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Ein Netz von erheblicher Spannkraft

Rudolf Bahro über die Friedensbewegung in der DDR Der ehemalige SED-Funktionär Rudolf Bahro, 1978 wegen seines regimekritischen Buches »Die Alternative« zu acht Jahren Gefängnis verurteilt und 1979 ausgebürgert, ist heute bei den Grünen und in der westdeutschen Friedensbewegung engagiert.
aus DER SPIEGEL 50/1982

Der Stimmungsumschwung, den wir seit Mitte der 70er Jahre in der Bundesrepublik erleben, ist bedeutungsvoll genug. Aber erst, wenn wir das, was jetzt in der DDR zutage tritt, damit in Beziehung setzen, geht uns die historische Dimension der Veränderung auf, die Deutschland durchmacht. Die neueste Entwicklung drüben ist mehr noch ein deutsches und europäisches als ein Ostblockereignis.

Während hier manche angestrengt und dann enttäuscht nach dem DDR-Pendant zu Solidarnosc Ausschau hielten, schickte sich dort gerade eine völlig eigenständige Bewegung an, ins volle Tageslicht zu treten. Wohin sie treibt, können auch Westdeutsche inzwischen in zwei Publikationen nachlesen.

( »Friedensbewegung in der DDR, Texte ) ( 1978 bis 1982«, herausgegeben von ) ( Wolfgang Büscher, Peter Wensierski und ) ( Klaus Wolschner. Edition transit Band ) ( 2; 330 Seiten. Klaus Ehring/Martin ) ( Dallwitz: »Schwerter zu Pflugscharen, ) ( Friedensbewegung in der DDR«. rororo ) ( aktuell 5019; 280 Seiten. )

Die Texte spiegeln sie als eine gelebte Realität, welche bis in die 60er Jahre zurückwurzelt. Und es ist wirklich eine Bewegung, wenn man sich an der Substanz orientiert, an dem uneingebundenen Bewußtsein, aus dem sie wirkt, und sich den Blick nicht durch Kriterien der Organisiertheit und Abzählbarkeit verdunkeln läßt.

Die Initiative liegt bei anderen Kräften und akzentuiert die Fragen anders, als ich seinerzeit erwartet hatte. Das sind keine marxistischen »Dissidenten«, wie etwa Robert Havemann und ich es waren. Obwohl sie unsere Ideen aufgenommen haben, der Ansatz ist verschieden.

Im Gefängnis Bautzen II hatte ich ein neues evangelisches Hausbuch (ich glaube, es hieß »Aufschlüsse") gelesen. Aus dem sprach schon der Geist, den wohl der Bischof Hempel auf dem Dresdner Friedensforum im Februar dieses Jahres meinte, als er angesichts der verhältnismäßig geringen Aktionsmöglichkeiten sagte: »Wenn die Kirche beim Zentrum ist, bei der Meditation und beim Tun des Guten, dann wäre es das erste Mal, wenn sie nicht mit neuem Leben lebte.«

Und ich hatte den Eindruck, es ginge um mehr als »die Kirche«, und da wäre, obgleich nicht so analytisch, ein Zugang zu den Problemen der beiden konkurrierenden Industriegesellschaften, der noch eine Ebene tiefer, grundsätzlicher lag als der in meinem Buch »Die Alternative«. War ich zuletzt dazu gelangt, Probleme hervorzuheben, die Ost und West gemeinsam betreffen, so ging dieser andere Ansatz, ökumenisch inspiriert, von vornherein davon aus.

Gerade von dorther liefert das bereits im vorigen Jahr erschienene Büchlein »Beton ist Beton«,

( Peter Wensierski, Wolfgang Büscher: ) ( »Beton ist Beton, Zivilisationskritik ) ( aus der DDR«. Edition transit Band 1; ) ( 220 Seiten. )

das Zivilisationskritik aus dem Raum der evangelischen Kirche drüben präsentiert, den Schlüssel zu dem ganzen Stoff (SPIEGEL 47/ 1981). Es stellt die im Schutzraum der Kirche angesammelte Energie als einen besonders reinen Ausdruck jener neuen Kräfte dar, die nicht bloß den politischmilitärischen Ost-West-Gegensatz, sondern die Konfrontation der beiden Systeme überhaupt zu überwinden suchen.

Wenn es nach ihnen geht, soll der Osten den Westen nicht mehr »einholen und überholen«, wie es seit 1917 die entscheidende Devise war. Der Ökologie- und Friedensbewegung in der DDR ist das Land reich genug, wenn nicht - verglichen mit der Dritten Welt - zu reich. Und wo sie die eigenen Institutionen kritisiert, legt sie nicht den Maßstab der westlichen Demokratie an, sondern den Maßstab des menschlich Erforderlichen, vor dem sich jede politische Ordnung legitimieren muß.

Dieses Ökologie-Buch und eines der beiden anderen, direkt auf die Friedensbewegung bezogenen, kommen aus derselben »edition transit«, die dazu verleiten will, den »wenige Meter breiten und Hunderte von Kilometern langen Schlauch durch das ganze Land« - eben die Transitstrecken - zu verlassen und das konkrete Leben drüben wahrzunehmen.

Während sich diese beiden aufs Dokumentieren konzentrieren und dabei nur selten über den Bereich der Kirche hinausgehen, berichtet das dritte ("Schwerter zu Pflugscharen«, rororo aktuell) eher und stellt dar, wobei es zum Vorteil der Übersicht stärker über das christliche Milieu hinausweist und annähernd deutlich macht, daß die Kirche bloß das, wenn auch noch so wichtige, Organ eines allgemeinen Bedürfnisses ist.

Alles, was die drei Veröffentlichungen enthalten, erscheint mir absolut authentisch, und auch die Einleitungen, Berichte und Kommentare der westdeutschen Herausgeber und Autoren sind durchweg dicht an der Realität.

Allem Anschein nach handelt es sich zunächst um ein zahlenmäßig begrenztes Netz, das allerdings - und zwar einfach durch Kommunikation auf einer gemeinschaftlich akzeptierten geistigen Grundlage von erheblicher Spannkraft und Spannweite - zuverlässiger organisiert ist, als man sich das vorstellt.

Seine Bedeutung ist nicht faßbar mit Vergleichen wie dem zwischen den 300 000 bei der großen Friedensdemonstration S.59 im Oktober 1981 in Bonn und den 5000 beim kirchlichen Friedensforum im Februar 1982 in Dresden, nicht nur weil sie qualitativer Natur ist, sondern weil 5000 in der DDR auch quantitativ relativ ebensoviel repräsentieren können wie hier die 60fache Zahl.

Bisher zeigen sich öffentlich vor allem Leute, die politisch und christlich so engagiert sind, daß sie ihrer Autonomie jegliche DDR-normale Karriere opfern. Verschwänden die Sanktionsdrohungen, so würden wir drüben bald auch 100 000 (auf die 17 Millionen) sich versammeln sehen, wahrscheinlich nicht an einem Ort, sondern viel effektiver in fast allen Teilen des Landes.

Doch der Kern der Bewegung repräsentiert zugleich Tendenzen, für die es bis in den staatstreuen Teil der DDR-Jugend hinein Antennen gibt. Die Hohlheit der offiziellen Ideologie wird etwa vom 12./13. Lebensjahr an, wo das naive Adaptieren aufhört und das Reflektieren beginnt, mehr und mehr durchschaut.

Das Besondere der Beziehungen zwischen Kirche, Friedensbewegung und Staat in der DDR, das den politischen Prozeß dort anders als in den übrigen osteuropäischen Ländern prägt, ist in dem rororo-Buch sehr instruktiv dargestellt und analysiert. Es ist überaus wichtig, daß das Gleichgewicht in der »Arbeitsteilung« zwischen radikaler Bewegung an der Basis und schützender beziehungsweise vermittelnder Kirche erhalten bleibt, wobei sich diese Komponenten jedoch in ein und denselben Menschen verbinden.

Da gibt es ganz offensichtlich Kirchenleute, die nicht in erster Linie der Institution verpflichtet sind, sondern der Idee; und wir sollten nicht dem Irrtum verfallen, daß jene, die den Staat drüben unmittelbar angreifen möchten, damit automatisch auch die radikaleren sind.

Ohne den eben nicht rein negativen Anstoß, den die DDR darstellt, hätte sich das dortige Christentum nie zu der heutigen Gestalt gemausert. Der Staat hat einmal damit begonnen, Münzer gegen Luther zu stellen und zu feiern. Inzwischen wäre ihm ein konservatives Luthertum im Reservat der Kirche weitaus bequemer als der Münzersche Geist, der allerwegen umgeht.

Der DDR-Führung wächst da eine ideologische Konkurrenz heran, die, obwohl viel geringer an Ausbreitung, mit der polnischen Kirche verglichen werden könnte - wenn sie nicht ebenso avanciert S.62 in ihren Einstellungen wäre, wie die polnische (aus begreiflichen Gründen) altbacken ist.

Ausschlaggebend für das Ergebnis war die im Laufe der 60er Jahre - im Zeichen der Stabilisierung des Staates nach dem Mauerbau und unter seinem Druck - getroffene Entscheidung, sich auf die DDR einzulassen, Kirche »nicht neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus« zu sein. Erst auf dieser Grundlage konnte sie den Anspruch realisieren, dem Menschen »nicht nur in der privaten Sphäre, sondern auch in Gesellschaft und Politik« zu dienen.

Altbischof Schönherr kennzeichnete 1981 den neuralgischen Punkt, als er für bloßes Verweigern die »falsche Überzeugung« verantwortlich machte, »daß ein im Kern atheistisches und totalitäres Regime überall und immer nur Falsches hervorbringen könne«. Es gehört zu der urchristlichen Mentalität und Motivation, außer auf der geistigen Ebene keinen antagonistischen Zusammenstoß zu suchen.

Das Profil einer neuen Politik, das sich von dort her entwickelt, ist nur auf den ersten Blick von der Anpassung an die ostdeutschen Zustände bestimmt. Es ist kein deformiertes Residuum, das sich entschuldigen müßte: »Mehr und anderes ist halt nicht machbar.« Mit diesem Christentum ist die Friedensbewegung der DDR in ihrem Element.

Aufgrund ihrer religiösen Intensität, die sich mit politischer Klugheit paart, hat diese evangelische Konzeption eine potentielle Reichweite, die wir nur unterschätzen können. Es ist allein eine Frage der Zeit, wann die geistige Führungskraft, die von da ausstrahlt, Einfluß auf große Teile der Jugend und auf alle politisch Interessierten ausüben wird.

Wie die Friedensbewegung in der Bundesrepublik nicht wirklich verstanden werden kann, wenn man ihren »grünen« Resonanzboden außer Betracht läßt, so auch nicht die Friedensbewegung in der DDR. Denken wir an die Gesichter, die uns die Aufbrüche in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen gezeigt haben, so gibt es bei aller Verwandtschaft diesen offensichtlichen Unterschied: Nirgends sonst trug die Opposition die Züge der Ökologie- und Friedensbewegung. Erst neuerdings in Ungarn gibt es eine Parallele.

Inzwischen zeichnet sich allgemein die Einsicht ab, daß die Logik des Wettrüstens nur durchbrochen werden kann, wenn eine Kraft auftritt, die sich jenseits der Machtkonkurrenz der beiden Industriesysteme stellt und in der Industrialisierung nicht mehr den Königsweg zu Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sieht. Aber wenn es ein Land gibt, in dem die Auftrittsbedingungen für sie vorliegen, dann ist das nun offenbar Deutschland, Ost und West. Auf den ersten Blick überraschend, aber doch nur scheinbar paradox, verliert die Bipolarität der Nachkriegsweltordnung in unserem geteilten Land zuerst ihre ideologische Unentrinnbarkeit.

Dabei ist die Entwicklung drüben wider manchen Anschein und unbeschadet erheblicher Wechselwirkungen nicht von der Bundesrepublik aus induziert, jedenfalls nicht auf kurzem und direktem Wege. Sie ist keinesfalls erklärbar ohne eine genuine Disposition in der DDR. Letzten Endes läßt die Parallelität und nahezu Gleichzeitigkeit der Aufbrüche viel eher auf gemeinsame Ursprünge schließen, die mit dem besonderen Schicksal, der besonderen politischen und geographischen Situation, den spezifischen Traditionen und psychischen Prägungen sowie dem historischen Schuldkomplex der Deutschen zu tun haben. Die wirken natürlich auf beiden Seiten der Grenze, und insofern hängen die Prozesse hüben und drüben von Grund auf zusammen.

Diese nationale Identität, die sich jetzt erstmals wieder als geschichtsmächtiger Faktor bemerkbar macht (einer unter anderen, aber infolge der internationalen Lage der Deutschen ein gewichtiger), löst bei vielen erst einmal Verdrängungswünsche aus.

Unter der Oberfläche habe ich die Verhaltensunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen von Anfang an geringer als erwartet gefunden. Zum Beispiel ist mir aufgefallen, mindestens die Hälfte der Leute, die in Bayern via CSU, in Bremen via SPD Karriere gemacht haben, hätten sie in Leipzig via SED gemacht. Sehr treffend sprechen Wensierski und Büscher in ihrem Editorial zu »Beton ist Beton« von der erdrückend breiten Mitte beider Gesellschaften.

Aber wenn nicht alles täuscht, geht die politische Initiative langfristig auf Kräfte über - und zwar auf beiden Seiten -, die sonst immer nur sehr beiläufig zu Wort kamen, etwa 1517-1525, in unserer Klassik, auf 1813 und auf 1848 hin, in der Sozialdemokratie von Lassalle bis unter das Sozialistengesetz, dann kurz 1918.

Und die Form scheint beiderseits der Grenze - drüben noch mehr als hier - weitgehend durch die früheste »nationale« Tradition bestimmt: die protestantische. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer ist die Leitgestalt.

Auf einer anderen Ebene, die wahrscheinlich noch wichtiger als die der intellektuellen Zusammenarbeit ist - jedenfalls im Hinblick auf den Massencharakter -, stellt die Rockmusik eine intensive Verbindung her. Sie steht für die Synchronisierung des »feelings«. Ebenso wie im Falle der radikalen Theologie erleichtert die oppositionelle Haltung zu den Verhältnissen im Westen das Eindringen der Informationen. Es ist - so desperat die Elemente erscheinen mögen - von Rockmusik bis Theologie eine übergreifende Kultur.

Wilhelm Bittorf hat im SPIEGEL (33/ 1982) anläßlich der Blockade des Atomwaffenlagers Großengstingen einen Feldjägerunteroffizier über die Belagerer zitiert: »Das sind ja die gleichen Typen wie in der DDR.«

Genau das ist das Phänomen. Zum ersten Male seit der Spaltung und ungeachtet S.64 des anscheinend so unüberbrückbaren Systemgegensatzes haben wir diesseits und jenseits der Mauer Oppositionsbewegungen, die in ihren Antrieben und Zielen eins sind.

Auch wenden sie sich gegen die eine, gegen jeweils die »eigene« Machtstruktur durchaus nicht im Namen der anderen. Vielmehr betrachten sie die beiden Establishments als Kehrseiten letztendlich eines antagonistischen Systems, das im Ganzen überwunden werden muß.

Einer aus der DDR schreibt an einen aus der BRD: »Wir werden es zusammen schaffen.« Sie haben dieselbe Vorstellung über die Natur des Problems und seiner Lösung. Dieses Ereignis einer tendenziell gesamtdeutschen Friedensbewegung bedeutet nicht weniger, als daß die von dem »Ökopax«-Komplex faszinierte zweite Nachkriegsgeneration in beiden deutschen Staaten auch die Perspektive der nationalen Wiedergeburt mit sich führt.

Für alle, die nicht über das Weltbild der Nachkriegszeit hinausgekommen sind, muß die in diesen Büchern vermittelte Erfahrung weithin irritierend wirken. Der Einschnitt geht noch tiefer als seinerzeit beim Abschied von Adenauers Deutschlandpolitik: Was sollen sie mit einer Gegenbewegung im anderen deutschen Staat anfangen, die sich weder nach dem Westen sehnt noch auf reformkommunistischen Machtkampf im System aus ist, sondern sich statt dessen als zwillingsverwandt mit den hiesigen Pazifisten und Grünen erweist?

Vor knapp drei Jahren, als wir beide herüberkamen, haben die Konservativen an der Aufnahme für Nico Hübner gezeigt, wie sie sich Widerstand in der DDR vorstellen und was sie davon erwarten. Er hatte dort den Wehrdienst verweigert, konform mit der westlichen Berlin-Politik, und war dann hier sofort bereit, »die Freiheit zu verteidigen«.

Natürlich gibt es diesen pro-westlich motivierten Widerstand drüben nach wie vor, so wie es hier nach wie vor prosowjetische »Friedenskämpfer« gibt. Aber diese Haltungen werden beiderseits zusehends anachronistisch. Damit geht nichts weiter. Ohne die Emanzipation von dem schwarz-weißen Grundmuster ("Wir sind gut, Ihr seid böse"), das ihr die konservativen Kräfte Westdeutschlands unausgesetzt als Verhaltensregulativ gegenüber dem ostdeutschen Staat aufzudrängen strebten, wäre die DDR-Kirche nie zu ihrer heutigen einflußreichen Position gelangt. Die Distanzierung vom ordinären Antikommunismus hat ihr die Möglichkeit gegeben, auch den Absolutheitsanspruch der Staatsideologie zurückzuweisen.

Die DDR-Kirche fragt den dortigen Wehrdienstverweigerer »zur Klärung und Prüfung seines Gewissensanliegens« schon seit 1965, »ob er wohl als Bürger des anderen deutschen Staates zum Wehrdienst bereit wäre« - und erwartet heute weniger denn je ein Ja. Inzwischen geht von der evangelischen Haltung zu dieser Frage eine politische Initiative aus, während die Bewunderer des freien Westens drüben ebensowenig bewegen wie die Verehrer der östlichen sozialistischen Errungenschaften hier.

Jeder mit sich selbst aufrichtige Leser aus dem CDU/CSU-Spektrum wird gerade S.65 deshalb, weil da unmittelbar nicht an ihn gedacht ist, serienweise Sätze in den Texten finden, die nach geringfügigen Retuschen genausogut an ihn gerichtet sein könnten wie an die Staatstragenden dort. Und er wird andere Sätze finden, die bei bloßem Austausch der Feindbilder von ihm stammen könnten statt aus der Propagandaküche der SED.

Die Selbstgerechten beider Seiten arbeiten wie eh und je zusammen, indem sie ihre jeweiligen innenpolitischen Reservate verteidigen. Doch konnten sie noch nie so direkt wie jetzt mit der Nase darauf gestoßen werden, wie sich die Bilder gleichen.

Aber auch auf dem anderen Flügel finden manche nur schwer eine angemessene Einstellung zu der Entwicklung in der DDR. Während des Prager Frühlings und danach gab es eine Menge vernünftiger Leute im Westen, die sich in Selbstkritik ergingen: Man habe zu interessiert, zu laut, zu offen über die Vorgänge beim östlichen Nachbarn gesprochen, habe sich eingemischt. Gewiß, es gab solche Einmischung, und die Geheimdienste schlafen nicht - aber da war mehr gemeint, war im Grunde Abstinenz gefordert, sehr übereinstimmend mit den Interessen der Funktionäre auf der anderen Seite.

Noch voriges Jahr hörte ich nach einer Bremer Diskussionsveranstaltung, auf der ich gesagt hatte, die Polen seien mit dem Herzen aus dem Warschauer Pakt ausgetreten, so etwas dürfe nicht laut gesagt werden. Es war jemand von den Jungdemokraten, der mir da ins Gewissen redete. Diese Zurückhaltung soll nun vollends gelten für die DDR: Man soll das Kind nicht beim Namen nennen, sonst geht es ein, vielmehr sonst »wird es eingemacht«.

So tun, als wüßten wir nicht? Der Machtapparat pflegt nicht über den Zeitungsausschnittdienst darauf zu kommen, in die Tschechoslowakei einzurücken oder Polen polnisch besetzen zu lassen. Die DDR hat wegen ihrer exponierten Lage für ihr ideologisches Vorfeld den wachsamsten Staatssicherheitsdienst der Welt. Niemand sollte im Ernst glauben, wir könnten der Führung drüben nachträglich ein bißchen Sand in die Augen streuen, obwohl sie die Gefahr erkannt hat; oder daß sie die Gefahr inzwischen wieder vergessen hätte, weil es Anzeichen gibt, daß sie es nach genauerer Kalkulation doch besser findet, den Pazifismus über die antifaschistische Ahnenreihe Thälmann - Ossietzky - Bonhoeffer lieber anzukoppeln.

Wahrscheinlich geht es im Kern um folgendes: Sowohl den Konservativen als auch den Linken fällt bei Opposition in der DDR zuerst der Nutzen ein, den der Westen daraus ziehen könnte. Erst ob man dafür oder dagegen ist, dem Westen zu nützen, macht den Unterschied. Über diese Alternative als solche ist man sich einig. Dann bleibt zu entscheiden, ob die westliche Friedensbewegung etwa bei S.67 der Destabilisierung des Ostblocks mittut oder mittun soll.

Die Frage ist falsch, nämlich auf dem Boden der Blocklogik gestellt. Man setzt als selbstverständlich voraus, daß die Destabilisierung des Ostblocks letzten Endes bloß die Nato stärken kann. Das heißt, man rechnet überhaupt nicht mit der Möglichkeit, daß Nato und Warschauer Pakt für ihre Stabilität aufeinander angewiesen sein könnten, daß also der Zerfall eines Blockes den Zerfall des anderen nach sich ziehen, jedenfalls fördern würde.

Wohin wird die geistige Auseinandersetzung führen, die jetzt in der DDR zwischen dem christlichen ökologistischen Pazifismus und dem Staat begonnen hat? Jedenfalls ist es eines, wie die DDR-Regierung getan hat, den zivilen Wehrersatzdienst abzulehnen, ein ganz anderes, das Netz zu zerstören, das sich über das Land ausbreitet. Natürlich kennt die Staatssicherheit alle seine Maschen und könnte sie restlos kappen.

Aber das wird nicht geschehen. In dem Maße, wie dieses Netz nicht nur auf politische Ziele hin, sondern aus Lebens-, Gesinnungs-, Glaubensentscheidungen heraus gewebt ist, wird es sich als unzerstörbar, weitgehend auch unangreifbar erweisen. Seine Stunde wird kommen, ohne daß man im Augenblick vorhersagen könnte, in welcher Weise, jedoch viel eher auf Taubenfüßen denn unter Fanfarenstößen.

An den Westdeutschen ist es, um begünstigende Umstände besorgt zu sein. Falls die westdeutsche Friedensbewegung im Hinblick auf ihre unmittelbar materiellen Verhinderungsziele steckenbleibt, wird die Rücksichtnahme gegenüber der Bewegung drüben natürlich nachlassen. Dennoch ist das nur der Vordergrund. Unterschwellig muß man in der DDR an einer langfristigen Perspektive der westlichen Ökologie- und Friedensbewegung interessiert sein. Denn die politische Gesamtsituation hat sich sehr verschlechtert.

Seit Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968 und Polen 1980/82 hat die DDR Zug um Zug das sichere Hinterland verloren, das sie mit der Sowjetunion verbindet. Wirtschaftlich wird man glücklich sein müssen, nicht zwischen steigenden Rohstoffpreisen und sinkenden Absatzchancen, also sinkenden Möglichkeiten für Technologieimport aus dem Westen, zerrieben zu werden. Reserven sind nicht mehr vorhanden, und von der Sowjetunion sind keinerlei Impulse mehr zu erwarten.

In dieser Lage könnte eine Initiative aus dem Westen, die von den neuen politischen Kräften ausgeht und die Struktur des kalten Krieges durchbricht, bis hin nach Moskau etwas bewirken.

Eine innerdeutsche Dynamik kann geradezu der Hebel sein, um den Konsens in beiden deutschen Staaten so zu ändern, daß die Feindbilder zusammenbrechen und Abrüstung möglich wird. Gerade in der DDR wird ja die auffällige Militarisierung nicht betrieben, um der Bevölkerung neueste Waffensysteme plausibel zu machen (darüber wird im Ostblock nicht diskutiert, die werden vorgeführt, wenn sie fertig sind), sondern weil man mehr denn je auf das Feindbild angewiesen ist, um den Staat zusammenzuhalten.

S.58"Friedensbewegung in der DDR, Texte 1978 bis 1982«, herausgegebenvon Wolfgang Büscher, Peter Wensierski und Klaus Wolschner. Editiontransit Band 2; 330 Seiten. Klaus Ehring/Martin Dallwitz: »Schwerterzu Pflugscharen, Friedensbewegung in der DDR«. rororo aktuell 5019;280 Seiten.*Peter Wensierski, Wolfgang Büscher: »Beton ist Beton,Zivilisationskritik aus der DDR«. Edition transit Band 1; 220Seiten.*S.621978 beim Treffen zwischen DDR-Kirchenführung und Parteispitze.*S.64Gruppe KEKS im Juni 1982 im Volkspark Berlin-Treptow.*S.67Im Mai 1982 bei der alliierten Truppenparade in West-Berlin. DasEmblem »Schwerter zu Pflugscharen« ist das Symbol der kirchlichenFriedensbewegung in der DDR.*

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