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PROZESSE Ein Mensch mehr

Mit einem neuen Phänomen der Gewaltkriminalität muß sich diese Woche das Wuppertaler Schwurgericht befassen: erst töten und dann erpressen.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Der eine hatte aus einer Filiale der Dresdner Bank in Frankfurt 10 659 Mark geraubt, der andere bei einem versuchten Ausbruch einen Gefängniswärter erschossen.

Auf Reiner Sturm, 28, machte Eindruck, daß Otto Bartel, 38, eine Sache von größerem Kaliber auf dem Kerbholz hatte. Bei langen Gesprächen in der Strafvollzugsanstalt Werl in Westfalen, von Fenster zu Fenster, festigte sich bei Sturm das Bild vom Zellennachbarn als einem »Menschen, den es nicht noch einmal gibt«.

Als Sturm auf Bewährung draußen war, schwärmte er vor Bekannten vom »hochintelligenten Chef von Werl«, der »nicht im Gefängnis verkommen« dürfe. Er wolle ihn rausholen, sagte Sturm, und dazu lasse er sich etwas einfallen, »was es noch nie gegeben hat«.

Wenig später, am 19. Juli letzten Jahres, brachte Sturm nach eigenem Eingeständnis in Wuppertal im Abstand von zwei Stunden die Krankenschwestern Gabriele Evans, 26, und Marlies Roth, 23, um. Er soll mit einer Weinflasche und einem Hammer auf sie eingeschlagen, gewürgt und gedrosselt und seinen Opfern auch Stich- und Schnittverletzungen beigebracht haben.

Sie seien »nur gestorben«, hinterließ Sturm auf einem Zettel, »damit Ihr die Sache nicht als Spaß auffaßt. Laßt Otto Bartel ... frei«. Wenn sein eigener Name genannt werde, »bevor Otto frei ist«, drohte Sturm, »stirbt zur Strafe ein Mensch mehr«.

Sechs Tage danach, als die Fahndung längst über das Fernsehen lief, durchschnitt Sturm in Frankfurt dem Bankkaufmann Wolfgang Goeritz, 28, die Kehle, der ihm in seiner Wohnung Unterschlupf gewährt hatte. Anschließend stellte sich Sturm der Polizei.

Von Donnerstag dieser Woche an muß sich Reiner Sturm vor dem Wuppertaler Schwurgericht wegen dreifachen Mordes verantworten. In dem Prozeß geht es, das erwartet Sturms Wahlverteidiger, der Frankfurter Rechtsanwalt Rainer Stickler, »allein um das Motiv und die Schuldfähigkeit«.

Zu klären ist, ob der Angeklagte »heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen« gehandelt hat oder eine »schwere seelische Abartigkeit« sein Tun steuerte, ob er lebenslang hinter Gitter muß oder als schuldunfähig nicht bestraft werden kann und in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist.

Es gilt auch, »eine neue Dimension des Gewaltverbrechens"« so der Wuppertaler Oberstaatsanwalt Kurt Karpinski nach der Tat, zu ergründen: daß Erpresser schon töten, ehe sie ihre Forderungen stellen. Es muß aber auch das »psychologische Rätsel« gelöst werden, das die Persönlichkeit des Angeklagten den Strafverfolgern noch immer aufgibt.

Was Stoff für einen langwierigen Prozeß bietet, soll vom Wuppertaler Schwurgericht »allem Anschein nach«, so Verteidiger Stickler, »quasi im beschleunigten Verfahren erledigt werden«. Nur vier Sitzungstage sind anberaumt, um unter anderem die 42 benannten Zeugen zu vernehmen. Und gar nicht erst geladen wurde einer, der bei Sturms Handlungen eine Hauptrolle spielt -- Otto Bartel, der freigepreßt werden sollte.

Das Schwurgericht will auf Sturms Zellennachbarn als Zeugen verzichten, weil es »bereits an der Angabe konkreter Beweistatsachen« fehle: Über die innere Einstellung des Angeklagten zu Bartel könne dieser, das glaubt das Schwurgericht, »keine Angaben machen«.

Auch die Zahl der Gutachter will das Gericht in Grenzen halten. Es lehnte den Antrag der Verteidigung ab, den Hamburger Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch als zusätzlichen Sachverständigen heranzuziehen. Die bisherigen Untersuchungen hätten keinen Anlaß gegeben, so die richterliche Begründung, »einen auf Sexualwissenschaften spezialisierten Gutachter zu hören«.

Dabei gibt es genügend Anhaltspunkte, Sturms Motiv im sexuellen Bereich zu suchen. Für Verteidiger Stickler war Bartel »nur Auslöser der Taten, die Antriebsfeder schon immer vorhanden«.

Der Lebensweg könnte Beleg für solche These sein. Sturms Erfolgskurve als Klassenbester in der Volksschule bekam einen Knick« als sich seine Eltern scheiden ließen und dem Vater das Sorgerecht zuerkannt wurde, einem Polizeibeamten, der gerne Prügel austeilte.

Sturm lief von zu Hause weg und schlug sich auf Hamburgs Reeperbahn durch, als Strichjunge und Transvestit. Er ließ Mädchen für sich anschaffen und machte mal ein Geschäft auf, in dem er Futter und Halsbänder für die Pudel der Dirnen anbot.

Die Staatsanwaltschaft hält es auch für denkbar, daß Sturm die Freilassung seines ehemaligen Mithäftlings Bartel nur »als Rechtfertigung für diese Taten nachgeschoben« hat. Denn zu seinen Opfern hatte Sturm sehr enge und eigene Beziehungen. Mit beiden Krankenschwestern war er intim, ihr Tod aber sei, sagte Sturm ohne Reue, »für die Menschheit kein Verlust«.

Daß Sturm sein nächstes Opfer unter Männern suchte, hat seinen Grund. Kaufmann Goeritz, mit dem sieh Sturm in einem Frankfurter Homosexuellentreff anfreundete, gab sich, so die Ermittlungen, seinerzeit überrascht, daß er »nur Frauen« umgebracht habe.

Sturm sei deshalb nach Wuppertal zurückgefahren, um nun den Bauhilfsarbeiter »Davo« zu töten. Den habe er aber, wie er gestand, nicht angetroffen. In Frankfurt traf es dann später Goeritz selbst, der es auch, wie der Angeklagte sagte, »verdient« habe.

Die Weigerung des Gerichts, einen Gutachter aus dem Bereich der Sexualwissenschaft zu hören, steht womöglich im Widerspruch zu Grundsätzen, die der Bundesgerichtshof (BGH) anläßlich des Strafverfahrens gegen Jürgen Bartsch aufstellte. Weil Bartsch, der vier Kinder mißbraucht und umgebracht hatte, nicht von einem Sexualwissenschaftler untersucht worden war, rügte der BGH die Jugendkammer des Wuppertaler Landgerichts und ordnete einen neuen Prozeß an.

Die Erfahrung lehre, so die BGH-Begründung, »daß gerade die Beurteilung geistig-seelischer Vorgänge, die auch bei sorgfältiger Prüfung den Anschein voller Zuverlässigkeit bietet, durch die Erhebung eines weiteren Beweises doch wider Erwarten sich wesentlich ändern kann«. Das Gebot der Wahrheitsfindung verpflichte den Richter, »jedes taugliche und erlaubte Mittel im Ringen um die Wahrheit einzusetzen«.

Ob nun Sturm. als »Bestie von Wuppertal«, wie ihn die Frankfurter »Abendpost-Nachtausgabe« nannte, ein kurzer Prozeß gemacht wird oder ob die »sehr starke pathologische Komponente«, so der Mainzer Kriminologe Armand Mergen, doch noch weitere Gutachter beschäftigen wird, ist für die Richter auch eine Frage des Risikos: zum zweitenmal, nach dem Fall Bartsch, ein doppelter Prozeß mit doppelten Kosten als Wuppertaler Menetekel?

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