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Ein Mann mit vielen Namen

Wolfgang Seiffert über den neuen sowjetischen Botschafter in Bonn Julij Kwizinski Wolfgang Seiffert, 59, war bis 1977 an der DDR-Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Institutsdirektor und Mitglied des Wissenschaftlichen Rates, der über die Annahme von Dissertationen und Habilitationen entscheidet. Seit 1978 lehrt Seiffert an der Universität Kiel. *
aus DER SPIEGEL 19/1986

Wenn Qualifikation und politische Rangordnung jener Männer, die Moskau als Botschafter ins Ausland entsendet, die Bedeutung des Gastlandes für die sowjetische Politik ausdrücken sollen, dann steht die Bundesrepublik Deutschland in der Hierarchie ganz oben. Der bisherige sowjetische Botschafter in Bonn Wladimir Semjonow, war Mitglied des Zentralkomitees der sowjetischen KP, mithin in der sowjetischen Führung hoch angesiedelt und obendrein erfahrener Deutschland-Experte. Der eben allkreditierte neue sowjetische Botschafter in Bonn ist es nicht weniger, wobei seine Jugend - er ist 49 Jahre, sein Vorgänger wurde jetzt im 76. Lebensjahr pensioniert - dafür spricht, daß für ihn Bonn nicht die letzte Station der politischen Laufbahn ist.

Der 1936 geborene Julij Alexandrowitsch Kwizinski, verheiratet und Vater von zwei Kindern, begann nach Jura-Studium und Promotion an der Diplomatenhochschule in Moskau seine diplomatische Laufbahn als Mitglied der dritten Europa-Abteilung des sowjetischen Außenministeriums. So war er von Anfang an mit deutschen Angelegenheiten befaßt. Ende der fünfziger Jahre ging er als Sekretär der sowjetischen Botschaft nach Ost-Berlin. Nach seiner Rückkehr ins Außenministerium war er die Schlüsselfigur bei den Verhandlungen über das Berliner Vier-Mächte-Abkommen hinter dem offiziellen Vertreter Moskaus, Pjotr Abrassimow.

Das wurde er nicht nur durch seine Funktion im sowjetischen Außenministerium und das Vertrauen, das er bei dem damaligen Außenminister Gromyko genoß. Kwizinski war und ist ein hervorragender Kenner Deutschlands. Schon seine Dissertation befaßte sich mit der West-Berliner Problematik.

Er blieb diesem Thema auch danach auf der Spur. Am 1. Juli 1968 habilitierte er sich an der DDR-Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft mit dem Thema: »Westberlin und sein Platz im System der gegenwärtigen internationalen Beziehungen«.

Auch später, während der Verhandlungen über das Berlin-Problem mit den Westmächten, hielt er engen Kontakt zu Völkerrechtsexperten der DDR, etwa zu dem Leipziger Professor Rudolf Arzinger, der durch seine Arbeit über das Selbstbestimmungsrecht aus DDR-Sicht bekannt wurde. Allerdings veröffentlichte Kwizinski seine Arbeiten gern unter Pseudonym. So wird sein Autoren-Referat zur Habilitation in Babelsberg unter dem Namen Belezki, V. N. geführt.

1971 gab der Moskauer Verlag, »Mysl« eine Monographie mit eben dem Thema der Habilitation Kwizinskis heraus, der Autor nannte sich diesmal V. N. Wyssozki, der Verlag bezeichnete ihn als »sowjetischen Historiker«, der »viele Jahre in Berlin gearbeitet habe und »gründliche Sachkenntnis« besitze. 1974 erschien im Moskauer Verlag »Progress« eine »Kurzfassung des gleichen Buches, »die nun auch Abschnitte über die Westberlinverhandlungen und deren Analyse enthält«, diesmal in deutscher Sprache.

Die Abkürzung der Vornamen »V. N.« ist Kennzeichen vieler Alias-Namen Kwizinskis. Ebenfalls unter dem Pseudonym Belezki publizierte er die Schrift »Die Politik der Sowjetunion in den deutschen Angelegenheiten 1945 - 1976« (Berlin-Ost 1977), in der sich der bemerkenswerte Satz befindet, die neue Ostpolitik Bonns Ende der 60er Jahre und Anfang der 70er Jahre bedeute den »Zusammenbruch des außenpolitischen Kurses der CDU/CSU«.

Es gibt ja eine ganze Reihe profilierter Deutschland-Experten Moskaus: Walentin Falin - einst Botschafter in Bonn und in dieser Eigenschaft zeitweise Vorgesetzter Kwizinskis, als dieser (19781981) Gesandter an der Bonner Botschaft war; Alexander Bondarenko - Leiter der dritten Europa-Abteilung im Moskauer Außenministerium; Wadim Sagladin - Abteilungsleiter im Zentralkomitee der sowjetischen KP; Boris Ponomarjow - Berater der letzten sowjetischen Generalsekretäre. Mit ihnen verglichen, an ihnen gemessen, ist Kwizinski derjenige, der in besonderer Weise solide Sachkenntnis, die Beherrschung der deutschen Sprache, Realitätssinn und ausgesprochenes Machtbewußtsein mit der Überzeugung verbindet, daß es auf der Welt nur zwei Mächte gibt, die das Schicksal der Welt bestimmen, und daß dies unbedingt so bleiben muß: die USA und die Sowjet-Union.

Noch als Gesandter in Bonn erläuterte er im April 1980 auf einer Tagung der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach unmißverständlich: Gleichheit und Parität seien die zwei Zentralbegriffe, die das Verhältnis der beiden Weltmächte bestimmen: »Hier kann man nicht mit zweierlei Maß messen.«

Schon damals schloß diese Konzeption ein, daß man alle anderen Mächte auf dieser Welt durchaus mit einem anderen Maß messen könne - wohl auch heute die Meinung des gelehrigen Gromyko-Schülers. Doch Kwizinski ist viel zu kenntnisreich und hat zu viel Sinn für Realitäten, als daß er nicht wüßte, wie sehr sich die Dinge seit jenem Vortrag in Gummersbach geändert haben. Die Nachrüstung ist erfolgt; wie es in Genf und bei den Truppenverminderungsgesprächen in Wien steht, weiß der Abrüstungsexperte nach seinen Verhandlungen in Genf und einem kurzen Zwischenspiel in Wien aus eigener Kenntnis genau. Zusätzliche Informationen über die Absichten der neuen sowjetischen Führung unter Gorbatschow gewinnt er als Kandidat des KP-Zentralkomitees.

»Die internationale Situation ist heute viel komplizierter als damals, umschrieb er die gegenwärtige Situation der Sowjet-Union ebenso ausweichend wie geschickt. Sicherlich wird er versuchen, die Bonner Regierenden doch noch zu differenzierten und kritischen Ansichten gegenüber Nato und USA zu veranlassen. _(Nach der Übergabe seines ) _(Beglaubigungsschreibens an ) _(Bundespräsident Richard von Weizsäcker ) _(am 24. April. )

Die Eröffnung ist bereits in einem ersten Gespräch mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher erfolgt, in dem Kwizinski die Vorschläge Gorbatschows zur konventionellen Abrüstung erläuterte und ergänzte.

Noch hofft die sowjetische Führung, sie könne mit Beharrlichkeit, Flexibilität und immer neuen Abrüstungsvorschlägen die öffentliche Meinung im Westen für sich einnehmen und damit die westlichen Länder dazu bringen, die USA zu konkreten Abrüstungsmaßnahmen zu drängen. Davon verspricht sich Moskau Beiträge zum sowjetischen Konzept der Parität der beiden Weltmächte.

In Europa liegt der dafür geeignete Ansatzpunkt in Bonn. Ob Kwizinski auch dafür der geeignete Mann ist? Er bringt alle Voraussetzungen mit.

Verhandlungen und Ergebnis des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin zeigten ihn ebenso prinzipiell wie realistisch und flexibel. In einer längeren Betrachtung zu dem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin 1971 meinte Kwizinski 1972 in der DDR-Zeitschrift »Deutsche Außenpolitik« - diesmal verwandte er das Pseudonym Wiktor Boldyrew -: »daß der erfolgreiche Abschluß des Abkommens deswegen erreicht wurde, weil keiner irgendeinen Zuwachs an Rechten ... erhalten sollte«.

Ebenso nüchtern meinte er damals, es zeichne sich die Perspektive ab, daß die beiden deutschen Staaten längere Zeit nebeneinander bestehen würden. Und ungewöhnlich realistisch liest sich noch heute sein Beitrag in der Zeitschrift »Deutsche Außenpolitik« - statt eines Namens-Pseudonyms zeichnete er mit drei Sternchen -: »Die Frage der Bildung eines einheitlichen deutschen Staates wird nicht von der Tagesordnung verschwinden. Da aber zwei deutsche Staaten real existieren, ist dies ihre innere Angelegenheit. Wollen sie sich in einem Staat vereinigen, so müssen sie folglich untereinander die Formen und Wege hierfür vereinbaren. Ist dies praktisch möglich? Ja. Aber hierfür ist, wie die Praxis überzeugend beweist, zweifellos nicht nur der Wunsch, sondern auch Zeit nötig.«

Kwizinski könnte, als Botschafter und ZK-Kandidat, den Zeitpunkt mitbestimmen.

Nach der Übergabe seines Beglaubigungsschreibens an BundespräsidentRichard von Weizsäcker am 24. April.

Wolfgang Seiffert
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