An den sanften Hängen der Champagne zerrt ein kalter Nordwest. Von der Marne her steigt das Land fast unmerklich an bis zu einem langgestreckten Höhenzug im Westen, darauf ein Dorf: Colombey-les-Deux-Èglises.
Nichts an dieser Landschaft ist dramatisch, nichts idyllisch. Sie bedrückt durch ihre graue Unendlichkeit: weite Felder, tiefe Horizonte. Wer hier freiwillig siedelt, muß per du mit der Geschichte stehen.
Denn in dieser kahlen Grenzlandschaft zwischen Lothringen, Burgund und der Champagne drängen sich die Schlachtenorte, die von 1814 und die von 1914. Im Westen liegt Clairvaux, das Kloster des heiligen Bernhard, im Osten Vaucouleurs, die Stadt der heiligen Johanna.
So mag denn Charles de Gaulle die Kreuzritter Bernhards und die Reiterschwadronen Turennes erblickt haben, wenn er aus den Fenstern seines Landsitzes »La Boisserie« in die Weiten der Champagne sah. Hier prallten -- für ihn privat -- Jahrhunderte aufeinander, lösten Heroen ihre Eintrittskarten in die Geschichte,
Die 395 sonstigen Einwohner von Colombey haben solche historischen Tiefen kaum geschaut. Nirgends und zu keiner Stunde wird so klar wie in Colombey nach de Gaulles Tod, daß der General sein Volk maßlos überforderte, nicht durch reformerische Taten, sondern durch seelische Strapazen für eine Staatsidee, deren kaltem Reiz vor allem er erlegen war.
Vor dem eisernen Tor der »Boissene« ("Eintritt verboten. Privateigentum") am Ende der Rue Charles de Gaulle wacht alle zwei Meter ein Gendarm, insgesamt 15 Eskadrons sind aufmarschiert -- besser ist auch der lebende de Gaulle kaum behütet worden.
Hinter hohen, von Platanen überragten Mauern liegt -- unsichtbar -- die Kaaba des Gaullismus wie ein exterritoriales, unnahbares Eiland. Hier wurde über Scharen von Politikern und Militärs, Franzosen wie Ausländer, das Anathema gesprochen oder -- mildere Strafform -- Vergessen verhängt.
Außerhalb der Tempelmauern aber gedeiht ein Mikrokosmos, in den de Gaulles Heroen nie hinabstiegen: Auf den Feldern, auf denen sich grundlose Wege verlieren, wächst der Weißkohl der Champagne, Hähne krähen auf dem Mist, Kinderwäsche weht im Wind; verfallende Häuser, verrostete Pflüge, verängstigte Alte: Wenn de Gaulle, wie er immer behauptete, zeitlebens eine »gewisse Idee von Frankreich« besaß, hier hätte er sie korrigieren können. Sie wäre dann kaum so süßlich-naiv geraten wie jene »Madonna an der Kirchenwand«, als die er sein Frankreich kostümierte.
Die gedankliche Trennung zwischen Frankreich und den Franzosen erlaubte es ihm, alle Widersprüche seiner Vorstellungswelt zu einem Schicksalsdrama hochzuputschen: Frankreich ist groß und ewig, die Franzosen aber sind ein »Kälbervolk«, das -- unregierbar -- aus seinem Sumpf nicht befreit zu werden wünscht. Colombey legt den Widerspruch zutage.
Denn hier erscheinen die Menschen zwar nicht so heroisch, wie de Gaulle sie gern gehabt hätte, aber auch nicht so unregierbar, wie er immer behauptete. Der zentralistische Anstaltsstaat wußte die individualistischen Kapriolen der Franzosen stets noch rechtzeitig aufzufangen -- bis in jene Zehntausende Colombeys, in denen Frankreich glaubwürdiger anzutreffen ist als in den Schriften eines noch so stilbegabten Generals.
Im Bistro »Chez Janine«, bislang die Börse für kleinen De-Gaulle-Tratsch, flippt niemand am Bongo. Wirtin Janine wirkt abgehärmt: De Gaulle tot -- wer sollte da wohl heiter sein?
Aber die Arbeiter, die an den Tischen ihren »Ricard« schlürfen, antworten auf die Frage nach de Gaulle automatisch: »Oh, ein großer Mann ...« Dann zucken sie die Achseln, als wollten sie sich entschuldigen: »Wir können ja nichts dafür.«
Mittags hängen die Leute von Colombey ihre Trikoloren in die Fenster. Zehn Fähnchen flattern am Mini-Kriegerdenkmal, zwei stehen zu Christi Füßen unter dem mächtigen Altarkreuz in der Kirche.
Aber besonders viel Tuch wird in Colombey nicht gezeigt -- so wenig wie in den meisten Dörfern Lothringens und der Champagne. Die kleinen Provinzstädte dagegen -- Zabern, Toul, Vaucouleurs -- baden in Blau-Weiß-Rot, beweisen ein letztes Mal, wo de Gaulle seine Treuesten hatte: im Bürgertum der Städte, das in ihm seine bonapartistischen Sehnsüchte erfüllt sah.
Als sich der 2,10 Meter lange Sarg mit de Gaulle und seiner Grandeur in die Familiengruft senkt, scheinen die Menschen vor dem kleinen Friedhof zwar ergriffen, aber doch nicht wie von einem schweren Verlust gezeichnet: Der Held lebte schon lange im Exil, bevor er starb, und stand schon lange im Museum, bevor er abtrat.
Ein General, der eher Schriftsteller, ein Diplomat, der eher Philosoph ist, ein Staatschef, der sein Amt wie in einer Anwandlung politischer Todessehnsucht aufs Spiel setzt, die Welt der großen Worte und der kleinen Taten -- das alles mußte in dieser natürlichen Ordnung der Provinz Abgründe von Unverständnis aufreißen.
Die meisten der 40 000, die ihre Autos weit vor Colombey auf den Feldern der Champagne abgestellt haben oder in Sonderzügen herbeigeeilt sind, empfinden dem Toten gegenüber dennoch Dank -- Dank offenbar eher als Trauer.
In der Mairie von Colombey liegt das Goldene Buch aus, in das die Besucher nach französischer Sitte nicht nur ihre Namen, sondern auch gute Wünsche eintragen. Von der Decke hängt eine Glühbirne ohne Schirm, in der Ecke lehnen Spinnbesen und Trikolore von gleicher Länge, an der Wand kleben die Behörden-Dekrete: Eröffnung der Jagd, Schlagen von Holz, Einberufung zur Armee.
»Merci, mon Général«, oder »Grand merci« schreiben viele der Besucher in das Buch. »Eine Waise« dankt »für alles und wünscht auf Wiedersehen«. Eine Arbeiterin mit blauem Overall und Plastikhelm sagt ihr »Merci«, weil sie -- »grâce à de Gaulle« -- als Französin geboren wurde.
Am Abend liegt auf dem Grab an der Friedhofsmauer von Colombey unter hingeschenkten Orden und Blumen ein Medaillon mit der Aufschrift »Souvenir de Lourdes. Die fünf Straßenlaternen des Dorfes spenden mildes Licht. Die Autokolonnen der Trauergäste verschwinden in den Weiten der Champagne.
Sie werden wiederkommen, um aus Colombey ein kleines Lourdes zu machen.
* v. l.: Enkelin Anne, Madame Yvonne de Gaulle, Sohn Philippe.