GROSSBRITANNIEN Ein König namens Blair
Die Königin verbarrikadierte sich in entlegenen Schlössern, wo ihr Sohn, der Prince of Wales, sie beschwor (und zuweilen anherrschte), sie möge doch endlich ihre Trauer über den Tod eines Familienangehörigen mit dem Volk teilen. Weil die Königin ihr Exil nicht aufgeben wollte, verfolgten Journalisten jede ihrer Bewegungen. Im Parlament forderten radikalere Volksvertreter die Abschaffung der Monarchie.
Einen kühlen Kopf behielt nur der Premier. Zwar machte er gegenüber Vertrauten deutlich, daß das Land auch ohne das Königshaus überleben könne, aber da er an die Nützlichkeit der Monarchie für seine Pläne glaubte, machte er sich gen Schottland auf und brachte die Queen dazu, nach London zurückzukehren.
Dergleichen war, brandaktuell, in den vergangenen Tagen nicht nur in den Tageszeitungen der britischen Hauptstadt zu lesen, es war auch im Kino zu sehen - dort aber betraf es eine längst vergangene Zeit. Der Zufall hatte gewollt, daß am Tag vor Dianas Beerdigung der Film »Mrs. Brown« angelaufen war, ein opulentes Epos über die Krise der Monarchie unter der Langzeitregentin Viktoria, Elizabeths Ururgroßmutter, die von 1837 bis 1901 herrschte. Das tote Familienmitglied damals war Viktorias über alles geliebter Mann Albert gewesen, der listenreiche Premier Benjamin Disraeli.
Die Parallelen waren verblüffend: Wie im letzten Jahrhundert debattierte Großbritannien auch während der vergangenen 14 Tage über die Zukunft der Monarchie. Der Unfalltod der Princess of Wales, die eisige Distanz des Königshauses zur unbequemen Verstorbenen und die beispiellose Sympathieflut des Volkes ließen das Herrscherhaus der Windsors aussehen, »als hätten die Familienmitglieder vorzeitig ihr eigenes Mausoleum bezogen«, so der Autor Christopher Hitchens.
»Die Krone ist trüb geworden vor unseren Augen«, schrieb der linke, republikanischem Gedankengut zugeneigte OBSERVER. Aber auch konservative Blätter, sonst in Treue fest um den Buckingham-Palast geschart, ließen kaum ein gutes Haar an dem Regentengeschlecht. Zwischen Elizabeth II. und ihrem Volk entdeckte etwa der SUNDAY TELEGRAPH einen »tiefen Graben, der längst nicht geschlossen ist«.
Und es war nicht nur die übereifrige Sinnsuche der Kommentatoren, die das Königshaus bedroht sahen. Viele Beileidskarten, die den weit über eine Million Kondolenzsträußen angeheftet waren, prägte ein aufrührerischer Ton. Daß Diana »die Beste aus dem ganzen Pack« gewesen sei, war in allen möglichen Variationen zu lesen; andere Trauernde warnten, der Allmächtige selbst könne sich Volkes Stimme bedienen und den Herrscherclan hinwegfegen: »Vox populi - vox Dei.«
Als sich nach der Windsor-kritischen Trauerrede des Diana-Bruders Charles Spencer zuerst vor, dann auch in der 750 Jahre alten Westminster Abbey bislang ungehörter Beifall erhob, war der Tatbestand der Majestätsbeleidigung an sich erfüllt - und kaum einer nahm daran Anstoß.
Unter den Hunderttausenden Trauergästen war etwas, vergleichbar mit dem Geist von Leipzig 1989, zu spüren: Das Volk erinnerte seine Herrscher nachhaltig daran, daß sie nur mit seiner Zustimmung ihr Amt ausüben können.
Daß aus der »Blumen-Revolution« (GUARDIAN) einstweilen keine richtige wurde, verdankt Elizabeth II. vornehmlich dem Mann, der schon von Amts wegen ihr wichtigster Berater ist: Premierminister Tony Blair. Weitaus schneller als die Windsors hatte der Sozialdemokrat erkannt, daß die Briten nicht nur eine Märchenprinzessin mit großem Herzen zu Grabe trugen, sondern ebenso das alte Nationalklischee von John Bull - das Bild eines in unwandelbaren Traditionen verhafteten Landes, starrsinnig und unnahbar.
Der Premier konnte keine bessere Repräsentantin für das von ihm verheißene »Neue Britannien« finden als die fast schon heilige Diana, zu der das Volk die im Leben zuweilen höchst kapriziöse Fürstin von Wales verklärt hatte.
1982, ein Jahr nach der prächtigen Hochzeit des Thronfolgerpaares, hatte Premierministerin Thatcher den Falklandkrieg genutzt, um die britische Flagge hochzuhalten und sich als patriotisch und willensstark zu definieren. Nun nutzte Blair Dianas Tod, um eine ganz andere Botschaft auszusenden. »Dianas Erbe«, empfahl er seinen Landsleuten, »sollte ein besseres, mitfühlenderes Britannien sein.«
Den ohnmächtigen Tories blieb nichts anderes übrig, als mürrisch darauf hinzuweisen, daß Diana Englands - und keineswegs New Labours - Rose gewesen sei. Sie täuschten sich.
Instinktsicher wie derzeit kein anderer hatte Blair die Emotionen seiner Landsleute schon in der Unfallnacht richtig eingeschätzt. Mit seinem Pressesprecher Alastair Campbell feilte er an jener kurzen Ansprache, die so spontan aussah, und doch ein Kunststück politischer Planung war. Mit zitterndem Kinn statt der sprichwörtlichen britischen »stiff upper lip« erhob er Diana zur »Volksprinzessin« und vereinnahmte sie schon damit für seine »Volkspartei«.
Als sowohl die Windsors wie auch Dianas Verwandte nur ein privates Begräbnis planten, machte Blair in einem persönlichen Gespräch mit Prince Charles klar, daß die trauernde Öffentlichkeit eine solche Entführung der geliebten Prinzessin nicht akzeptieren würde. Und als Charles Schwierigkeiten hatte, Blairs Vorstellungen bei den beiden Familien durchzusetzen (er solle sich doch »am eigenen Fahnenmast aufspießen«, empfahl ein erregter Charles angeblich dem auf Traditionen beharrenden Privatsekretär seiner Mutter), war es der Premier, der als erster öffentlich von einem »Volksbegräbnis« sprach.
Blairs Vertrauter Campbell riß die Vorbereitungen zur Beerdigung an sich. Im Chinesischen Zimmer des Buckingham-Palastes richtete er eine Krisenzentrale ein. Blair sprach selbst mit Charles und empfahl den Royals einen sichtbareren Ausdruck ihrer Anteilnahme. Um zu zeigen, was er meinte, ging er zur Absperrung, welche die Downing Street vom öffentlich zugänglichen Teil des Regierungsviertels trennt, schüttelte Besucherhände und spendete Landsleuten Trost. Erst als am folgenden Morgen die Schlagzeilen der Boulevardblätter die sofortige Rückkehr ihrer Monarchin eher anordneten als empfahlen, begriff auch die Königin den Ernst der Lage.
Dann purzelten die bislang unangreifbaren Regeln des Protokolls und enthüllten gleichsam nebenbei, daß es sich nur um Versatzstücke handelte, die Queen Viktoria zur Mystifizierung ihrer Regentschaft erfunden hatte. Auf einmal konnte also der Union Jack über dem Buckingham-Palast auf Halbmast wehen; auf einmal konnte die Monarchin, die sich sonst vor niemandem verneigt, vor dem Sarg ihrer einstigen Schwiegertochter den Kopf senken; und zum ersten Mal unterbrach Elizabeth die Reihe ihrer stereotypen Weihnachtsansprachen durch eine Fernseh-Trauerrede, in der sie ihrem Volk konzidierte, daß auch sie »Lektionen zu lernen« habe.
Am Morgen nach der Beerdigung garantierte dann Tony Blair, stellvertretend für die königliche Familie und glaubwürdiger als sie, daß sich sogar die Windsors »ändern und den modernen Zeiten anpassen« können. Zuvor hatte schon der NEW STATESMAN, das Hausblatt von New Labour, Diana zur »Modernisiererin« des Königshauses erhoben; nun bestätigte der Regierungsschef öffentlich, daß er vorgehabt habe, Diana als inoffizielle Botschafterin seines »Neuen Britannien« einzusetzen. Und in diese Modernisierungskampagne, Kernpunkt seines Regierungsprogramms,
will er jetzt auch das alte Königshaus einbauen.
Möglichkeiten sieht Blair, vom ECONOMIST zum »Prinz des Volkes« geadelt, viele: Schon vor Dianas Tod hatte er so eng mit Charles und dessen Stiftung für unterprivilegierte Jugendliche zusammengearbeitet, daß sich die Opposition über die unziemliche Nähe des künftigen Monarchen zur neuen Labour-Regierung beschwerte.
In einer vorige Woche veröffentlichten Studie über eine Neubestimmung des britischen Ansehens in der Welt machte ein regierungsnahes Institut den Vorschlag, die Königin solle sich auf einer Reise durch das einstige Empire für die Verbrechen der alten Kolonialmacht entschuldigen - eine Idee, die im Umfeld Margaret Thatchers undenkbar gewesen wäre.
Weil nach Meinung Blairs die Verehrung Dianas (weit über 100 Millionen Pfund spendeten die Briten bislang dem zentralen Gedenkfonds) den Wunsch nach Wandel verkörpert, treibt der Premier die politische Veränderung nach seinem Gusto voran. In Worten, die seinen Empfehlungen für die Zukunft der Monarchie zum Verwechseln ähnelten, stellte er die Gewerkschaften vor die Alternative »zu modernisieren oder zu sterben«. Hatte Blair einst, so spöttelte der TELEGRAPH, seine eigene Partei »modernisiert, um zu regieren, regiert er jetzt, um zu modernisieren«.
Eines der Kernstücke seines Reformprogramms, die Veränderung der ungeschriebenen britischen Verfassung, hat er vorigen Donnerstag ein gehöriges Stück weitergebracht. Sein überwältigender Sieg beim Referendum über ein eigenständiges schottisches Parlament schafft jetzt die Voraussetzungen, dem seit Jahrhunderten zentral regierten Staat föderale Strukturen einzuziehen. Daß eine auf unabsehbare Zeit von Labour regierte schottische Volksvertretung auch eine Art Rückversicherung darstellt, falls in London die Tories wieder ans Ruder kommen sollten, ist ein willkommener Nebeneffekt.
Und Schottland ist erst der Anfang: Schon in dieser Woche entscheidet ein ähnliches Referendum über die Einrichtung einer walisischen Volksvertretung, die allerdings nicht so weitgehende Gesetzesvollmachten erhalten soll wie das schottische Parlament. Auch der Großraum London, dessen kommunale Eigenständigkeit Margaret Thatcher 1986 wegen der Dauerherrschaft von Labour zerschlagen hatte, soll nun wieder eine gemeinsame Verwaltung erhalten.
Ein weiteres Modernisierungsprojekt, das Blair noch in seiner ersten Amtszeit anpacken möchte, berührt direkt das Selbstverständnis des Königshauses. Der Regierungschef will jenen Lords den Sitz im Oberhaus streitig machen, die ihn nur als Erben ihrer Väter und nicht aus eigenem Verdienst einnehmen. Damit wäre die Monarchie dann die letzte britische Institution, die ihre politischen Vorrechte aus der Generationenfolge ableitet.
Einen kompetenteren Berater als den Premierminister könnten sich die Windsors derzeit kaum wünschen. Zumindest Prince Charles, glaubt der SUNDAY TELEGRAPH, »scheint das erste Mitglied der königlichen Familie zu sein, der begreift, daß der Premier Überlebenswichtiges anzubieten hat - den Finger am Puls des Volks«.
Und der Fürst von Wales, den so viele Briten für das unglückliche Leben seiner Ex-Frau verantwortlich gemacht haben, zeigte Bereitschaft, Neues zu lernen. Vorige Woche begleitete er seine beiden Söhne zu einem Zahnarzttermin mit anschließendem Shopping in London; ein Trip, der als ein Beleg künftiger Volksnähe gewertet wurde (und den die Medien mit ungewohnter Zurückhaltung vergolten: Nicht ein Bild des königlichen Ausflugs erschien in den Zeitungen).
Umsonst ist der Rat, den Blair so freigiebig verteilt, allerdings nicht. Immer deutlicher gibt sich der Premier selbst als eine Art Volkskönig, dessen Charisma das des eigentlichen Staatsoberhaupts in den Schatten zu stellen droht. Ganz wie ein Monarch spazierte Blair mit seiner Gattin anläßlich der Parlamentseröffnung zum Palast von Westminster und ließ sich - beifallsumrauschter als die Königin - vom Volk feiern. Der Premier ging brav demokratisch zu Fuß, die Königin, von ihren Prunkgewändern beschwert, fuhr in der Staatskarosse.
Kein Wunder, daß einige Kommentatoren in der resoluten Art, mit der Blair nach dem Tode Dianas die Inititative ergriff, die Ambitionen eines republikanischen Präsidenten entdecken wollten. Doch das hat Zeit. Trotz des Ansehensverlusts der Windsors spricht sich eine Mehrheit der Briten je nach Fragestellung mal mehr, mal weniger deutlich für die Beibehaltung der Monarchie aus. Schon jetzt allerdings, glaubt der INDEPENDENT, sei »der Buckingham-Palast weit mehr ein Gefangener von Downing Street als jemals zuvor« in der Geschichte der konstitutionellen Monarchie.
Trost kann Elizabeth II. aus den Erfahrungen ihrer Vorgängerin Viktoria schöpfen. Nachdem die auf Drängen des damaligen Premiers Disraeli aus ihrem selbstgewählten Witwen-Exil aufgetaucht war und die Staatsgeschäfte wieder übernommen hatte, regierte sie noch 27 Jahre lang - beliebter und umjubelter als je zuvor.
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Territorien des Vereinigten Königreichs
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Territorien des Vereinigten Königreichs
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* Beim Übersetzen zu Dianas Grab auf einer Insel desFamilienbesitzes Althorp.