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»Ein Menschenleben gilt für nix«

SPIEGEL-Report über die Militärjustiz im Dritten Reich, I: Mindestens 40000 Todesurteile Die furchtbaren Juristen an den deutschen Kriegsgerichten haben im Zweiten Weltkrieg 40000, vermutlich sogar rund 50000 Todesurteile gefällt, ergeben neueste Forschungen. Bisher war in der Zeitgeschichtsschreibung von 10000 bis 12000 ausgegangen worden. Diese Zahlen stammen von Professor Erich Schwinge, ehedem Kriegsrichter, der von Januar 1944 bis Februar 1945 noch 16 Todesurteile beantragt oder verhängt hat. *
aus DER SPIEGEL 43/1987

Der Obergefreite Anton W., 24, vom Grenadierregiment 462, Feldpostnummer 07469, trug die beiden Eisernen Kreuze, das Infanteriesturmabzeichen, die Nahkampfspange in Bronze und die Ostmedaille. _(Die Namen betroffener Soldaten sind, ) _(wenn ihr weiteres Schicksal nicht ) _(bekannt ist oder sie trotz Todesurteil ) _(den Krieg überlebt haben, abgekürzt. ) _(Namen werden genannt bei erwiesener ) _(Hinrichtung oder bei ausdrücklicher ) _(Genehmigung. )

Vier Jahre lang hatte er an der Ostfront ohne große Feuerpausen gekämpft, sechsmal wurde er verwundet: er war »im Einsatz mitreißend« und, lobte sein Kommandeur, »von einwandfreier nationalsozialistischer Gesinnung«. Für sein »hervorragend tapferes Verhalten« erhielt er im September 1944, bei einfachen Soldaten höchst selten, das Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz, wurde zum Unteroffizier befördert und bekam 21 Tage Sonderurlaub.

Daheim bei Frau und Kind traf er den Freund seiner Schwester, der ihm reichlich Wein einflößte und dann riet, »nicht so blöd zu sein und wieder ins Feld zu gehen«. Halb benebelt, halb willenlos ließ sich Anton W. eine Spritze mit Petroleum setzen.

Noch in der Nacht erkrankte er an einer Entzündung des Zellgewebes ("Phlegmone"), tags drauf lag er auf dem OP-Tisch des Lazaretts. Es dauerte sechs Wochen, bis Anton W. wieder so gesund war, daß er wegen Selbstverstümmelung vors Kriegsgericht gestellt werden konnte - Todesstrafe.

Der Panzergrenadier Ferdinand St. war ein ganz anderer Typ als der hochdekorierte Frontkämpfer Anton W. - schwach und kränklich, erst 16 und gerade vier Wochen Soldat. 14 Tage bevor _(Zusammen mit Hauptmann Huth am 8. April ) _(1945 in Wien nach einem ) _(Standgerichtsurteil von einem ) _(SS-Kommando der Leibstandarte »Adolf ) _(Hitler« erhängt. )

die Russen am 13. April 1945 in die österreichische Hauptstadt einmarschierten, verurteilte ein Divisionsgericht den Knaben wegen Fahnenflucht zum Tode, ein Terrorspruch, gleich doppelt.

Ferdinand St. hatte »seine Truppe oder Dienststelle« nicht verlassen, um »sich der Wehrmacht auf Dauer zu entziehen«, wie das Militärstrafgesetzbuch die Fahnenflucht eindeutig beschrieb. Er hockte, entlassen nach mehrtägigem Arrest, mißmutig in der Kaserne und schmiedete schlicht den Plan zu fliehen, bis er verpfiffen wurde.

Aber auch Ferdinand St.s erbarmungswürdiger Zustand war für die Richter kein Grund, Milde walten zu lassen. Nach einem Bombenangriff hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten und war bei einem Marsch plötzlich umgekippt. »Schlapp und unentwickelt« sei er, stellte das Gericht in der Beweisaufnahme fest, »der persönliche Eindruck des Angeklagten ist der eines fast noch kindlich aussehenden ... Jungen«. Am Todesurteil änderte sich deswegen nichts.

Ferdinand St. und Anton W. wurden verurteilt, weil sich ihre Richter, ohne Not, an den radikalen NS-Ideen von Manneszucht und Abschreckung orientierten. Ein anderer, der Gefreite Julius Sch., war wegen »seiner asozialen Haltung, seinem minderwertigen Charakter und seiner niedrigen Gesinnung« (Richterspruch) des Todes.

Julius Sch. hatte gegen die »Verordnung des Führers zum Schutz der Sammlung von Wintersachen für die Front« verstoßen, als er im kalten Januar 1942 für sich und andere frierende Kameraden acht Paar Wollsocken sowie einen Schal abzweigte.

Ein Marineartillerist starb als »defaitistischer Tätertyp«. Er freue sich »über die ernste Lage an der Front bei Stalingrad und Woronesch« soll der Soldat zwei Kameraden erklärt haben, die Schnauze jedenfalls voll vom Krieg. Daß er an Asthma litt, machte seine Lage nur noch schlimmer.

Diese »psychosomatische Veranlagung«, notierte ein juristischer Sachverständiger, »bietet keinen Milderungs-, sondern nur einen Strafschärfungsgrund«, denn »bei einer Begnadigung würde der Verurteilte nur fortlaufend weiter der Volksgemeinschaft als Schädling zur Last fallen«.

Vier Urteile, eines unmenschlicher als das andere. In den sechs Jahren des Zweiten Weltkrieges waren bei den Kriegsgerichten rund drei Millionen Strafverfahren anhängig. Mindestens 40000-, wahrscheinlich sogar rund 50000mal sprachen deutsche Militärjuristen die Todesstrafe gegen Soldaten und Wehrmachtsgefolge aus, die Kopf-ab-Verfahren der SS- und Polizeigerichte, über die Unterlagen kaum vorliegen, nicht eingerechnet. Bei Kriegsbeginn wurden rund 90, später 70 Prozent der Urteile vollstreckt.

Das sind die Ergebnisse neuester Forschungen, die jetzt veröffentlicht wurden. _(Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner: ) _("Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des ) _(Nationalsozialismus - Zerstörung einer ) _(Legende«. Nomos Verlagsgesellschaft, ) _(Baden-Baden; 365 Seiten; 44 Mark. )

Sie ergeben sich aus der - unvollständigen - Wehrmachtskriminalstatistik und ebenso komplizierten wie überzeugenden Hochrechnungen (siehe Seite 122). Bislang war, vernebelnd, von 10000 bis 12000 Todesurteilen die Rede. Die Bundesregierung erhöhte die Zahl, ganz offiziell, in einer Antwort auf eine Große Anfrage der Grünen Ende vergangenen Jahres auf 16000.

40 Jahre nach dem Wirken und Wüten der furchtbaren Juristen wird belegt, daß alles noch furchtbarer war. Militärrichter und Ankläger beugten sich willenlos, die meisten willfährig, dem Unrecht. Es ist ein Hohn, wenn die Filbingers noch heute so tun, als habe es in der Militärjustiz von verkappten Widerständlern nur so gewimmelt.

Die Militärstrafjustiz im Dritten Reich war bisher einer der wenigen weißen Flecken der zeitgeschichtlichen Forschung. Daß er jetzt gelöscht wird, ist nicht der Historikerzunft zu verdanken, sondern dem pensionierten, aus dem Münsterland stammenden Manager Fritz Wüllner, 75, der endlich hatte wissen wollen, wie sein Bruder Heinrich 1941 im berüchtigten Emslandlager Esterwegen ("Wir sind die Moorsoldaten!") umgekommen war.

Jahrelang forschte Wüllner in den einschlägigen Archiven. Der Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr in Freiburg, Professor Manfred Messerschmidt, kooperierte dann bei der wissenschaftlichen Umsetzung des brisanten Materials.

Bisher galt eine Studie des Rechtsprofessors Erich Schwinge- »Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus« - als das Standardwerk schlechthin. Der Autor hätte aus reicher Erfahrung schöpfen können - vor dem Krieg als wissenschaftlicher Scharfmacher ("Die Aburteilung muß straff und schnell erfolgen und der Urteilsspruch sofort vollstreckbar sein"), im Krieg als

Kriegsrichter oder Ankläger -, tatsächlich schönte und verdrängte er.

1936 verfaßte Schwinge den tonangebenden Kommentar zum Militärstrafgesetzbuch, der bis 1944 sechs Auflagen erreichte. Auch in der »Zeitschrift für Wehrrecht« fand er stets die rechten Worte: »Willige Hingabe«, »Opferbereitschaft«, »bedingungsloser Gehorsam«. »Manneszucht«, forderte er, »geht vor Kameradschaft.«

Harte Strafen waren seiner Meinung nach die Grundvoraussetzung für die Schlagkraft der Armee. »Ein einziger Freispruch in kritischer Zeit«, tönte Schwinge bei einer Rechtsdiskussion über Feindeinsätze, die Soldaten nicht zumutbar seien, »könnte schon die Wirkung haben, die Kampfbereitschaft der Truppe zu erledigen.«

Seine theoretischen Erwägungen durfte der Professor in die Tat umsetzen. Im Januar 1941 wurde er zum Kriegsgerichtsrat beim Gericht der Division 177 in Wien ernannt, später amtierte er zeitweilig auch in Belgien, Frankreich und in der Ukraine.

Sicher ist, daß Schwinge allein zwischen Januar 1944 und Februar 1945 als Ankläger neun Todesurteile beantragte und als Richter sieben verhängte - beispielsweise noch am 9. Februar 1945 gegen den Obergefreiten Josef H., 35, wegen »Zersetzung der Wehrkraft« ("Dienstentziehung durch Selbstverstümmelung"); H. hatte sich Petroleum gespritzt. Sogar Schwinge erkannte verschiedene Milderungsgründe, schob sie aber zackig beiseite.

Aus der Urteilsbegründung: _____« Bei der Strafzumessung hatte sich das Kriegsgericht » _____« die Frage vorzulegen, ob noch ein minderschwerer Fall ... » _____« angenommen werden könne. Obwohl vieles dafür sprach, » _____« nämlich die Unbescholtenheit des Angeklagten, seine sehr » _____« gute Führung in der Truppe, die Reue, die er über sein » _____« Vorgehen zeigt, das Geständnis ... der sehr gute » _____« Eindruck, den er bei Gericht hervorgerufen hat, » _____« schließlich auch der Umstand, daß er von drei Söhnen der » _____« einzige Überlebende ist, war das Gericht der Meinung, daß » _____« die außerordentlich heikle Ersatzlage es ... generell » _____« verbietet, Milde walten zu lassen. » _____« Der Angeklagte hat sich in höchst kritischer » _____« Situation dem Abgang an die Front entzogen, und er hat » _____« damit seinen Kameraden ein sehr gefährliches Beispiel » _____« gegeben. Einer solchen Pflichtwidrigkeit kann im » _____« Interesse der Manneszucht nur mit dem schärfsten » _____« Strafmittel - der Todesstrafe - begegnet werden. »

Bald nach dem Krieg wurde Schwinge wieder Strafrechtsprofessor an der Universität Marburg, zeitweise war er ihr Rektor. Er saß im Stadtparlament, wurde Anfang der fünfziger Jahre stellvertretender Landesvorsitzender der hessischen FDP und verteidigte in etwa 150 Strafprozessen wegen Kriegsverbrechen angeklagte Offiziere - unter anderen den früheren Generalfeldmarschall Albert Kesselring -, Soldaten und SS-Schergen.

Eine deutsche Karriere.

Sein größter Streich war die Herausgabe seines Buches über die Militärjustiz im Dritten Reich. Ursprünglich hatte das renommierte Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) den früheren Luftwaffenrichter und Oberstaatsanwalt Otto Peter Schweling beauftragt, sich mit diesem finsteren Kapitel zu beschäftigen. Als Schweling die Arbeit 1966 vorlegte, lehnte das Institut für Zeitgeschichte jedoch eine Veröffentlichung ab - Begründung: Sie sei »zu apologetisch« geraten.

Was auf den ersten Blick wie Zensur aussehen mochte, war historisch zwingend geboten. Hatten doch, wie der interne Bericht über ein Treffen alter Kameraden unumwunden bestätigte, ehemalige Heeresrichter sich, so IfZ-Direktor Martin Broszat, »fürsorglich ... um die Abfassung der einzelnen Kapitel« gekümmert, was »stärkste methodische Bedenken« auslösen mußte. »Der Mithandelnde als sein eigener Historiker«, merkte der Frankfurter Rechtsprofessor Michael Stolleis an, »das konnte kaum zu einem anderen Ergebnis führen.«

Fast zehn Jahre dauerte das Hin und Her um eine Publikation in der IfZ-Reihe »Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus«. Am 15. März 1976 - Schweling war mittlerweile verstorben - kam das endgültige Aus. Und nun hängte sich Schwinge rein.

Er machte aus dem Schweling-Manuskript, klotzend und klitternd, endgültig eine klassische Verteidigungsschrift; sein Fazit: Nie habe sich die deutsche Militärjustiz »zum blinden Werkzeug drakonischer Gesetze degradieren« lassen - in politischen Strafsachen hätte sie »nur selten zur Todesstrafe gegriffen«. Hitlers Wehrmachtsrichter erschienen nun als Garanten des Rechtsstaats.

Erst jetzt, zu spät für die Angehörigen Tausender Hingerichteter, die erfolglos vor Sozialgerichten um eine Hinterbliebenenrente kämpften, wird die Geschichte der Militärjustiz gründlich umgeschrieben. Wüllner und Messerschmidt entlarven eine Justiz, *___die das Unrechtssystem stabilisierte; *___die Hunderttausende von Soldaten kriminalisierte und ____mit dem Makel des Verbrechers noch brandmarkte, als der ____Krieg längst verloren war; *___die mehr Soldaten zum Tode verurteilte als die ____berüchtigten Sondergerichte

und Freislers Volksgerichtshof zusammen.

Eine Schreckensbilanz, einmalig in der Geschichte westlicher Völker. Im gleichen Zeitraum exekutierten die Armeen der USA, Großbritanniens und Frankreichs zusammen nur 300 Soldaten.

Wobei auffällt, daß - wie in Großbritannien beispielsweise - die Kriminalstatistik fast ausschließlich Morde an Soldaten verzeichnet. »In keinem Fall aber«, so Wüllner und Messerschmidt, »haben defaitistische Äußerungen wie in Deutschland ... zu Todesurteilen geführt.« Ein einziger US-Soldat wurde wegen Fahnenflucht tatsächlich hingerichtet, und selbst dieser Fall löste nach dem Krieg heftigste Diskussionen aus.

Zwar addiert sich die Zahl amerikanischer Kriegsgerichtsverfahren auf 1,7 Millionen. Aber, und das drückt Schwinge weg: 95 Prozent dieser Prozesse endeten mit geringfügigen Disziplinarstrafen ohne weitere Konsequenz, während in Deutschland selbst zu geringen Freiheitsstrafen verdonnerte Soldaten in spezielle Bataillone oder Gefangenenabteilungen geschickt wurden und bei Himmelfahrtskommandos ums Leben kamen.

In Deutschland gab es über tausend Gerichte, bei den Divisionen, den Feldkommandanturen oder an Bord von Kriegsschiffen und in der Ersatztruppe im Reich.

Oft fehlten im Feld Ärzte und Geistliche, an Juristen mangelte es nie. Rund 3000 amtierten in der Wehrmacht, abwechselnd als Richter, Ankläger, Untersuchungsführer oder Gutachter für die Gerichtsherren, ab Divisionskommandeur aufwärts bis zu den Oberbefehlshabern des Heeres, der Marine und der Luftwaffe, zum Befehlshaber des Ersatzheeres und zu Hitler selbst.

Die Militärjustiz übte eine doppelte Funktion aus: Sie erwies sich als Hort nationalsozialistischer Weltanschauung und versuchte mit allen Mitteln, die Schlagkraft der Wehrmacht zu erhalten. Sie politisierte sich selbst »immer weiter bis zur Sinnwidrigkeit ihres Tuns« (Wüllner).

Der angeblich gnädige Umgang mit aufbegehrenden Soldaten im Ersten Weltkrieg hatte die Militärjuristen angespornt, im Zweiten Weltkrieg rigoros durchzugreifen. Von 1914 bis 1918 hatten Kriegsgerichte lediglich 150 Todesurteile verhängt, davon 32 wegen Mordes, nur 48 wurden vollstreckt. Das sollte nicht wieder vorkommen.

Obgleich die Weimarer Republik eine Militärjustiz abgelehnt hatte, spukte deren vermeintliches Versagen in vielen Köpfen. So machte der einflußreiche Jurist Heinrich Dietz 1923 die »schwächliche Handhabung des Strafrechts« während des Krieges dafür verantwortlich, daß »auf den Bahnen, in den großen Städten, in der Etappe« herumtreibende »Verbrecher ... wesentlich zum Zusammenbruch« beitrugen.

Der Weltkrieg-I-Gefreite Adolf Hitler schrieb im gleichen Jahr am ersten Gebot für den Soldaten: »Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.« Fortan pflegten er und andere das 18er Trauma als »Knochenerweichung des Liberalismus«.

Daß »praktisch die Todesstrafe ausgeschaltet« worden sei, ergänzte Hitler in »Mein Kampf«, habe »sich entsetzlich gerächt«. Elf Jahre später, als die Militärjustiz längst etabliert war, kam er als Reichskanzler auf die alte Thematik zurück: »Nur ein Staat hat von seinen Kriegsartikeln keinen Gebrauch gemacht, und dieser Staat ist dafür zusammengebrochen: Deutschland.«

Heimlich, still und leise entwickelten juristische Experten scharfe Spezialvorschriften, von denen einige erst einmal in den Schubladen der Ministerien verborgen blieben. Das Heimtückegesetz wurde erdacht, die Volksschädlingsverordnung, die Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) und deren Pendant, die Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO). Neue Begriffe tauchten auf wie das schlimme Wort von der Wehrkraftzersetzung, das sich zu fast allen Straftatbeständen verbiegen ließ: Zersetzung der Wehrkraft war, laut amtlicher Definition, jedwede »Störung oder Beeinträchtigung der totalen völkischen Einsatzbereitschaft« im Kriege.

Neue Maßstäbe galten. Etwa der, wie von Gott gegeben: »Recht ist, was der Führer will.« Die Nationalsozialisten und ihre gelehrten Helfer hatten einen Paragraphen-Apparat geschaffen, der, so urteilen Wüllner und Messerschmidt, »von einer scharf durchgreifenden Justiz intensiv und extensiv benutzt wurde«.

Strafe war nicht mehr individuelle Sühne. Strafe war staatlicher Reinigungsakt und Rache dafür, daß der Täter die »Treuepflicht gegenüber der Gemeinschaft« verletzt hätte.

Solch »völkisch-kämpferischen Charakter« (ein Generalstäbler) nahm auch das Wehrstrafrecht an, und mit diesem »Holzschnitt-Instrumentarium«, so die Autoren, »konnte der stramme Militärrichter schreckliche Urteile wegen Lappalien begründen«.

Bei den Feldgerichten ebenso wie beim Reichskriegsgericht und dem (erst im April 1944 geschaffenen) Zentralgericht des Heeres gab es nur eine Tatsacheninstanz. Darüber thronte der Gerichtsherr, ein Fossil aus der Zeit des landesfürstlichen Absolutismus, als der Monarch einen Teil seiner Befugnisse an den Befehlshaber der Truppen und dieser sie wiederum an seine Kommandeure delegierte.

Der Kommandeur-Gerichtsherr, diese einmalige, allen Gewaltenteilungsprinzipien hohnsprechende Verquickung von Exekutive und Judikative, leitete ein Verfahren ein, verfügte über die Anklageerhebung,

akzeptierte den Spruch oder verwarf ihn. Die Bestätigung eines Urteils gegen Offiziere hatte sich Hitler vorbehalten.

Als Anklagevertreter waren die Militärjuristen weisungsgebunden, nicht jedoch als Gerichtsvorsitzende (wie sie aber später oft zur Entschuldigung suggerierten). Vizeadmiral Walter Warzecha, Chef des Marine-Wehramtes, ein Scharfmacher in höchster Position, konnte getrost erklären: »An der Unabhängigkeit des Richters im erkennenden Kriegsgericht hat das Kriegsverfahren nicht gerüttelt und wird das auch nicht tun.«

Denn »Unabhängigkeit«, von den Rechtskundigen vollauf auch so akzeptiert, setzte unbedingte Regimetreue voraus; Warzecha: _____« Die Kriegsgerichte haben eine Führungsfunktion, und » _____« zwar eine doppelte: Sie sind Organ der allgemeinen » _____« Staatsführung, indem sie durch die Härte des Strafrechts » _____« die Durchführung der staatspolitischen Weisung auf allen » _____« Lebensgebieten sichern. Sie sind darüber hinaus aber - » _____« und das unterscheidet sie grundsätzlich von anderen » _____« Gerichten - Organ der militärischen Führung. »

Mit der gleichen Schneidigkeit, wie die Truppe marschierte, wurden die Militärjuristen bei Kriegsbeginn zu »Anwälten rigoroser, erbarmungsloser Anwendung« (Wüllner und Messerschmidt) der NS-Vorschriften. Mindestens ein Todesurteil pro Tag war trotz Siegesstimmung im Polen-Feldzug der statistische Schnitt, Hauptdelikt war Fahnenflucht.

Dieses Höllentempo schien selbst Hitler zu irritieren, der seine Truppe zusammenhalten wollte. Jedenfalls erließ er im April 1940 neue Richtlinien für die »Strafzumessung bei Fahnenflucht«. Danach sollte auf die Todesstrafe verzichtet werden, wenn »jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe für den Täter hauptsächlich bestimmend waren«.

Die Richter kuschten, vorübergehend. In den folgenden Monaten legten sie bei Todesurteilen Zurückhaltung an den Tag, zumal auch der Chefjurist im Ersatzheer tadelte: »Der schnelle Abschluß eines Verfahrens darf ... nicht durch Verzicht auf wichtige Beweismittel erreicht werden, wenn ein solcher Verzicht die Gefahr eines Fehlurteils in sich birgt«.

Freilich, unterm Strich blieben solche Einwirkungen auf den Juristenstand - auch Hermann Göring versuchte sich da - »nur von relativer Bedeutung« (Wüllner). Denn die Richter schafften es immer wieder, als »Innovatoren aus eigener Machtvollkommenheit« die an sich schon harschen Bestimmungen in unmenschliche Dimensionen auszudehnen - wie bei der Anwendung des berüchtigten Manneszucht- und Feigheitsparagraphen 5a der Kriegssonderstrafrechtsverordnung, wenn wegen Selbstverstümmelung, Defätismus, Fahnenflucht, unerlaubter Entfernung, Diebstahls angeklagt wurde.

Wer ein Feldpostpäckchen klaute, waren auch nur zwei Maggiwürfel drin oder Tabak für drei Pfeifen, der riskierte, wie tatsächlich geschehen, Kopf und Kragen. »Der Feldpostmarder«, wetterte ein Kriegsgerichtsrat, sei »eine der gemeinsten Verbrechernaturen«, und er mahnte die Kollegen, sie müßten als erste das »Ohr am Pulsschlag der Truppe« haben, um »die Zeichen der Zeit« zu erkennen.

Nichts mehr galt vom eisernen Grundsatz in dubio pro reo. Auf einen Verteidiger wurde selbst in Prozessen mit möglichem Todesurteil verzichtet, wenn der »Bewegungskrieg« es erforderte. Die Angeklagten waren wehrlos - wie der Grenadier Richard S.

An einem kalten Dezembermorgen hatte sich der 37jährige Familienvater durch ein Loch im Kasernenzaun gewunden und war in einer Scheune verschwunden, die nur fünf Meter entfernt stand. In Uniform, aber ohne Mantel und Koppel, vergrub er sich tief ins Heu, zu essen hatte er nichts, den Durst löschte er mit Schnee.

Nach fünf Tagen kehrte Richard S. freiwillig in die Kaserne zurück, völlig verstört und mit schweren Erfrierungen an beiden Füßen, die ihm alle Zehen kosteten. Kein Fall für den Seelenarzt, ein Fall fürs Kriegsgericht.

Er habe sich, erklärte der Angeklagte, »von Russen verfolgt gefühlt, fahnenflüchtig wollte ich nicht werden«. Das Urteil: zwei Jahre Gefängnis wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe.

Aus der Begründung: _(Oben: Stellungnahme des zuständigen ) _(Gerichtsherrn im Fall Reschny; darunter: ) _(von Kriegsrichter Schwinge 1945 wegen ) _("Plünderung« zum Tode verurteilter Anton ) _(Reschny. Der zur Tatzeit 17 Jahre alte ) _(Soldat hatte in Wien bei ) _(Aufräumungsarbeiten nach einem ) _(Fliegerangriff einen goldenen Ring, zwei ) _(Uhren, eine Geldbörse und eine ) _(Brieftasche, beide leer, an sich ) _(genommen. Reschny, damals von ) _(Reichsführer SS Himmler begnadigt, lebt ) _(heute als Rentner in Wien. ) _____« Strafverschärfend mußte ... berücksichtigt werden, » _____« daß sich der Angeklagte die Erfrierungen, die ihn in » _____« Zukunft nur noch bedingt tauglich machen werden, durch » _____« eigene Unachtsamkeit während seines Verweilens in der » _____« Scheune zugezogen hat. Er wußte, daß seine Stiefel zu eng » _____« waren, und er hätte die Pflicht gehabt, sie abzulegen, » _____« als er merkte, daß Erfrierungsgefahr bestand. »

Milderungsgründe entdeckten die Richter bei Richard S. nicht - dafür aber beim Grenadier Karl Str., angeklagt wegen Selbstverstümmelung.

Der junge Bursche hatte mit seinem Bataillon gleich beim ersten Einsatz nahe der polnischen Stadt Warka »tagelang in schwerem feindlichen Feuer gelegen«, wie das Gericht feststellte. Auch nachts

habe er »wenig Ruhe gehabt und war infolge der Kampflage nicht ausreichend versorgt worden. All dem, insbesondere den für ihn neuartigen Kampfeindrücken, die zu plötzlich in so starker Form auf ihn einstürmten, war der knapp 18jährige Angeklagte nicht gewachsen«.

Als neben Karl Str. im Laufgraben »ein guter Freund von ihm fiel, verlor er vollends den Kopf« (Gericht) - und schoß sich mit seinem Gewehr in die rechte Hand. Todesstrafe.

Denn Karl Str. habe »die Tat im Kampfeinsatz und noch dazu in schwerster Notzeit des deutschen Volkes begangen, wo es auf jeden Mann ankommt«, begründete das Gericht. »Auch aus Abschreckungsgründen« sei »Milde nicht am Platze« gewesen.

Abschreckung - dieser Begriff tauchte nirgendwo im Gesetz auf, Juristen erfanden ihn für Führer und Vaterland und bedienten sich des Vokabulars aus dem Wörterbuch des Untermenschen. »Üble Drückeberger«, »lebensunwertes Leben«, »haltlos degenerativ«, »als Mensch verroht«. Es sei »nicht einzusehen«, heißt es in einem Todesurteil, »warum sich die Gemeinschaft mit solchen Tätern herumschlagen soll, während auf der anderen Seite jetzt im Kriege das beste deutsche Blut auf den Schlachtfeldern sein Leben einsetzt«.

NS-Ideologen, kräftig unterstützt von Juristen wie Schwinge und Psychiatern wie Carl Schneider, entwarfen das Menschenbild des versagenden, schwächlichen Psychopathen, bei dem Strafmilderungsgründe wegzufallen hatten. Neurotiker wurden für ihre Neurosen selbst verantwortlich gemacht. Schneider forderte, »mangelnden Gesundheitswillen während der Therapie unter Strafe zu stellen« - Tatbestand: »Zersetzen der Wehrkraft«.

Auch wenn ausdrücklich verminderte Zurechnungsfähigkeit oder gar völlige Unzurechnungsfähigkeit attestiert wurden, schickten Richter und Gerichtsherren Angeklagte in den Tod - wie der Fall des Oberschützen Paul Sk. belegt.

Laut psychiatrischem Gutachten gehörte Paul Sk., angeklagt der Fahnenflucht, »zweifellos zu einer Gruppe von Schwachsinnigen, die wir als Debilität bezeichnen«, seine »Begabungsanomalie« sei angeboren. »Er wurde bei seiner konstitutionellen Neigung zu neuroleptischen Äußerungen«, erklärte der Facharzt, »auch nicht durch einen klaren Verstand auf sinngemäßes Handeln hingewiesen.«

Paul Sk. half dies nichts, der Gerichtsherr bestätigte das Todesurteil wegen Fahnenflucht und ordnete die Vollstreckung an. Es bestehe »kein Anlaß, das Leben eines solchen Menschen dadurch zu erhalten, daß seine Tat milder beurteilt wird«.

Sechsmal wurde im Laufe des Krieges die KSSVO, elfmal die KStVO verschärft, Dutzende Vorschriften garantierten schließlich die Todesstrafe. Sondergesetze beherrschten die Tribunale, keinesfalls »das vergleichsweise liberale Militärstrafrecht aus dem Kaiserreich«, wie »FAZ«-Kommentator Friedrich Karl Fromme noch im letzten September glauben machen wollte.

Eugen Wasner, Buchhalter von Beruf und Anfang 50, war mit Adolf Hitler zusammen in die Volksschule von Leonding bei Linz gegangen, jetzt, im Herbst 1943, diente er als Gefreiter in einer Infanteriekompanie an der Ostfront. Daß er »Adi« gut kannte, nutzte Wasner weidlich aus - offenbar war er überzeugt, ihm könne so schnell nichts geschehen.

Wenn die Wehrmachtsberichte über den Rundfunk kamen, spielte er den Kritiker Hitlerscher Strategie, begleitet vom Beifall der Kameraden. Sie stachelten den schrulligen, redseligen Wasner immer weiter auf bis eines Tages jemand den Vorschlag machte, dem obersten Kriegs- und Feldherrn doch zu schreiben. Der wisse bestimmt nicht »wie es unten beim einfachen Landser« aussehe.

Darauf Wasner: »Ach, der Adolf! Der ist ja deppert schon von klein auf, wo ihm doch ein Ziegenbock den halben Zippedäus abgebissen hat!«

Staunen bei den Kameraden, und Wasner fuhr fort: _____« Jawohl, ich bin doch selbst dabeigewesen. Eine Wette » _____« hat er gemacht, der Adi, daß er einem Ziegenbock ins Maul » _____« pinkeln würde. Als wir ihn ausgelacht haben, hat er » _____« gesagt: Kommt''s mit, wir gehen auf die Wies'', da ist ein » _____« Ziegenbock. »

Wasner will das Tier zwischen seinen Beinen gehalten haben, ein anderer Freund, der Kneisel Bruno, »hat dem Ziegenbock mit ''nem Stock das Maul aufgesperrt, und der Adolf hat dem Bock ins Maul gepinkelt«. Dann sei es geschehen: _____« Grad'' als er dabei war, hat der Freund den Stock » _____« weggezogen, der Bock hat hochgeschnappt und dem Adolf in » _____« den Zippedäus gebissen. Geschrien hat der Adi da aber » _____« fürchterlich und ist heulend davongelaufen. »

Der Kompaniechef, ein offenbar erfahrener Soldat, wollte Wasner zu der Aussage drängen, er habe sich nur »einen dummen Scherz ausgedacht«. Der aber blieb dabei: »Was wahr ist, muß wahr bleiben.«

Zwei Tage danach saß Wasner in Untersuchungshaft, kurze Zeit danach stand er in Berlin vor dem Zentralgericht des Heeres.

Der Zeuge Kneisel war tot, der Zeuge Hitler wurde natürlich weder vernommen noch gar geladen: Todesstrafe, weil sich der Angeklagte »durch üble Äußerungen über den Führer der Heimtücke und der Wehrkraftzersetzung« schuldig gemacht habe.

»Bei Jesus und Maria, er hat''s aber doch getan, der Adi«, seufzte Wasner, und dann, als er auf den Richtplatz geführt wurde, sagte er weinend seinem Verteidiger Dietrich Wilde: »Ein Menschenleben

gilt für nix, aber ich hoffe doch im Himmel droben.« _(Dietrich Wilde hat unter dem ) _(Pseudonym Dietrich Güstrow das Schicksal ) _(Wasners beschrieben in seinem Buch: ) _("Tödlicher Alltag. Strafverteidiger im ) _(Dritten Reich«. dtv; 1984. )

Die Modalitäten einer Exekution, etwa der Erschießung, waren bis in die kleinste Einzelheit geplant und festgelegt. Der Verurteilte mußte im Drillichanzug »mit einem geschlossenen oder mit Plane zugedecktem Lkw« herangekarrt werden, »kein Pkw, da Rücktransport des Sarges«. Ort der Vollstreckung laut internem Merkblatt: _____« Zweckmäßig M.G.-Schießstand. Alle Wege durch » _____« Doppelposten rechtzeitig absperren. Am Ende des Standes » _____« wird mitten vor dem Kugelfang ein Pfahl fest in die Erde » _____« eingelassen, der über dem Erdboden etwa 2 m mißt. Ist ein » _____« Schacht für die Pfähle der M.G.-Scheiben bereits » _____« vorhanden, so kann der Pfahl in diesen Schacht versenkt » _____« werden. Bei dem Pfahl Strick zum Anbinden. Sarg in der » _____« Nähe, aber unsichtbar für den Verurteilten. »

»Größte Schnelligkeit« war verlangt, »gründliche und eindringliche Belehrung des Vollstreckungskommandos. Es darf keine nervösen Versager geben«.

Danach: »Stroh im Sarg wegen des Blutes... Der Führer des Vollstreckungskommandos läßt den Pfahl ausheben, beiseite bringen und mit Erde bedecken, damit das Blut herausgesaugt wird. Blutspuren auf dem Stand läßt er beseitigen, den Stand im übrigen wieder ordnen«.

Unter Absatz III Punkt 8 bestimmten seelenlose Bürokraten: »Reichseigenes Schuhwerk ist ... auszuziehen und erneut zu verwenden.« Den in den Holzverschlägen ruhenden Toten wurden die Augen geschlossen und die Arme auf der Brust gekreuzt. »Man soll später ... den Deutschen in dieser Hinsicht keinen Vorwurf machen«, schrieb der Kriegsrichter in Paris Ernst Roskothen.

In Frankreichs Hauptstadt war auch Ernst Jünger, damals 46, stationiert. Seinem Tagebuch »Strahlungen« vertraute der Oberleutnant im Mai 1941 an, »zur Aufsicht bei der Erschießung eines wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilten Soldaten« abkommandiert worden zu sein. Erst wollte der »Stahlgewitter«-Autor nicht, schließlich überkam ihn doch eine »höhere Neugier«.

Wie ein Voyeur beschrieb Jünger den todbringenden Vorgang, mit Liebe zum Detail; so weckte eine Fliege, die den gefesselten Delinquenten umschwirrte und »sich einige Male dicht neben seinem Ohr festsetzte«, ganz das Interesse des Betrachters. Nach der Exekution, der zerschossene Leichnam lag im Sarg, war Jünger, »als spielte die kleine Fliege in einem Sonnenstrahl darüber hin«.

Der einfache Landser hat jene Szenen anders mitbekommen. Die letzten Sekunden im Leben eines 19jährigen Berliner Panzerschützen schilderte ein Kamerad mit diesen Worten: _(In: Norbert Haase: »Deutsche ) _(Deserteure«. Rotbuch Verlag; 1987; 14 ) _(Mark. ) _____« Der arme Kerl kriegte die volle Ladung in die Brust » _____« und sackte in sich zusammen, lebte aber noch. Der lebte. » _____« Und der stöhnte unheimlich. Schließlich kam der » _____« Hauptfeldwebel mit seiner 08, ging ran und - das war für » _____« uns das allerschlimmste - knallte dem so zwei, drei » _____« Dinger in den Kopf. »

Obgleich laut Heeresdienstvorschrift und Kriegsstrafverfahrensordnung die

Todesstrafe stets »durch Erschießen« vollstreckt werden sollte, entschieden etliche Gerichtsherren auf Erhängen oder Köpfen - für sie offenbar unsoldatischere, auf jeden Fall grausamere Formen der Hinrichtung. Um einen Scharfrichter samt Gehilfen zu engagieren, wurde mitunter durchs halbe Reich telephoniert, eine makabre Akquisition.

An einem 15. Juni, Punkt 11.30 Uhr, wurden fünf in Wien verhängte Todesurteile bestätigt, fernmündlich ordnete der Chef der Heeresjustiz, Generalstabsrichter Karl Sack, an, sie müßten »noch heute« vollzogen werden. Was zunächst nicht klappte, denn der »nächste ordentliche Hinrichtungstermin« sei erst am 21. Juni, teilte die Staatsanwaltschaft Wien dem Gericht mit.

Der verantwortliche Oberkriegsgerichtsrat setzte sich »nach Entgegennahme dieser Meldung« mit dem Generalstaatsanwalt persönlich in Verbindung und bat dringend, »die Gestellung eines Scharfrichters betreiben zu lassen« - Sack in der Reichshauptstadt Berlin, der später wegen Beteiligung am Attentat auf Hitler hingerichtet wurde, hatte Dampf gemacht.

Bis 16.30 Uhr an jenem Tag konnte der Generalstaatsanwalt keine definitive Zusage machen, obgleich er in München und Prag angerufen hatte. Der Oberkriegsgerichtsrat nahm die Sache selbst in die Hand und vermerkte, ganz selbstzufrieden: »Um 17 Uhr erfolgte die Zusage durch den Herrn Oberstaatsanwalt in München, daß der Scharfrichter Reichhart die Vollstreckung des Urteils durch Erhängen am 16. 6. um 18.00 Uhr in Wien durchführen werde.« _(Johann Reichhart vollstreckte ) _(zwischen 1940 und 1945 an Zivilisten und ) _(Soldaten 2805 Todesurteile. )

Schnelligkeit hier; anderswo, wie bei den Gerichten der in Italien operierenden Heeresgruppe C, erachteten es die Verantwortlichen für »zweckmäßig«, nach Möglichkeit mehrere Exekutionen gemeinsam durchzuführen, auch »aus Gründen der Benzinersparnis«.

Alle Hinrichtungen wurden genauestens protokolliert, wie im Fall des 26jährigen Gefreiten Franz Baumgartner, zum Tode verurteilt vom Gericht der Division 418 in Salzburg.

Für Punkt 16.50 Uhr war die Vollstreckung angeordnet, auf die Sekunde genau meldete der Scharfrichter, »daß das Richtgerät in Ordnung sei«. Um »16 Uhr 51 Minuten wurden dem Verurteilten die Hände auf dem Rücken gefesselt... Nach vorheriger Entblößung der Schultern wurde er ohne Widerstreben auf die Richtbank gelegt und der Kopf durch das Fallbeil vom Rumpf getrennt«.

»Die Vollstreckungshandlung dauerte: a) vom Zeitpunkt der Vorführung bis zur Übergabe an den Scharfrichter 20 Sekunden, b) von der Übergabe an den Scharfrichter bis zur vollendeten Vollstreckung 20 Sekunden« (Protokoll).

Das Todesdokument trug die Unterschrift eines Kriegsrichters, der als »Leiter der Vollstreckung« amtierte. Dies war, neben seiner Tätigkeit als Untersuchungsführer, Ankläger, Sitzungsleiter und Gutachter, die fünfte Funktion eines Militärjuristen.

Solch rasch wechselnde Aufgaben führten zwangsläufig zur justiziellen Inzucht. Wer gestern ermittelte, heute anklagte, morgen urteilte oder übermorgen die Urteile zu begutachten hatte, verfing sich leicht im Netz der Fakten und Mutmaßungen.

Eine abgeschottete Clique arbeitete da, die »jeden nur denkbaren Vorwurf« unrechtmäßigen Handelns glatt »zum Schweigen bringen konnte«, so die Autoren. Diese, für viele Angeklagte tödliche Form rechtlicher Symbiose sollte auch gegen Richter benutzt werden.

So beschwerte sich ein Divisionsrichter im Namen »von Kameraden« über einen Kollegen, der »in letzter Zeit bei sehr geringer Arbeitsbelastung eine auffallende Nervosität« gezeigt hätte. Im Schreiben an den Korpsrichter ("Geheim!") monierte er, daß der Mann Hauptverhandlungen deshalb vertage, »weil er sich an die Verhängung schwerer Strafen innerlich nicht herantraut« - gemeint waren Todesurteile.

Der so attackierte Richter Karl Paschinger konnte sich des Drucks von außen erwehren. Als einer der ganz wenigen »verlor er das Prinzip Gerechtigkeit bei keinem Strafverfahren aus den Augen« (Wüllner). Inwieweit er sich mit rabiaten soldatischen Beisitzern - der eine hatte Offizier zu sein, möglichst Stabsoffizier, der andere zur Rangklasse des Angeklagten zu gehören - auseinandersetzen mußte, läßt sich wegen des Beratungsgeheimnisses nicht mehr klären. Aber es liegt auf der Hand, daß sich die Volljuristen (erst in der Götterdämmerung des Nazi-Reiches, als Hitler Fliegende Standgerichte einsetzte, urteilten ausschließlich Soldaten) mit den Schöffen arrangierten - bei Urteilen jedweder Art.

Obgleich die Soldaten eine Mehrheit von 2 : 1 Stimmen besaßen, kamen doch serienweise Todesurteile zustande. Daß sie auf Kurs gewesen sein mußten, beweist auch hinlänglich die Lässigkeit, mit der Strafen ausgesprochen wurden bei gleichzeitiger Aberkennung der »Wehrwürdigkeit«, was für die Angehörigen zu Hause fatalerweise die Streichung des Unterhalts bedeutete.

Die Beisitzer mußten spätestens seit November 1939 wissen, daß es »während des Krieges ... keine Verbüßung von Zuchthaus- und Gefängnisstrafen gibt«, wie es in den »Heeresmitteilungen« Nummer 808 unter der Überschrift »Belehrung für die Truppe« ausdrücklich hieß. Die Verurteilten wurden vielmehr »in Freiheitsentziehung genommen«, ein harmloses Wort - mit lebensgefährlichen Folgen.

Im nächsten Heft

60 kriegsstarke Divisionen Vorbestrafter - Verurteilte waren vogelfrei - Himmelfahrtskommandos in Strafbataillonen

Die Namen betroffener Soldaten sind, wenn ihr weiteres Schicksalnicht bekannt ist oder sie trotz Todesurteil den Krieg überlebthaben, abgekürzt. Namen werden genannt bei erwiesener Hinrichtungoder bei ausdrücklicher Genehmigung.Zusammen mit Hauptmann Huth am 8. April 1945 in Wien nach einemStandgerichtsurteil von einem SS-Kommando der Leibstandarte »AdolfHitler« erhängt.Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner: »Die Wehrmachtsjustiz imDienste des Nationalsozialismus - Zerstörung einer Legende«. NomosVerlagsgesellschaft, Baden-Baden; 365 Seiten; 44 Mark.Oben: Stellungnahme des zuständigen Gerichtsherrn im Fall Reschny;darunter: von Kriegsrichter Schwinge 1945 wegen »Plünderung« zumTode verurteilter Anton Reschny. Der zur Tatzeit 17 Jahre alteSoldat hatte in Wien bei Aufräumungsarbeiten nach einemFliegerangriff einen goldenen Ring, zwei Uhren, eine Geldbörse undeine Brieftasche, beide leer, an sich genommen. Reschny, damals vonReichsführer SS Himmler begnadigt, lebt heute als Rentner in Wien.Dietrich Wilde hat unter dem Pseudonym Dietrich Güstrow dasSchicksal Wasners beschrieben in seinem Buch: »Tödlicher Alltag.Strafverteidiger im Dritten Reich«. dtv; 1984.In: Norbert Haase: »Deutsche Deserteure«. Rotbuch Verlag; 1987; 14Mark.Johann Reichhart vollstreckte zwischen 1940 und 1945 an Zivilistenund Soldaten 2805 Todesurteile.

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