bedeutet Bedarf an mindestens 800 000 zusätzlichen Wohnungen und neuen Büro- und Produktionsflächen von mehr als 22,5 Millionen Quadratmetern. Da darf man einfach »nicht rumwuseln in der betulichen Art unserer beiden Stadthälften«, macht sich der Senator Mut, da ist nicht weniger gefragt »als der völlige Neubau Berlins«.
Und hier, genau auf diesem unwirklichen Platz, für dessen morbide Poesie der Senator keineswegs unempfänglich ist, soll er beginnen. Hassemer: »Radikalität ist ein Teil der Aufgabe. Wir haben eine radikale Situation.«
Man ahnt, wie bald ringsherum bizarre Wolkenkratzer emporwachsen, monumentale Bürohaustürme, megalomanische Betonblöcke, ein Spree-Manhattan aus Beton, Glas und Stahl, neonlichtdurchpulst, bunt, grell, laut und gigantisch.
In Fachblättern und Magazinen, vor allem aber in der knalligen Ausstellung »Berlin morgen«, für die das Frankfurter Architektur-Museum 17 ambitionierte Architekten zu Berlin-Phantasien angefeuert hat, tobt sich ein Show-Wettkampf aus. Die Damen und Herren planen, als hätte es die Modelle für Albert Speers giganteskes Nazi-»Germania« an diesem Ort nie gegeben. Und als wäre das Gelände ein Bauplatz in geschichtsloser Wildnis wie Brasilia.
Dies aber ist, so wirklichkeitsleer und zeitlos er scheint, ein geradezu historiengesättigter Ort - der Zentralfriedhof der neueren deutschen Geschichte.
»Mißtraut den Grünanlagen«, heißt die wichtigste Regel, die der Ost-Berliner Schriftsteller Heinz Knobloch Berlin-Erkundern mitgibt. Plötzlich ist das Zitat da, wie angeflogen. Natürlich auch die Brecht-Zeile, daß von den Städten nur der Wind bliebe, der durch sie hindurchging.
Der Besucher muß Vorwissen mitbringen, um vage den Ort ausmachen zu können, an dem - als längst ganz Europa und Berlin brannten - am 30. April 1945 auch die Leichen Adolf Hitlers und Eva Brauns verkohlten. Das muß nahe jenem kleinen, abgetretenen Hügel sein, von dem im Winter die Kinder herabrodeln. Dort verbergen sich die gesprengten Reste von Ausgang und Luftschacht des ehemaligen großen Führerbunkers, der 16 Meter tief unter der Erde lag, 120 Meter lang, geschützt durch fast drei Meter dicke Decken. Der Ost-Berliner Stadtgärtner, der den Einfall hatte, die Betontrümmer mit einer dünnen Erdschicht zu bedecken und Rasen draufzusäen, wurde von Walter Ulbrichts Funktionären heftig für dieses »altgermanische Hünengrab« getadelt.
Nur keine Anhaltspunkte übriglassen. Alte und neue Reichskanzlei, der berüchtigte Volksgerichtshof - alles abgeräumt, planiert, festgewalzt.
Irgendwo im Osten muß hinter grünen Gardinen Bismarck gearbeitet haben, der 1871 Berlin zur Reichshauptstadt machte, sich hier aber nie wohl fühlte. Gegenüber, weit südlich vom marmornen Lessing, der weiß und sehr abseitig zwischen den Zweigen des Tiergartens hervorleuchtet, hat Theodor Fontane gewohnt, Potsdamer Straße 134 c, drei Treppen rechts. Und dahinter, Linkstraße 7, lebten bis zu ihrem Tode die Gebrüder Grimm.
Alles weg. Auch die westlichen Kollegen Stadtplaner haben brutal weggerissen und eingeebnet, was aus der Vergangenheit hineinragte ins neue Berlin. Mit den verstuckten Fassaden der Bürgerhäuser wähnten sie auch die Wurzeln eines verstockten Faschismus auszumerzen.
Aber Erinnerungen zerstört keine Abrißbirne. Jeder, der heute auf die leere Mitte der Stadt trifft, bringt sein ganz spezielles Berlin mit. Und dann starrt er beklommen oder erregt auf den entwirklichten Ort und sieht vor allem, was er nicht sieht. Hier west der Mythos Berlin.
Schon zu Erich Honeckers Herrschaftszeiten, als der Tatbestand der Teilung sich noch als Ergebnis deutscher Geschichte in der Mauer konkretisierte, zeigten sich auf den Aussichtspodesten vor allem ältere Berlin-Besucher bewegter, als die triste Realität zu rechtfertigen schien. Was war da schon zu sehen? Der Todesstreifen, ein paar durch Ferngläser starrende Grenzer, leere Flächen, im Hintergrund zwischen belanglosen Fassaden ein paar Passanten in der sich öffnenden Leipziger Straße.
Gewiß, das hatte seine Schrecken. Aber mehr noch gilt heute, da auch die Mauer verschwunden ist, was der Berliner Essayist und Verleger Wolf Jobst Siedler schon damals notierte: »Die Faszination der Schauenden kommt rein aus der Vorstellung; nicht das Betrachtete mobilisiert die Empfindung, sondern das Wissen, daß von hier an alles anders ist.«
Und anders war. Der Schauspieler Otto Sander, der in Wim Wenders' Film »Der Himmel über Berlin« als Engel auf den Potsdamer Platz hinabgestiegen ist, um sich »auf Augenhöhe«, also mittendrin, mit den Menschen und Dingen in dieser verwirrenden Stadt einzulassen, ist der Faszination voll erlegen. »Das ist ja ein merkwürdig positiver Film geworden«, sinniert er. Das sei durch die Atmosphäre entstanden, ein bißchen Geschichte, die vertrauten und doch wildfremden Drehorte, unendlich viel Stoff. »Ja, diese Mischung, die war's.«
Stockend versucht der Niedersachse Sander seine Zuneigung zu Berlin am Beispiel des Films zu erklären. Er und seine Freunde, alle Alt-68er in vielen Spielarten, der Regissseur Wim Wenders dabei, hätten zusammengehockt und seien es leid gewesen, »immer und überall nur rumzukritteln«.
Aber wie sagt man das als Linker: Ich liebe, ich habe Sehnsucht? »Nicht, daß das nicht in uns wäre, wir können es nur nicht ausdrücken. Und Berlin ist der einzige Ort, wo man das trotzdem kann.«
Kino und Wirklichkeit verschwimmen beim Rotwein in der Paris-Bar ineinander. Ist nicht die ganze DDR ein einziges Ufa-Studio? fragt der Schauspieler.
Berlin ist ein Ort für Identitätssuche, Selbstvergewisserung, Träume. Der eine, wie Otto Sander, verortet sein Leben zwischen scheinbar banalen Plätzen, liebt die Currywurstbude an der Ecke Trautenaustraße/Bundesallee und die U-Bahn-Station Potsdamer Platz, wo hinter der Verrammelung »hoffentlich alles noch genauso ist, wie es war«. Berlin bedeutet ihm Heimat.
Der andere, Otto Ehrmann, 67, Rentner aus Steglitz, lebt seine Vergangenheit zwischen dem Reichstag und den Ruinen an der Bellevuestraße nach, die aber nur er noch sieht. Für ihn ist Berlin Abenteuer.
Ehrmann hat im Jahre 1953 in den damals noch stehenden Ruinen am Dreisektoreneck - der amerikanische Bezirk Kreuzberg und der britische Tiergarten stießen hier auf den sowjetischen Bezirk Mitte - einen Krawattenstand betrieben, als am 17. Juni von der Stalinallee die demonstrierenden Bauarbeiter »mit der Kelle in der Hand« anmarschiert kamen. Daraus wurde der Volksaufstand.
Der Rentner Ehrmann gerät in Erregung, als die Vergangenheit ihn packt. Höflich, aber irritiert nimmt sein Gast aus Belgien wahr, was aus dem Freund heraussprudelt zwischen Brandenburger Tor, während er mit der Krücke herumfuchtelt - »Da bin ich als Junge neben Adolf durchmarschiert, aber in der Hitlerjugend war ich nie« - und Görings Reichsluftfahrtministerium, in der jetzt die Treuhand die DDR verkauft. »Da hamse damals die Kerle von der Stasi rausgeholt, und von da sind dann auch die Panzer gekommen, der Russe.«
Und der Vater seiner Frau hat noch dem Adolf seine Reichskanzlei mitgebaut, für die Firma Speer und Konsorten, und hier stand das Haus Vaterland, Junge, Junge, er könnte erzählen.
Sein Gast, dem er die Stadt zeigen will, steht verständnislos nickend dabei. Was redet der denn? Was hier geschah, hat er schließlich in Brüssel im Fernsehen selbst gesehen: wie die Menschen auf der Mauer tanzten, die sich dann in Souvenirs auflöste. So ein farbenfrohes Stück Grauen hätte er auch gern heimgetragen. Enttäuscht steht er nun vor den eingezäunten Restsegmenten, um die der Senat einen schützenden Drahtzaun gezogen hat, um sie vor Touristen für Touristen zu bewahren, »damit die auch noch fotografieren können«.
Das ist nicht mehr die Mauer. Das ist nun ein Symbol. Eines von unendlich vielen, um das sich der Mythos Berlin rankt. Anders als Rom oder Jerusalem ist das junge Berlin nicht eigentlich ein mythischer Ort. Aber hundert Jahre haben genügt, diese Stadt so zu zerschlagen und mit Schicksal aufzuladen, daß sie geradezu gepflastert ist mit symbolträchtigen Resten einer unverarbeiteten Vergangenheit.
Träume und Alpträume machen sich an banalen Gegenständen und Zeichen fest, hängen sich an Baudenkmäler wie den Reichstag und das Brandenburger Tor, den Fernsehturm im Osten und die Gedächtniskirche im Westen. In Berlin bedeutet nahezu alles etwas über sich selbst hinaus.
Aber ist das neu? »Laß den Blick von den Bauten«, hat der Schriftsteller Alfred Döblin den »verehrten Fremden« in Berlin schon 1926 geraten, »es ist daran nichts zu sehen. Aber, halt still, horch auf, sieh dich um, atme, bewege dich, hier geht etwas vor.«
Neu ist die Dringlichkeit, mit der sich - nach den Katastrophen, Verbrechen und Torheiten der Vergangenheit - dieser Ratschlag wieder aufdrängt. Das plötzlich entgrenzte Berlin, in dem jedermann nach Halt und Orientierung sucht, weil die alten Wege und Werte, die Feindbilder und Überzeugungen nicht mehr stimmen, schwirrt von Legenden und Geschichten, mit denen sich die Menschen die Welt nach simplen, unreflektierten Grundmustern überschaubar machen. Übermächtige Erlebnisse und nicht bewältigte Erfahrungen fließen darin ein, innere Bilder und Gefühle aus extremen Situationen und Umbrüchen, an denen in Berlin kein Mangel besteht.
Eine brisante Mischung. Und an keinem Ort wabert mehr unverarbeiteter historischer Stoff herum, den Mythos Berlin zu speisen, als am Potsdamer Platz und in seiner Umgebung.
Hat hier nicht nahezu jedes Ereignis oder Phänomen der jüngsten Vergangenheit, das für das Schicksal der Stadt von Bedeutung war, eine konkrete Verankerung? Preußen natürlich zuerst, wie auch seine schamlose wilhelminische Entartung oder Vollendung. Die offenbar ewig mißglückenden deutschen Revolutionen und die Schande angezettelter und verlorener Kriege. Die Wucht der industriellen Modernisierung, das Elend der städtischen Massen und der kulturelle Glanz der »goldenen zwanziger Jahre«. Die Inflation. Das »braune Berlin« der Nazi-Barbaren und das »rote Berlin« des heimlichen und offenen Widerstandes. Die Judenvernichtung und die fanatische Antwort auf die Goebbels-Frage: »Wollt Ihr den totalen Krieg?«
Das Inferno des Untergangs im Bombenhagel, die Hunger- und Schwarzmarktjahre und die Luftbrücke - am Potsdamer Platz ballen sich die Erinnerungen. Kalter Krieg. Ernst Reuters »Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt« und John F. Kennedys »Ich bin ein Berliner«. Die Spaltung der Stadt und schließlich die Mauer. Jene, die an ihr starben, jene, die sie überwanden und jene, die sie bewachten. Willy Brandt und seine Ostpolitik. Und schließlich der 9. November 1989, als die Deutschen Walter Mompers »glücklichstes Volk der Welt« waren.
Gewiß wird es Berliner geben, die auch von 1968 Erlebnisfäden zum Potsdamer Platz zu ziehen vermögen - eine Jahreszahl, die im Westen Erinnerungen an Rudi Dutschke weckt, im Osten vor allem an Prag. Das »Chaoten«- und »Türken«-Kreuzberg und seine hartnäckige Auflehnung ist nah, der alternativ aufmüpfige Prenzlauer Berg nicht allzu fern.
Berliner Geschichte? Deutsche Geschichte. Nichts ist in die Vergangenheit eingegangen. Alles gespenstert gefühlsgeladen herum, abrufbar von Namen und Daten. Und solche Symbole sind überall in der Stadt, verweisen auf das unerhörte Gestern und beschwören Wiederholungen herauf. Muß man Bundespräsident sein, um zu erkennen, daß »hier der Platz ist für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands«?
Der Reichstag liegt in Sichtnähe der leeren Mitte.
Der Begriff der »Fremdheit« werde wohl nach der Vereinigung zur zentralen Vokabel zwischen den Deutschen werden, hat der Historiker Christian Meier vorausgesagt. Wie wahr diese Prophezeiung geworden ist - auch das könnten die Regierenden an der Spree gewiß eindringlicher erleben als bei gelegentlichen Ausflügen vom Rhein in die neuen Länder oder aus Aktenvorlagen. In Berlin prägt Fremdheit das Leben komplett. Das Wort von den »Emigranten in der eigenen Stadt« macht die Runde, nicht nur im Osten.
Völlig unvorbereitet auf die Überwindung der Teilung irren die Bewohner beider Stadtteile in der ihnen plötzlich fremd gewordenen Stadt umher. Die alten Bilder von der Realität verstellen ihnen den Blick auf die neue Wirklichkeit. Das ängstigt viele.
Der forsche Berliner Ton ist verzagt geworden. »Es ist, als hätte man mit der Mauer den Berlinern auch das Rückgrat genommen«, staunt der aus Hannover zugezogene Galerist Dieter Brusberg. Aggressivität und Hektik wechselt mit Lethargie und Weinerlichkeit. Zu viele Menschen, zu viele Autos, zuviel Tempo, zu viele Neuerungen. Die Stadt boomt und verelendet zugleich. Mieten und Arbeitslosenzahlen steigen in erschreckende Höhen.
Für tiefschürfende oder hochtrabende Diskussionen über ihren künftigen Hauptstadt-Status haben die meisten Berliner in dieser Situation keinen Nerv. Ob die Bonner nun kommen wollen oder nicht, erörtern die meisten, wenn überhaupt, auf der gleichen Krämerebene, die auch in Bonn beliebt ist - wie viele Milliarden kostet das? Immer aber schwingt Verachtung mit beim Reden über die idyllischen Brüder und Schwestern vom Rhein.
Auch die messianischen Visionen ihres Senats von einer gigantischen neuen Kapitale sind den Bürgern im Alltag keine Hilfe. Eine so »totale Spinnerei« wie der Neubauplan für den Potsdamer Platz stößt vor allem bei Ost-Berlinern auf Erbitterung. »Der Sinn steht ihnen nicht nach Traum, sondern nach machbarer Wirklichkeit«, schreibt die Leserin Heike Rauch vom Prenzlauer Berg der Berliner Zeitung.
Unterschätzen die Berliner die Kraft ihrer eigenen Mythen? Immer schon und überall habe es in Berlin »Schwellen« gegeben, »die geheimnisvoll zwischen Bezirken der Stadt sich erheben«, notierte der Philosoph Walter Benjamin in seiner »Berliner Chronik um 1900«, abgestorbene Orte, denen die Kraft innewohnt, den Menschen ein Bild des Bevorstehenden zu vermitteln. Er nennt sie »weissagende Winkel«. An der Stelle, wo beide Seiten sich am nächsten kommen, sei es, »als setze das Leben aus«.
Sollte der Potsdamer Platz eine solche Schwelle sein? Frank Dahrendorf scheint es zu bestätigen, geborener Berliner und gelernter Hanseat, der von Hamburg in die Hauptstadt zurückgegangen ist, »weil man hier was anpacken kann«. Seit Februar sitzt der zeitweilige Innensenator West-Berlins dem Verband der Konsumgenossenschaften aus den neuen Ländern vor, der nach der Währungsunion alle West-Berliner Bolle-Läden aufkaufte.
Und wenn er nun aus dem Fenster seines neuen Büros in der Stresemannstraße auf den öden Potsdamer Platz guckt, dann sieht er dort keinen Geschichtsfriedhof, sondern »die Baustelle Deutschland«.
»Ich weiß«, sagt er, »es ist grotesk, eine Wüste als Hoffnung zu betrachten. Aber dieser Platz kann seinem Schicksal, wieder lebendig zu werden, überhaupt nicht ausweichen. Berlin ist so.«
Auch Michael Albrecht, Fernsehintendant im Ost-Berliner Adlershof, ist »eigentlich ganz froher Hoffnung«. Und auch seine Aufbruchphantasien kreisen um den Potsdamer Platz. Als Filmemacher denkt der gebürtige Greifswalder in optischen Kategorien, sieht dort bereits die ersten Bagger Baugruben ausheben - »dann passiert was«. Denn auch er ist sicher: »Diese Stadt ist überhaupt nicht totzukriegen.«
Mythos Berlin.
Verbaut er den Blick auf die Realitäten oder speist er eine neue Zukunft? Wahr ist - in Berlin sind auch in der Vergangenheit alle Energien aus Gegensätzen geflossen, die zerstörerischen wie auch die kreativen. Und wann sind die Gegensätze je so groß gewesen wie heute? *HINWEIS: Im nächsten Heft Berlin, der gemütliche Moloch - Angst vor dem Tempo der Stadt - Ein Bündel von Kleinstädten als Metropole - Trauer um die verlorene Provinzialität