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»Ein nach vorn blickendes Land«

Premierminister Atal Behari Vajpayee über Indiens Zukunft und die Eindämmung des Bevölkerungszuwachses, über Delhis Ambitionen als Südasiens Vormacht und den fortdauernden Konflikt mit Pakistan
Von Olaf Ihlau, Stefan Aust und Padma Rao
aus DER SPIEGEL 50/1999

SPIEGEL: Herr Premierminister, in wenigen Wochen geht die Welt mit sechs Milliarden Menschen in ein neues Millennium. Als Regierungschef Indiens vertreten Sie ein Sechstel der Weltbevölkerung und ein Land mit ungebremstem Bevölkerungswachstum. Wie wollen Sie damit künftig zurechtkommen?

Vajpayee: Wir haben den Bevölkerungszuwachs immerhin reduziert, allerdings nicht in dem Maße, wie wir das brauchten ...

SPIEGEL: ... noch immer wächst Indien jährlich um über 15 Millionen, das entspricht fast der Einwohnerzahl von Australien. Das Thema Bevölkerungskontrolle war wegen staatlicher Übergriffe in den siebziger Jahren, etwa der Zwangssterilisation, lange ein Tabu.

Vajpayee: In der Tat hatten nach der Zeit des damaligen Ausnahmezustands und allem, was damit zusammenhing, die nachfolgenden Regierungen Angst, dieses Thema anzupacken. Aber meine Regierung wird jetzt eine neue Bevölkerungspolitik zur Diskussion stellen, die ein breites Spektrum von Anreizen und Auflagen bei der Geburtenentwicklung umfasst.

SPIEGEL: Mit durchschlagendem Erfolg?

Vajpayee: Wir haben da gute Chancen. Und im Übrigen ist die Bevölkerungsexplosion nicht nur ein Problem Indiens. Dennoch, dieses Land ist wirtschaftlich im Aufbruch, und das wird überall seine Früchte tragen.

SPIEGEL: Hightech-Inseln, das Symbol für den Aufbruch, sind die eine Seite der Entwicklung Indiens. Auf der anderen stehen Armut und weite Teile der Bevölkerung, die in ihrem Wertesystem noch dem Mittelalter verhaftet sind, wie gerade erst ein neuer Fall von »sati«, von Witwenverbrennung, in Uttar Pradesh offenbarte.

Vajpayee: Das war kein Fall von »sati«, sondern Selbstmord.

SPIEGEL: Es gibt auch andere Darstellungen. Gleichwohl: 34 Prozent der Inder leben noch immer unterhalb der Armutsgrenze, nahezu 50 Prozent sind Analphabeten. Was will Ihre Regierung dagegen tun?

Vajpayee: Eine ganze Menge. Wir hoffen, während unserer Amtszeit die Grundlagen einer wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft legen zu können. Unser Programm, das ein kräftiges Wirtschaftswachstum von nahezu acht Prozent anpeilt - ohne dabei die soziale Entwicklung aus dem Blick zu verlieren -, sollte erste Erfolge schon Anfang des kommenden Jahrhunderts erbringen.

SPIEGEL: Wird das auch den unteren Schichten weiterhelfen?

Vajpayee: Die unteren Schichten bekommen über gezielte Förderung mehr und mehr Einfluss in allen Teilen der Gesellschaft, in Parlament und Verwaltung. Wir sind entschlossen, unsere Anstrengungen auf die Bereiche Grundausbildung, Gesundheit sowie die Entwicklung auf dem Lande zu konzentrieren. Im Verein mit wirtschaftlichen Reformen wird dies das Profil unserer Gesellschaft entscheidend verändern - und zwar in Richtung auf eine dynamische, nach vorn blickende und voranschreitende Nation, die gerüstet ist für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

SPIEGEL: Bislang führt aber der Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung auch in Indien dazu, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert.

Vajpayee: Früher pflegten wir zu sagen, dass die Reichen reicher werden und die Armen ärmer. Das sagen wir nicht länger. Die Reichen werden reicher, aber die Armen nicht ärmer. Vielmehr verbessert sich ihre Lage.

SPIEGEL: Hat der Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung den Prozess des Umdenkens bei Ihnen befördert?

Vajpayee: Ja, unsere Einstellung hat sich grundlegend verändert. Früher überwog der Glaube, die Armut könne geteilt werden. Eine sozialistische Umverteilung der Besitztümer sollte jedermann glücklich machen. Doch das klappte nicht. Heute spüren immer mehr Menschen, dass sie sich ihren Platz in der Gemeinschaft selber erringen und verdienen müssen.

SPIEGEL: Indien war in den fünfziger bis siebziger Jahren einer der Vorreiter der Blockfreien-Bewegung. Welche Rolle glaubt Indien im Zeitalter der wirtschaftlichen Globalisierung ausüben zu können?

Vajpayee: Wir sind ein Entwicklungsland. Wir müssen unsere nationalen Interessen wahren und auch die Interessen der anderen Entwicklungsländer vertreten. Indien versucht, als Brücke zwischen entwickelten und unterentwickelten Staaten zu dienen. Diese Rolle wollten wir jetzt auch in Seattle spielen.

SPIEGEL: Die Konferenz der Welthandelsorganisation dort endete für Sie mit einer Enttäuschung?

Vajpayee: So kann man das ausdrücken.

SPIEGEL: Wer war der Hauptschuldige für den Fehlschlag - die Amerikaner mit ihrem rigorosen Beharren auf Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen?

Vajpayee: Ich denke hier nicht in Kategorien von Schuld. Aber in dieser Frage gab es schroffe Gegensätze. Wir sind der Meinung, dass die Mindeststandards gesichert und weiterentwickelt werden müssen. Doch dafür ist die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, zuständig. Für unsere

Position zeigten die Europäer Verständnis, während Japan sich auf die Seite der Vereinigten Staaten schlug.

SPIEGEL: Was für ein Verhältnis strebt Indien zur Europäischen Union an, abgesehen von den Handelsbeziehungen?

Vajpayee: Wir bewegen uns auf eine multipolare Welt zu. Indien und Europa werden unabhängige Pole in einer solchen Welt sein. Deshalb begrüßen wir die wachsende Integration Europas und seine politische Profilierung. Bei den Wirtschaftsbeziehungen hoffe ich auf eine weitere Vertiefung, während wir zu einem zweiten Anlauf für wirtschaftliche Reformen ansetzen.

SPIEGEL: Asiens Zukunft wird im kommenden Jahrhundert wesentlich von Indien und China geprägt werden. Bislang waren die Beziehungen zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt gespannt oder indifferent. Was steht einem politischen Ausgleich im Wege?

Vajpayee: Indiens Beziehungen zu China haben sich in den letzten Jahren verbessert. Wir sind dabei, in ständigem Dialog noch einige bilaterale Streitigkeiten zu schlichten, etwa bei der Grenzziehung. In diese Gespräche sind wir mit der Zuversicht gegangen, dass wir auf der Basis des Verständnisses für die jeweiligen Sorgen des anderen alle offen stehenden Fragen zwischen uns lösen können.

SPIEGEL: Sieht Indien in China mehr die nukleare Bedrohung oder den Rivalen beim Wettlauf um die Spitzenplätze in der neuen Weltwirtschaftsordnung?

Vajpayee: Wir blicken auf China nicht in solchen Kategorien. China ist - wie Indien - eine große Zivilisation. Gemeinsam standen wir in der Blockfreien-Bewegung für die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz ein. Und im friedlichen Dialog werden wir auch alle offenen Probleme klären.

SPIEGEL: Könnte die Notwendigkeit, ethnische und andere Konflikte im zentralasiatischen Raum um Afghanistan unter Kontrolle zu halten, Indien und China in ein gemeinsames Bündnis zwingen?

Vajpayee: Ganz gewiss verbinden uns mit China und Russland dort gemeinsame Interessen. Doch die Grundlage für unsere Zusammenarbeit ist viel breiter als die Eindämmung von Konflikten: Wirtschaftliche Möglichkeiten und kulturelle Verknüpfungen binden uns in Zentralasien aneinander.

SPIEGEL: Beim letzten Besuch eines russischen Premiers in Delhi hat dieser Indien und China zu einer stillschweigenden Allianz gegen die globale Hegemonie Amerikas ermuntert. Ist die US-Dominanz seit dem Ende des Kalten Krieges zu erdrückend geworden?

Vajpayee: Erlauben Sie mir, dass ich Sie hier korrigiere. Solch ein Vorschlag wurde nicht unterbreitet, der russische Premier selber hat das klargestellt. Doch unabhängig davon ist es schlicht logisch, eine Kooperation zwischen Indien und China zu befürworten ebenso wie zwischen Indien und Russland. Mit Russland verbindet uns ein Verhältnis, das auf Vertrauen, Freundschaft und Zusammenarbeit beruht. Diese Kooperation ist keine konzertierte Strategie gegen irgendein anderes Land.

SPIEGEL: Herr Premierminister, Sie gehörten stets zu den Befürwortern der nuklearen Option. Was hat Indien mit den Atombombentests gewonnen außer einem Wettrüsten auf dem Subkontinent?

Vajpayee: Unsere Sicherheitsinteressen standen auf dem Spiel. Wir durften auf diesem Feld technologisch nicht weiter zurückfallen. Und im Übrigen hatte ja schon Indira Gandhi die Bombe 1974 zünden lassen ...

SPIEGEL: ... als einmalige Demonstration. Ihnen ging es offenbar bei den Tests im Mai 1998 um internationales Prestige.

Vajpayee: Im Vordergrund stand die Sicherheit, um das Selbstbewusstsein ging es erst in zweiter Linie.

SPIEGEL: Aber wer, bitte, sollte Indien bedrohen und sich dessen immense Probleme aufhalsen wollen?

Vajpayee: Wir mussten uns in den vergangenen 50 Jahren verschiedener Aggressionen erwehren. Wir wurden angegriffen, Teile unseres Territoriums wurden von einem Nachbarland okkupiert.

SPIEGEL: Pakistan zog mit Indien bei den Atomversuchen gleich. Haben beide Länder schon gelernt, mit dem Gleichgewicht

des Schreckens zu leben wie einst die beiden Supermächte?

Vajpayee: Wir haben bereits erklärt, dass es keine weiteren Atomtests geben wird. Und wir haben auch erklärt, dass wir nicht als erste Kernwaffen einsetzen. Schon gar nicht gegen Länder, die keine Atomwaffen haben. Würde Pakistan die gleiche Politik verfolgen, gäbe es keine Gefahr eines atomaren Kriegs auf dem Subkontinent.

SPIEGEL: Pakistans neuer Militärmachthaber, der General Pervez Musharraf, behauptet, Indien verweigere sich seinen Friedensangeboten.

Vajpayee: Das verdreht die Dinge gehörig. Schließlich war ich es, der Anfang 1999 auf der Suche nach Frieden in einem Bus nach Lahore fuhr mit einer Botschaft der Zusammenarbeit nach 50 Jahren Spannungen. Und was bekam ich dafür?

SPIEGEL: Einen Kleinkrieg in Kaschmir um die Stadt Kargil und die Waffenstillstandslinie im Himalaja.

Vajpayee: Kargil war eine klare Aggression. Sie endete für Pakistan mit einer verheerenden militärischen und diplomatischen Niederlage.

SPIEGEL: Der General sagt, es werde keinen Frieden in Südasien ohne die Lösung des Kaschmir-Problems geben.

Vajpayee: Dieses Problem konnte während der vergangenen 50 Jahre trotz dreier Kriege nicht gelöst werden. Wir sind bereit, mit Pakistan über alles zu sprechen, auch über Kaschmir. Aber wir werden niemals den territorialen Anspruch Pakistans auf Kaschmir akzeptieren, nur weil dies eine Muslim-Region ist. Indien hat mehr Muslime im Land als Pakistan. Sie sind bei uns gleichberechtigte Bürger, denn Indien ist keine Theokratie, wir sind kein religiöser Staat. Pakistan muss endlich zu einem neuen Denken finden, den grenzüberschreitenden Terrorismus stoppen und die Propaganda gegen Indien einstellen.

SPIEGEL: Droht dem abgesetzten pakistanischen Premier Nawaz Sharif das gleiche Schicksal wie einst Zulfikar Ali Bhutto, der am Galgen endete?

Vajpayee: Es muss weiterhin Druck auf Pakistan ausgeübt werden, sonst kann alles passieren.

SPIEGEL: Werden die moralischen Werte, für die einst der Vater der indischen Unabhängigkeit und des gewaltlosen Widerstands, Mahatma Gandhi, einstand, im Sturm der Globalisierung hinweggefegt?

Vajpayee: Der Umbruch der Globalisierung muss sein, und wir müssen damit fertig werden. Wir sagen, es sollte eine Liberalisierung mit menschlichem Antlitz geben. Die Menschenrechte dürfen dabei nicht über Bord gehen.

SPIEGEL: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* In der Stadt Hardwar (Bundesstaat Uttar Pradesh).* Olaf Ihlau, Stefan Aust, Padma Rao in der PrivatresidenzVajpayees in Neu-Delhi.

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